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15. Sitzung Mo. 05.03.1990
Themen
Gleichstellung von Frauen und Männern, Sozialcharta
Bildung, Erziehung und Jugend
Justiz
Anträge zur Währungsunion und der Weiterarbeit des Runden Tisches
Bericht der AG "Ökologischer Umbau"
Bericht der Arbeitsgruppe "Sicherheit"
Erklärung der Vorsitzenden der Wahlkommission zur Vorbereitung der Volkskammerwahl
Nachfolgend Bericht aus der Berliner Zeitung, der Jungen Welt und die tageszeitung
Die Parteien und Vereinigungen des Runden Tisches sprachen sich gestern mehrheitlich dafür aus, noch vor den Wahlen wichtige soziale Absicherungen zu schaffen. So lobenswert diese Bemühungen sind, fraglich bleibt, was nach dem 18. März von Bestand sein wird. Denn das hängt nicht nur von der künftigen Regierung; ab, sondern maßgeblich auch von der dann einziehenden Marktwirtschaft und dem Zusammengehen mit der BRD.
Die Empfehlungen des Runden Tisches an die Regierung zielen auf jeden Fall nicht nur auf die Sicherung des bisherigen sozialen Niveaus hierzulande, sondern gehen, wie Minister Poppe betonte, weit über das Grundgesetz der BRD hinaus.
Sozialcharta. Die Regierung wurde aufgefordert, die des Runden Tisches für eine Sozialcharta in die Verhandlungen über eine Wirtschafts- und Währungsunion als Standpunkt der DDR einzubringen. Eckpunkte dieses verabschiedeten Papiers sind: die Beibehaltung der öffentlich finanzierten Kinderbetreuung, einschließlich Schulspeisung, eine staatliche Mietpreisaufsicht, die Festschreibung des Rechts auf Arbeit, Wohnung, unentgeltliche Bildung und Gesundheitsbetreuung, die Absicherung sozial Benachteiligter, das Streikrecht und Aussperrungsverbot sowie die Gleichstellung von Mann und Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Gleichstellung der Geschlechter. Dabei gehe es, so die meisten Teilnehmer der Beratung, nicht nur um die tatsächliche Gleichberechtigung der Frauen, sondern um ein soziales Grundrecht beider Geschlechter bei der Kindererziehung, der Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen und des freien Zugangs zu allen Berufsgruppen. Wie realistisch die Empfehlung ist, eine flexible Arbeitszeitgestaltung nach Interessen und Bedürfnissen der Werktätigen festschreiben zu wollen, bleibt aus der marktwirtschaftlichen Sicht künftiger Unternehmer sehr fragwürdig.
Nach längerer Diskussion sprachen sich die Teilnehmer des Runden Tisches für alternative Möglichkeiten der Geburtenregelung aus, die eine souveräne Entscheidung des einzelnen garantieren.
Der Regierung wurde außerdem vorgeschlagen, ein Ministerium für Gleichstellungsfragen sowie ein Ministerium für Familie und Soziales zu schaffen.
Bildung, Erziehung, Jugend. Von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Turbulenzen sind Heranwachsende besonders stark betroffen. Rechtsunsicherheit begünstigt zudem die Demontage des Vorhandenen. Erschreckende Zahlen waren gestern zu hören: laut einer Meinungsumfrage sprechen sich rund ein Fünftel der Schüler und Lehrlinge für ein Deutschland in den Grenzen von 1937 aus, etwa die gleiche Zahl ist gegen Ausländer in der DDR. In den vergangenen Monaten sind 186 Jugendclubs, darunter 81 von Betrieben getragene, geschlossen worden.
Auch deshalb Einigkeit zwischen Rundem Tisch und dem anwesenden Minister für Bildung, Prof. Emons, dass die Rechte der Kinder und Jugendlichen gesichert werden müssen sowie eine Bildungsreform dringend not tut. Prof. Emons versprach für nächste Woche einen Regierungsvorschlag dazu. Der Runde Tisch legte schon gestern ein Positionspapier vor, dass die unveräußerlichen Grundrechte im Rahmen einer künftigen Bildungspolitik beschreibt, unter anderem: Chancengleichheit, Achtung der Würde eines jeden, unabhängig von Nationalität und Glaube, Bildung nicht nur als Wissenvermittlung, sondern als Schule für das Leben, Erhalt des staatlich getragenen Bildungssystems, demokratische Mitbestimmung für Lernende und Lehrende.
Feiertage: Oberkirchenrat Ziegler informierte den Runden Tisch darüber, dass Verhandlungen zwischen der Kirche und der Regierung über die Wiedereinführung religiöser Feiertage aufgenommen wurden.
Einen dringenden Appell richtete die Vorsitzende der Wahlkommission der DDR, Petra Bläss, an die Parteien, politischen Organisationen sowie Bürger des Landes, sich bei der Vorbereitung der Volkskammerwahlen zu engagieren.
Noch immer fehlen Mitarbeiter in den Wahlvorständen, allein in Berlin mehr als 5 000 von insgesamt 7 500 benötigten. Der Demokratische Aufbruch plädierte für einen fairen Wahlkampf und Solidarität der demokratischen Kräfte gegen Störaktionen und Verleumdungen.
Berliner Zeitung, Di. 06.03.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 55
Vier-Stunden-Debatte am Runden Tisch zu Jugendpolitik
Diagnose: überfordert
Wer hat den langen Atem ?
Es gibt da so ein Buch von damals: 473 Seiten dick mit einem erstaunlichen Sachregister: Nikotin, Wahlbeteiligung, Zeltlager, weibliche Absolventen, Nachtarbeit, Bibliothek, Jugendklub, Rechtsbewusstsein, Anteilurlaub, Sport, Moral ... all das kam in in einen Topf und hieß dann: staatliche Dokumente zur sozialistischen Jugendpolitik anno 1970. Archivreif, weil durch die parteirote, ideologiebelastete Brille gesehen. Und doch akzeptierbar, als nötiger Fingerzeig auf ein Grundproblem: Was heißt Jugendpolitik haute?
Den Versuch einer Neubestimmung wagte der montägige Runde Tisch und sah sich nach der Vier-Stunden-Debatte völlig überfordert. Viele Politiker scheiterten am einfachsten: nämlich an den Hausaufgaben, die jeder vorab hätte erledigen müssen. Was sind Nöte und Ängste der Jugend, wie ist die Lage, was muss verändert, beibehalten werden?
Eigene schöpferische Müdigkeit zudem überspielend, kamen von Demokratie Jetzt, SPD, Grüne Partei und Neues Forum vorwiegend erzürnte Äußerungen, warum ein Mann wie Poßner mit dieser Vergangenheit (Pioniervorsitzender) überhaupt den Lagebericht des Amtes für Jugend und Sport erläutern kann.
Die nagte Faktendiskussion wurde wieder mal mit Kleinkrieg der Parteien und Bewegungen vom Tisch gefegt, brauchbare Hinweise und Sofortmaßnahmen zudem fast überhört. Wie der DFD-Vorschlag, die Regierung doch noch vor der Neuwahl aufzufordern, endlich die UNO-Konvention über Rechte der Kinder zu ratifizieren, Verstöße gegen das Jugendgesetz sofort einzuklagen.
Die Runde verzettelte sich ganz offensichtlich und übersah zudem, dass die eigentlichen Fachleute in der zweiten Reihe saßen. Jene Reformer, die seit November als Volksbewegung gegen Bildungs- und Jugendnotstand antreten, Konzepte ausarbeiten. Sie beweisen, dass eines nur funktionieren kann: Reformen in Jugendpolitik parteiübergreifend anzugehen. Der Scheinkompetenz von Politikern nämlich folgt die Strafe auf dem Fuß. Oder haben wir das gerade bei diesem Thema schon vergessen?
Wird die Jugend wieder geknetet, durch Parteien- und Machtmühlen gezogen - manipuliert? Wer macht sich zum Anwalt der Jugend, schafft die nötigen Rahmenbedingungen (neue Gesetze), die nicht wieder zum Stillhalten, Mitlaufen verpflichten? Wer gibt die gesellschaftlichen Freiräume für eigene Identitätsfindung?
Dem Runden Tisch fehlte aus Zeitmangel und Erschöpfung der lange Atem, um dies anzuschieben. Hoffentlich lässt sich die neue Regierung davon nicht anstecken. Und die Jugend selbst? Ihr Atem müsste zumindest weiter reichen als Redeübungen am wöchentlichen Jugendtisch. Ein handlungsfähiges Bündnis - ohne Angst vor neuerlicher Einheitsjugend - tut not. Sonst werden möglicherweise wieder über 473 neue Text- und Dokumenteseiten zum Schicksalsschlag für die Jugend.
Heidrun Meinhardt
Junge Welt, Mi. 07.03.1990
Niederschönhausen (taz) "Wir sollten uns dieses Papier als Dokument gut aufheben, als Dokument eines sozialen Denkens, das hier gewachsen ist und das eingehen sollte - wohin auch immer", sagte der Vertreter der Vereinigten Linken, Michael Mäde am Montag am Runden Tisch. Bevor die Minister ohne Geschäftsbereich Gerd Poppe und Tatjana Böhm das Flugzeug nach Moskau bestiegen, um mit dem Rest der Modrow-Crew über die Modalitäten des deutschen Einigungsprozesses zu verhandeln, legten sie dem Runden Tisch eine 9-Punkte umfassende Sozial-Charta vor. Sie soll der Regierung als Verhandlungsgrundlage übergehen werden, um soziale Sicherungen der DDR, ergänzt um Höchstforderungen internationaler Gremien, die in ihrer Konsequenz weit über das Grundgesetz hinausgehen, auch im künftigen Einheitsstaat zu erhalten. Nicht nur die Vertreter der Vereinigten Linken waren sich der Tatsache bewusst, dass hier eher Wunschvorstellungen gebündelt wurden als eine reale Verhandlungsbasis.
Die vorgestellte Sozialcharta umfasst das Recht auf Arbeit für alle (dieser Punkt wurde durch den Ergänzungsantrag der SPD gemildert, der keine staatliche Garantie für dieses Recht vorsieht), die Demokratisierung und Humanisierung des Arbeitslebens, die Gleichstellung der Geschlechter und der Kinder einschließlich des Selbstbestimmungsrechtes der Frau und der Möglichkeit kostenlosen Schwangerschaftsabbruchs, das Recht auf kostenlose Bildung, auf Studienplatz mit Stipendium, die Fürsorge der Gesellschaft für ältere Bürger, die soziale Integration und Betreuung von Behinderten, das Recht auf Wohnen („der Kündigungsschutz und das Eigentum der DDR-Bürger an Wohnraum, sind zu bewahren") und das Recht auf ein soziales, einheitliches und staatliches Versicherungssystem.
In der anschließenden Diskussion am Runden Tisch am Montag Vormittag bemühten sich alle politischen Gruppierungen im Schatten des Wahlkampfes diesen populistischen Konsens nicht zu torpedieren. Allein der Vertreter der LDP ließ in seinen zustimmenden Ausführungen anklingen, dass dieses Papier für ihn eine noch existierenden "besonderen DDR-Befindlichkeit" geschuldet ist, die hoffentlich in fünf Jahren nicht mehr existiert.
Die CDU versuchte eine eigene Position zum Thema Schwangerschaftsabbruch einzubringen, ohne es jedoch unbedingt auf einen Eklat ankommen zu Lassen.
Zu Beginn der Beratung betonte Tatjana Böhm noch einmal, dass für den Runden Tisch ein Anschluss nach Art. 23 des Grundgesetzes nicht zur Diskussion steht. Vielmehr glaubt sie, sollten die beiden deutschen Staaten in einen "wechselseitigen Reformprozess" zusammenwachsen, um damit als Modell für eine künftige Einigung Europas dienen zu können.
Bei den Vertretern der westlichen Medien, für die diese Sitzung des Runden Tisches anscheinend Kuriositätencharakter trug, löste diese Vorstellung unverhohlene Heiterkeit aus. Der smarte N3-Talkmaster wendete sich nach der Böhm-Äußerung lieber dem Gespräch mit einem Bild-Lesenden Kollegen zu.
Bei der abschließenden Abstimmung votierte die Mehrheit für die Vorlage, allein die Vertreter des Demokratischen Aufbruch und die Vereinigte Linke enthielten sich der Stimme - die linken weniger wegen der weitgehenden sozialen Forderungen, sondern wegen der in der Präambel der Sozialcharta festgeschriebenen deutschen Einheit.
Anja Baum / Andre Meier
die tageszeitung, DDR-Ausgabe, Di. 06.03.1990
Angelika Barbe von der SPD sagte: "'Am Recht auf Arbeit als politischem, in der Verfassung garantiertem Recht wird festgehalten'. Das bedeutet keine staatliche Garantie des Arbeitsplatzes. Das wäre die eine Anmerkung."
Link zu den Thesen des Runden Tisch der Jugend
Konrad Weiß von Demokratie Jetzt sagt, er empfinde das Auftreten von Wilfried Poßner als ein Affront gegen den Runden Tisch. Von der Vertreterin der Grünen Partei wird die Frage an Herrn Poßner gestellt, wie er es moralisch vertreten könne, erneut eine Machtposition zu besetzen.
Nach der ausführlichen Kritik von Konrad Weiß am Runden Tisch an ihm als Vorsitzender der Pionierorganisation "Ernst Thälmann" schrieb Wilfried Poßner einen Brief an ihn, ohne eine Antwort zu erhalten.
Wilfried Poßner war zunächst in der Regierung Modrow als Miniaster für Bildung vorgesehen. Die CDU erhob dagegen Einspruch und machte von dessen Akzeptanz eine Mitarbeit ihres Vorsitzenden Lothar de Maizière in der Regierung abhängig. Wilfried Poßner wird Staatssekretär und Leiter des Amtes für Jugend und Sport.
Die Sozialcharta wurde auf Vorschlag des Unabhängigen Frauenverbandes zusammen mit der Initiative Frieden und Menschenrechte, den Gewerkschaften, den Ministerien Arbeit und Löhne und für Gesundheitswesen, Experten der Sektion Rechtswissenschaften der Humboldt Universität Berlin und des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften, den AGs "Sozialpolitik" der SPD, "Sozialpolitik" und "Gleichstellungsfragen" des Runden Tisches, sowie Experten aus der Bundesrepublik erstellt, berichtet Tatjana Böhm zu Beginn der Sitzung.
Der Antrag von FDGB, GP, IFM und UFV die Sozialcharta als Standpunkt der DDR bei Verhandlungen der Kommission über die Bildung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion einzubeziehen, wurde mit vier Gegenstimmen angenommen.
Der Antrag der AG "Gleichstellungsfragen" zur Einrichtung einer Kommission zur Sicherung der Kinderbetreuungseinrichtungen wurde einstimmig angenommen.
Die Grüne Partei, die Initiative Frieden und Menschenrechte und die Vereinigte Linke stellen einen Antrag, den Zentralen Runden Tisch bis zur Konstituierung der neuen Regierung fortzusetzen.
Der Antrag erhielt keine Mehrheit.