Erneuerung muss auch in jedem selbst stattfinden

Beschluss des Parteivorstandes der SED-PDS

Der Parteivorstand der SED-PDS stand in seiner Beratung am 20. Januar 1990 wegen der dramatisch zugespitzten Situation im Land vor einer historischen Frage: Schadet oder nutzt die weitere Existenz dieser Partei der demokratischen Erneuerung in diesem Lande den Interessen unseres Volkes und der Stabilität in Europa? Dabei konnte sich der Vorstand der Tatsache nicht verschließen, dass ein nicht geringer Teil der Bevölkerung und der Mitglieder der Partei selbst die Auflösung der SED-PDS wünscht. Ursache hierfür ist die Gleichstellung der SED-PDS mit der früheren SED, die durch stalinistische Strukturen geprägt war und in den letzten Jahren durch eine verbrecherische Führung geleitet wurde. Diese Gleichstellung hat mindestens drei Gründe:

1. Auch die sich erneuernde Partei bleibt durch die genannten Faktoren der Geschichte der alten SED belastet, während sich deren frühere Leistungen im Bewusstsein nicht mehr widerspiegeln.

2. Der SED-PDS ist es in den fünf Wochen seit Abschluss des außerordentlichen Parteitages nicht gelungen, sich so zu erneuern, dass sie bereits eine neue Partei geworden wäre.

3. Es gibt Kräfte, die mit allen Mitteln versuchen, die demokratische Legitimation der sich erneuernden Partei zu verhindern.

Alte SED kann nur Schaden bringen

Da der außerordentliche Parteitag klargestellt hat, dass die alte SED mit ihren stalinistischen Strukturen in Gegenwart und Zukunft unserem Volk keinerlei Nutzen, sondern nur Schaden bringen kann, stellt sich nur die Frage, ob die sich zur Partei des Demokratischen Sozialismus entwickelnde Partei in unserem gesellschaftlichen Leben der DDR jetzt und künftig gebraucht wird.

Das schließt die Frage ein, ob die SED-PDS tatsächlich willens und fähig ist, sich zu dieser Partei des Demokratischen Sozialismus zu entwickeln.

Bei der Beantwortung dieser Frage müssen möglichst objektive Kriterien gefunden werden. Allein die gefühlsmäßige Bindung vieler Mitglieder an diese Partei reicht zur Bejahung nicht aus. Schwierig ist die Beantwortung auch deshalb, weil der Parteivorstand einer Partei nicht unvoreingenommen an die Frage ihrer Existenz herangehen kann.

Gäbe es schon stabile demokratische Verhältnisse in der DDR würde die Antwort ausschließlich durch die Bürger gefällt werden können, wenn sie ihre Wahlentscheidung treffen. Gegenwärtig geht es aber darum zu klären, ob die bloße Existenz unserer Partei zu einer Polarisierung in der Gesellschaft führen und damit zu einer Eskalation der Spannungen, gegebenenfalls sogar von Gewalt, beitragen würde. Nach langer, reiflicher und zum Teil kontroverser Diskussion geht der Partei- vorstand davon aus, dass die Auflösung der Partei die Polarisierung in der Gesellschaft und den Grad der erreichten Spannungen nicht abbauen kann. Im Gegenteil. Es wäre zu befürchten, dass eine Verlagerung der Polarisierung mit zunehmenden Spannungen erfolgt, wobei das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Schutzlosigkeit einzelner zunehmen würde. Hinzu kommt dass sich Menschen und Ideen nicht auflösen lassen und der Partei vorstand davon ausgeht, dass die demokratische Erneuerung in der DDR, die Vertragsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten innerhalb unserer deutschen Nation und die Entwicklung zum vereinigten Europa auch starke linke Kräfte im politischen Spektrum benötigen.

Die Partei des Demokratischen Sozialismus wäre in diesem linken Spektrum ein wichtiger Faktor.

Wenn wir die Frage der Notwendigkeit einer Partei des Demokratischen Sozialismus bejahen, verlangt das auch Antwort auf die Frage, ob die SED-PDS in der Lage ist, sich im Erneuerungsprozess zu einer solchen Partei zu entwickeln.

Das Motiv für die Mitgliedschaft in dieser Partei kann nur die sozialistische Idee sein. Während früher auch karrieristische Momente eine Rolle gespielt haben können, ist das in der Gegenwart ausgeschlossen. Gerade darin liegt eine der großen Chancen auf dem Wege zu einer neuen Partei.

Diese Chance wurde bisher ungenügend genutzt. Das Tempo der Erneuerung entspricht nicht den Anforderungen des Lebens.

Auf dem Wege der Erneuerung wurden auch durch die Leitung der Partei Fehler begangen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass das alte Denken, wenn auch in unterschiedlichem Grade, fast in jedem Mitglied noch verhaftet ist.

Die Gegenüberstellung Erneuerer - Stalinist ist zu simpel. Die Erneuerung muss in jedem selbst stattfinden.

Andererseits gibt es auch solche Mitglieder, die sehr bewusst den Erneuerungsprozess behindern, weil sie stalinistische Strukturen bewahren bzw. restaurieren wollen. Deshalb musste das Präsidium feststellen, dass es in seinem Erneuerungswillen immer wieder auf ernst zu nehmenden Widerstand gestoßen ist. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass an einen Prozess, der gerade fünf Wochen andauert, keine illusionären Erwartungen geknüpft werden dürfen. Insofern ist es zu bedauern, dass viele Mitglieder, die ehrlich eine Erneuerung anstrebten, die Partei gegenwärtig verlassen, nur weil der Prozess nicht in so kurzer Frist zu realisieren ist.

Dringliche Schritte und Signale nötig

Wir bitten die Mitglieder Schwierigkeiten und Widersprüche einzukalkulieren und hartnäckig um die Erneuerung auf allen Ebenen der Partei zu ringen. Wir dürfen uns nicht zu schnell entmutigen lassen.

Für die Entwicklung zu einer neuen Partei sind nach unserer Auffassung folgende dringlichen Schritte und Signale erforderlich:

1. Die Schiedskommissionen auf allen Ebenen sollten zügig dafür sorgen, dass Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen werden, die Strafgesetze verletzten oder sich durch rücksichtsloses Disziplinieren von Andersdenkenden innerhalb und außerhalb der Partei in der Vergangenheit hervorgetan haben.

Konsequent sind die Rehabilitierungsverfahren fortzusetzen.

2. Der Parteivorstand sowie die Bezirks- und Kreisvorstände müssen sich über Kommissionsentscheidungen schnellstens von solchen politischen Mitarbeitern trennen, die wegen ihrer politischen Vergangenheit die Glaubwürdigkeit des Erneuerungsprozesses einschränken oder die durch ihr gegenwärtiges Verhalten das Tempo der Erneuerung verzögern.

Bei dieser Gelegenheit soll ausdrücklich jenen hauptamtlichen politischen Mitarbeitern und den technischen Kräften gedankt werden, die sich in den vergangenen Wochen mit großer Intensität den neuen Aufgaben gestellt haben.

Weitere Reduzierung des Apparates

Die Reduzierung der Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter ist kontinuierlich fortzusetzen. Bei notwendigen Neueinstellungen ist darauf zu achten, dass Kompetenz und politisches Engagement für die Ziele des demokratischen Sozialismus gegeben sein müssen, während eine Mitgliedschaft in der Partei nicht unbedingt Voraussetzung ist.

3. Hinsichtlich der Parteibetriebe wird der Vorschlag des Präsidiums vom 13. Januar 1990 mit der Maßgabe bestätigt, dass eine Überführung nicht nur in Volkseigentum sondern auf Wunsch der Belegschaft auch in genossenschaftliches Eigentum möglich ist.

Soweit eine Überführung in Volkseigentum erfolgt, wird der Regierung empfohlen, für andere Parteien, Bewegungen, Vereinigungen und Verbände die Übertragung in Rechtsträgerschaft zu ermöglichen. Das gilt entsprechend für die in Volkseigentum zu überführenden Erholungsheime und Gästehäuser. In Erweiterung des Vorschlags des Präsidiums vom 13. Januar 1990 sollen die dort ohne Entscheidungsvorschlag genannten Parteibetriebe (weitere Verlage und Spezialbetriebe der Zentrag und organisationseigene Verlage) mit Ausnahme des Dietz Verlages und des Verlages für Anschauungsmittel ebenfalls in genossenschaftliches oder Volkseigentum übergeführt werden.

Durch die sich reduzierende Anzahl von hauptamtlichen Mitarbeitern werden Parteigebäude nicht mehr im bisherigen Umfang benötigt. Die Kreis- und Bezirksvorstände werden bevollmächtigt, über die künftige Verwendung solcher Gebäude oder Gebäudeteile selbständig Entscheidungen zu treffen, wobei die Lösung von Aufgaben im Gesundheits- und Sozialwesen, von kommunalen Fragen und die Nutzung durch andere Parteien und Bewegungen, die über keine ausreichenden Räumlichkeiten verfügen, im Vordergrund stehen. Bei den Entscheidungen ist zu berücksichtigen, dass unsere Partei künftig auch Räume für die ehrenamtliche Tätigkeit von Grundorganisationen benötigt, speziell zur Durchführung von Mitgliederversammlungen, Schulungsabenden und ähnlichem.

Symbol und Abzeichen abgeschafft

4. Die Abteilung Finanzen des ehemaligen ZK wird angewiesen, die Jahresabrechnung 1989 nach Prüfung durch die Schiedskommission und die Aufstellung des vorhandenen Geldvermögens unter Beachtung der zuvor genannten Entscheidungen - endgültig bis 31. Januar 1990 vorzulegen. Der Parteivorstand sieht vor, einen Teil davon dem Gesundheits- und Sozialwesen, für Kultureinrichtungen und Umweltprojekte zur Verfügung zu stellen.

Ein weiterer Teil dient entsprechend den geltenden gesetzlichen Vorschriften der sozialen Absicherung ausscheidender Mitarbeiter, einschließlich der Sicherung der Altersversorgung, sofern dafür Beiträge bezahlt worden sind. Zur Deckung von Unkosten und zur Schaffung einer notwendigen Reserve sind gesonderte Fonds zu bilden.

5. Das bisherige Symbol der Partei und damit auch das Abzeichen werden abgeschafft. Parteivorstand und Präsidium werden regelmäßig den Stand der Verwirklichung dieser Beschlüsse einschätzen und weitere Schritte festlegen. Die Arbeiten am Programm unserer Partei sind zügig fortzusetzen. Die programmatischer Aussagen müssen den Zielen der neuen Partei entsprechen. Die Vertreter der verschiedenen Plattformen werden darum gebeten, sich an der Gestaltung des einheitlichen Programms der Partei zu beteiligen. Wir brauchen den programmatischen Konsens.

Die Kommissionen des Parteivorstandes werden beauftragt, zügiger, allgemeinverständlicher und regelmäßiger die Politikangebote unserer Partei zu allen wichtigen Fragen des gesellschaftlichen Lebens zu unterbreiten. Von besonderer Bedeutung sind gegenwärtig unsere Vorstellungen zur Wirtschaftspolitik, zur Agrarpolitik, zu wirtschaftlichen Sofortmaßnahmen, zur Gewährleistung der sozialen Sicherheit und Vollbeschäftigung in unserem Lande sowie zur kulturellen Identität der DDR. Bis zum kommenden Parteitag, der möglicherweise vorverlegt wird soll ein Grad der Erneuerung erreicht werden, der es uns ermöglicht, künftig nur noch den Namen Partei des Demokratischen Sozialismus zu tragen und damit eine neue Partei zu sein.

AfNS sollte vor dem 30. 6. aufgelöst sein

Von den Justizorganen erwartet der Parteivorstand eine Beschleunigung der Verfahren gegen die Mitglieder der ehemaligen Partei- und Staatsführung und die ständige Information der Öffentlichkeit darüber.

Die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit sollte unter ziviler Kontrolle vorfristig und nicht erst am 30. 6. 1990 abgeschlossen werden.

In der gegenwärtigen Phase steht für die Partei die Erneuerung und Konsolidierung und nicht der Wahlkampf im Vordergrund. Wir erklären eindeutig vor dem Volk der DDR: Wir haben keinerlei Interesse an einer Polarisierung in unserer Bevölkerung und werden in demokratischer Weise die politische Verantwortung annehmen, die uns durch die Wähler bei den ersten freien, demokratischen und geheimen Wahlen auferlegt wird. Die anderen Parteien und Bewegungen bitten wir, in Verantwortung für die Stabilität der DDR, der deutschen Nation und Europas unseren Erneuerungsprozess aufmerksam und kritisch zu begleiten, aber gegen uns keinen Existenzkampf zu führen.

Zur Auswertung der heutigen Vorstandssitzung wird am Freitag, dem 26. Januar 1990, eine Beratung mit den Bezirks- und Kreisvorsitzenden durchgeführt.

(Dieser Beschluss des Parteivorstandes wurde mit 80 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen und 2 Gegenstimmen angenommen.)

Neues Deutschland, Mo. 22.01.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 18

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