ND-Gespräch zur Gründung eines "Verbandes der Ärzte und Zahnärzte":

Der Virchow-Bund - was sind seine Ziele?

Ein Gespräch zwischen Vertretern der Initiativgruppe zur Gründung eines "Verbandes der Ärzte und Zahnärzte (Virchow- Bund)" und dem Minister für Gesundheits- und Sozialwesen, Prof. Dr. Klaus Thielmann, sowie Dr. Ellis Huber, Präsident der Ärztekammer Berlin (West), fand am Freitagabend in der Berliner Charité statt. Zur Diskussion standen u.a. Fragen, die der Stellung des Gesundheits- und Sozialwesens in der DDR, der Gewährleistung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung und den Zielen des künftigen Verbandes galten. Gegenwärtig, so wurde mitgeteilt, laufen bereits die organisatorischen Vorbereitungen zur Konstituierung von Regional- und Landesverbänden. ND hatte vorher Gelegenheit, mit drei Mitgliedern der Initiativgruppe, Prof. Dr. Harald Mau, Oberarzt Dr. Rainer Bollmann und Dr. Ulf-Torsten Zierau aus der Charité, zu sprechen.

ND: Herr Professor, welche Gründe führten dazu, einen solchen Verband ins Leben zu rufen?

Prof. Mau: Wir glauben, dass den in der medizinischen Betreuung tätigen Ärzten ein weit größeres Mitspracherecht als bisher bei allen Entscheidungen im Gesundheitswesen garantiert werden muss. Die prekäre Lage des Gesundheitswesens hat viele Ursachen: fehlerhafte Leitungsstrukturen, falsche Lohn- und Gehaltspolitik, vor allen Dingen aber die insgesamt zu geringen Aufwendungen für diesen Bereich der Gesellschaft. Exakte Analysen der Situation wurden beschönigt oder ignoriert, Qualitätseinbußen und Versorgungslücken wurden versteckt. Die schlechten Arbeitsbedingungen führten vielerorts zu Resignation und Motivationsverlust bei den Ärzten. An vielen Stellen arbeiten die Ärzte unter Bedingungen wie vor 30 Jahren.

ND: Auch an der Charité?

Prof. Mau: Die Charité ist nicht repräsentativ für das Gesundheitswesen. Sie ist ein mit enormem Kraftaufwand errichtetes Spitzenprodukt unseres Landes. Wenn wir im ganzen Land diese Bedingungen hätten: wäre sehr viel erreicht. Der Ärzteverband soll aber für alle Ärzte sprechen. Er soll dem Vertrauensverlust der Bürger in das Gesundheitswesen entgegenwirken. Viele Ärzte konnten und können sich nicht damit abfinden, im Jahre 1989 in einem hochindustrialisierten Land ihre Arbeit mit den Mitteln des Jahres 1959 zu verrichten. Im Bewusstsein, nur zweit- und drittklassige Leistungen vollbringen zu können, verflachte auch bei vielen der Begriff der ärztlichen Ethik.

OA Bollmann: Die Resignation, die Perspektivlosigkeit sind ganz sicher Gründe dafür, dass in den letzten Monaten über 1 600 Ärzte und Zahnärzte die Republik verlassen haben.

Prof. Mau: Eine andere Ursache für den kritischen Zustand unseres Gesundheitswesens sehe ich in den undemokratischen Strukturen, die Chancengleichheit bei Krankheit und Gesundheit gleichsam ausschließen. Eine Vielzahl von autonomen Einrichtungen bewirken eine Zersplitterung der Kräfte. Ein übermäßig aufgeblähter administrativer Apparat frisst ärztliche Arbeitskräfte und hindert Ärzte an der Arbeit für den Patienten. Hier müssen Änderungen eingeleitet werden, die wir unterstützen wollen und die der gesamten Bevölkerung zu gute kommen müssen.

Dr. Zierau: Der Verband soll mit herausführen aus der Improvisation, soll hinführen zu gediegenen Leistungen und damit wieder zur Anerkennung des ärztlichen Berufes. Das sind ganz spezifische Interessen einer Berufsgruppe, die einer gesonderten Vertretung bedarf.

ND: Sind das nicht zum teil Aufgaben der Gewerkschaft?

Prof. Mau: Die Wahrnehmung tarifrechtlicher, beruflicher, arbeitsrechtlicher Regelungen wäre Aufgabe der Gewerkschaft. Der zu gründende Ärzteverband ist ganz eindeutig kein Kampfverband für die ökonomischen Forderungen der Ärzte. Er soll vielmehr die Arbeitsbedingungen für Ärzte so gestalten helfen, dass uns eine Tätigkeit zum größtmöglichen Nutzen unserer Patienten erlaubt wird.

ND: Wir kennen viele Berufe, die besondere Spezifika haben. Müssten sie neben ihrer Interessenvertretung in der Gewerkschaft dann nicht ebenfalls einen berufsspezifischen Verband haben?

Prof. Mau: Ich kann nur für Ärzte und Zahnärzte sprechen. In einer Gewerkschaft Gesundheitswesen sind Angehörige verschiedenster Berufsgruppen. Im Gesundheitswesen arbeiten Schwestern, Pfleger, medizinisch-technische Assistenten, Chemiker, Heizer, Physiker, Köche, Elektriker, Absolventen von Fach- und Hochschulen unterschiedlichster fachlicher Herkunft. Unterschiedliche Interessen müssen von unterschiedlichen Vertretern wahrgenommen werden. Das schließt nicht aus, dass Ärzte auch Mitglied der Gewerkschaft sein können.

ND: Sehen Sie einen Widerspruch zwischen ärztlichem Ethos und dem Streikrecht?

Prof. Mau: Ich habe in einem interview gegenüber der "Tribüne" gesagt, dass ich gegen eine uneinsichtige Administration, die sich weigert, sich für die Interessen der Patienten zu aktivieren, lieber streiken als resigniert das Land verlassen würde. An dieses persönliche Bekenntnis, zu dem ich auch heute stehe, hat der Zentralvorstand der Gewerkschaft Gesundheitswesen eine polemische Diskussion gehängt, die an der Sache vorbeigeht und für meine Begriffe die Angst um den Alleinvertretungsanspruch des FDGB dokumentiert. Der Ärzteverband wird um die Rechte der Patienten und der Ärzte streiten. Mit welchen Mitteln, darüber werden die Mitglieder entscheiden.

ND: Wie war die Reaktion auf Ihren Gründungsaufruf?

Dr. Zierau: Wir haben bisher mehr als 6 000 Zuschriften zur Gründung eines solchen Verbandes erhalten. Gegenwärtig ist eine Arbeitsgruppe von Ärzten damit befasst, ein Statut für den Verband zu entwerfen.

Für ND fragte Dieter Hannes

aus: Neues Deutschland, Jahrgang 44, Ausgabe 296, 16.12.1989, Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

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