Wider die "guten Sitten"

Schwulenverband der DDR wehrt sich gegen die Übernahme des § 175

In den letzten Jahren der DDR haben Schwule und Lesben ihre Ansprüche auf Gleichberechtigung und nach langer Zeit resignationsträchtigen Totschweigens endlich auch Gehör gefunden. In unseren Eingaben und Protestbriefen hieß es immer wieder: "Homosexuelle Bürger wollen wie alle anderen die Möglichkeit haben, am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft teilzunehmen."

Anpassung? Ja. Die Rechnung war einfach. Wenn Homosexuelle staatlich diskriminiert werden, entsteht ein systemkritisches Protestpotential. Das können die da oben nicht wollen. Und irgendwann Mitte der achtziger Jahre hatten sie es begriffen. Ein Professor, dem das Thema aus der Begutachtungspraxis am Obersten Gericht nahe war, schrieb zur Begründung: "Es ist nicht nur ein Gebot des sozialistischen Humanismus, sondern eines der Erfordernisse der sozialistischen Revolution auf sozial-kulturellem Gebiet, das unser Staat und seine Bürger unsere Gesellschaft so differenziert akzeptieren, wie sie das Leben hervorbrachte."

Die sozialistische DDR - erster Staat der Schwulen und Lesben ... Nur Anpassung? Nein. Viele von uns sind auch heute noch der Meinung, dass links und linksrum mehr als nur wortspielerischen Gleichklang gemeinsam haben. Wer sich als Homosexuelle(r) emanzipieren will, der/die kommt nicht umhin, die traditionellen Formen von Zusammenleben, Wohnen, Arbeiten und Konsumieren kritisch zu sehen, der/die kommt um Berührungen mit anderen demokratischen Bewegungen nicht herum.

Die Ansprüche der DDR, auf dem Weg zu sein zu einer Gesellschaft, in der "die freie Entfaltung des einzelnen die Bedingung für die freie Entfaltung aller" ist, haben uns geprägt. Diese Ansprüche stellen wir an alle gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich uns als vorteilhaft oder unausweichlich darstellen. In den Anpreisungen des Staatsvertrages heißt es u. a., "die Rechte und Pflichten der am Rechtsverkehr Beteiligten finden ihre Schranken in den guten Sitten..." Eine solche "gute Sitte" ist nach bundesdeutschem empfinden im § 175 festgestellt, der sexuelle Kontakte zwischen Männern einschränkt. Der entsprechende Paragraph im Strafrecht der DDR wurde nach langen Auseinandersetzungen 1989 gestrichen. Eine Wiedereinführung diskriminierender Strafbestimmungen wollen wir uns nicht gefallen lassen. - Nicht beim § 175 und nicht beim § 218. Wir solidarisieren uns mit allen, die sich kein gesundes Volksempfinden diktieren lassen wollen und rufen zu gemeinsamen Aktionen auf.

Schwulenverband/Berlin
Sprecherrat
PSF 271. Berlin 1080
Tel.: über Christian P(...)

Berliner Zeitung, Mi. 20.06.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 14

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