LDPD: Neue Inhalte für die Armee
"DM"-Interview mit Parteifreund Christian Renatus zu militärpolitischen Auffassungen unserer Partei
Zahlreiche Zuschriften an das Sekretariat des Zentralvorstandes und den "Morgen" enthalten Vorschläge zur Erneuerung in der Nationalen Volksarmee. Unter den Soldaten, die mit Protesten und Aktionen forderten, dass die Wende nicht vor dem Kasernentor haltmachen darf, befanden sich junge Liberaldemokraten. Zu Problemen einer neuen Militärdoktrin und einer unumgänglichen Militärreform äußerte sich Christian Renatus, Mitglied des Politischen Ausschusses und Sekretär des Zentralvorstandes der LDPD, in einem Gespräch mit Gerd Robbe
DM: Benötigt die Republik überhaupt eine Armee?
CHRISTIAN RENATUS: Ja, aber eine kleine. Das Ziel der LDPD ist es, Europa generell frei von Waffen zu machen und in der DDR und BRD keine ausländischen Streitkräfte mehr zu haben. Der Weg dorthin führt aus der Sicht unserer Partei über die schrittweise Vereinigung der beiden deutschen Staaten und Berlin (West), eingeordnet in den KSZE Prozess, in die Wiener Abrüstungsverhandlungen und in den Bau des europäischen Hauses. In diesem Europa wird es keine Feindbilder mehr geben, keine Gefahr von außen. Deshalb sind wir in einem solchen entmilitarisierten Europa vom Atlantik bis zum Ural für eine künftig kleine Armee eine tatsächliche Volks-Armee, eine Art Nationalgarde. So würde die Wehrpflicht überflüssig und wieder der freiwillige Dienst eingeführt werden können. Der zivile Wehrersatz dienst entfiele ebenfalls.
DM: Das ist ein weit gestecktes Ziel, welche Schritte führen dorthin?
CHRISTIAN RENATUS: Prof. Dr. Gerlach hat auf der 8. Zentralvorstandssitzung [20.12.1989] eine weitere personelle Verringerung der Streitkräfte, den Verzicht auf bestimmte Waffenarten und Spezialverbände, die Verringerung der Sperrgebiete und die drastische Senkung der Verteidigungsausgaben als solche Schritte genannt. Für die Ausarbeitung einer neuen, echten Militärdoktrin der DDR, vielleicht sollte sogar auch auf einen solchen Begriff verzichtet werden, ist notwendig, das Maß ausreichender Verteidigungsfähigkeit exakt wissenschaftlich zu bestimmen. Sicherheitspolitische Themen sind zu enttabuisieren und die Blockkonfrontation abzubauen. Die LDPD strebt an, dass die Volkskammer der DDR dem Bundestag der BRD einen Abrüstungsappell übermittelt. Wir sind generell dafür, dass unsere Armee und die Bundeswehr mehr aufeinanderzugehen.
DM: In der NVA werden jetzt erste Schritte zu einer Militärreform gegangen...
CHRISTIAN RENATUS: ... doch das ist erst der Anfang! Maßgeblich durch die Soldaten ist dieser Prozess in Gang gekommen, der zu einer umfassenden Demokratisierung führen muss, zu einer tatsächlichen, gesetzlich verankerten Militärreform, nach innen und außen sichtbar. Sie muss den Inhalt eines neuen Eides umfassen, den Abschied von alten Zöpfen wie Uniform, Zierat und Rangabzeichen in der bisherigen Form und reicht bis zur inhaltlichen Neubestimmung des Traditionsbildes und -verständnisses.
DM: Was sehen Sie für sofort veränderbar an?
CHRISTIAN RENATUS: Das tägliche Leben - so berichten Armeeangehörige - zeigt immer noch viele alte Denk- und Verhaltensweisen, die sich aus dem ehemaligen Führungsanspruch der SED ergeben. Wir vermissen weiterhin, dass die Soldaten Gelegenheit er halten, sich mit dem gesamten politischen Spektrum bekanntzumachen, Tageszeitungen aller Parteien zu halten. Das ist für uns solch ein Prüfstein der Wahrheit.
Wir sind ferner für die Abschaffung des Nationalen Verteidigungsrates, die Erhöhung der Befugnisse des Verteidigungsministeriums unter demokratischer Kontrolle des Parlaments und für Garantien der Mitsprache der Soldatenräte. So können wir uns nach der Wahl am 6. Mai einen zivilen Verteidigungsminister ebenso vorstellen wie kompetente Zivilisten als Experten in diesem Ministerium oder einen Wehrbeauftragten in der Volkskammer. Die Domäne der SED in den Führungsstäben ist aufzuheben. Dahin wirken wir als Partei am Runden Tisch und in der Regierung.
DM: Welche Bedingungen halten Sie in der Armee selbst für erforderlich?
CHRISTIAN RENATUS: Was die innere Lage der Armee angeht, erfordert die Militärreform, alle Armeeangehörigen, ob Soldat, Unteroffizier, Fähnrich oder Offizier und General, als mündige gleichberechtigte Bürger zu behandeln. Höfliche, auf gegenseitiger Achtung und Anstand beruhende Umgangsformen sind unerlässlich. Die Befehlsgewalt muss - über gesellschaftliche und soziale Interessenvertretungen wie Soldatenräte und Vertrauensleute - Mitwirkung an allen Entscheidungen garantieren. Als liberale und demokratische Volkspartei versteht sich die LDPD als ein Interessenvertreter parteiloser Armeeangehöriger. Unsere Partei sollte daher in Garnisonsstädten und Standorten, die übrigens künftig nicht länger geheimnisumwittert, sondern öffentlich bekannt sein müssten, durch Mitgliederversammlungen, Diskussionsabende und über persönliche Gespräche für Soldaten ein gefragter Ansprechpartner sein, der ihre Belange vertritt.
DM: Wie meinen Sie das konkret?
CHRISTIAN RENATUS: Wir sind für eine rapide Verbesserung der Dienst- und Lebensbedingungen um den Soldatenalltag zu erleichtern. Hierfür sind neue Dienstvorschriften unter Einbeziehung von Soldatenräten demokratisch zu erarbeiten. Weiter zu treffende Festlegungen wären u. a. die Gewährung von mindestens einmal Urlaub im Monat, die Erhöhung des Wehrsoldes im Grundwehrdienst, Ausgang nach Dienst bis zum Dienstantritt und gleiche Verpflegung für alle ohne Sonderrechte. Ich begrüße es, dass oft von uns unterbreitete Vorschläge, die Einberufung weitestgehend nach dem Territorialprinzip vorzunehmen und einen Zivildienst zu schaffen, nunmehr Wirklichkeit werden.
Unsere Partei tritt ein für
• ein entmilitarisiertes Europa,
• den Abzug ausländischer Streitkräfte vom Boden der DDR und BRD,
• eine kleine Volks-Armee, eine Nationalgarde, die sich aus Freiwilligen zusammensetzt.
Die Volkskammer sollte baldmöglichst dem Bundestag der BRD einen Abrüstungsappell übermitteln.
Der Morgen, Nr. 11, Sa./So. 13./14.01.1990