"Egon, das Ding ist gelaufen, mach dir mal keen Kopp"
Günter Schabowski, Schlüsselfigur in den letzten Tagen der DDR ‚ über die Maueröffnung, den Sturz Honeckers und Gorbatschows Standpauke
Günter Schabowski, 61, verkündete vor einem Jahr, am 9. November die Öffnung der Berliner Mauer ein Vorgang mit phänomenalen Konsequenzen. Was es in Wahrheit ein Betriebsunfall der Geschichte? Als Parteichef von Berlin war Schabowski, der lange als ein getreuer Gefolgsmann Erich Honeckers galt, einer der mächtigsten Männer in der DDR. Seit 1984 saß er im Politbüro, dem obersten Organ von Partei und Staat. Das Gespräch beleuchtet die dramatischen Tage vom Sturz Honeckers bis zur Öffnung der Mauer. Es gibt Einblick in die Gedankenwelt der obersten Staatsspitze, die völlig mit sich selbst beschäftigt war - während sich ihr Staat bereits aufzulösen begann.
MORGEN: Noch vor einem Jahr waren Sie einer der mächtigsten Politiker der DDR, jetzt sind Sie Bundesbürger und erst noch arbeitslos ...
SCHABOWSKI: Yes, Sir.
MORGEN: Wie fühlt man sich als führender Repräsentant eines Regimes und Staates, von denen innerhalb weniger Monate nichts mehr übriggeblieben ist?
SCHABOWSKI: Die Vorstellung ist nicht mit so viel elementarer Meditation befrachtet, wie manche meinen. Das Ganze ist ja schon etwas komplizierter. Wir haben im vergangenen Herbst unter dramatischen Umständen und unter großen Schwierigkeiten Honecker gestürzt in der Annahme, es sei noch etwas zu retten. Seit Anfang dieses Jahres war mir klar: Auch wenn die Geschichte für uns günstiger verlaufen wäre, zu retten war gar nichts, nur abzulösen.
MORGEN: Haben Sie 40 Jahre Ihres Lebens weggeworfen?
SCHABOWSKI: Ja. Wenn Sie 60 sind, bleibt nicht mehr so viel übrig.
MORGEN: Werden Sie angepöbelt, wenn Sie durch Berlin spazieren, das, als es noch DDR-Metropole war, auf Ihr Kommando hörte?
SCHABOWSKI: "Armleuchter" und "Bonze" kriegt man gelegentlich zugezischt, aber ich gehe nicht als Geächteter durch die Straßen. Ich war ja nicht unpopulär in dieser Stadt.
MORGEN: Wovon leben Sie heute?
SCHABOWSKI: Ich habe gerade ein Buchmanuskript fertiggestellt. Ansonsten von der Hand in den Mund, mit einer fünfköpfigen Familie ist das gar nicht so einfach.
MORGEN: Sie waren einer der bestbezahlten Funktionäre der DDR. Reichte es nicht zu einem Konto in der Schweiz?
SCHABOWSKI: Ich verdiente nicht ganz 6 000 Mark brutto im Monat. Das kassiert doch jeder bessere Buchhalter in Westdeutschland. Davon ist nicht viel übriggeblieben.
MORGEN: Sie waren aber ein Privilegierter in einer Klassengesellschaft.
SCHABOWSKI: Ich will es ja nicht besser machen, als es war, aber man sollte nicht die Maßstäbe verwechseln. Es gab in der Tat ein ganzes System von Privilegien, was zu einer latenten Abhängigkeit führte. Das war schon eine Art von Korruption. Wir kriegten alles, was wir brauchten, aber es gehörte uns nichts.
MORGEN: Wurde dieses System der Korrumpierung auch auf der obersten Ebene, im Politbüro, bewusst eingesetzt.
SCHABOWSKI: Ja, das ist das stalinistische Muster. Die Führung wird durch ideologische Indoktrination zusammengehalten. Das müsste eigentlich für die Mitgliedschaft in so einem Orden ausreichen. Daneben gab es dieses korrumpierende System, was dem einzelnen immer wieder bewusst machte, ohne dass es ihm eingeredet wurde, dass alles, was er hier hatte, ihn abhob von den anderen. Aber morgen konnte er schon wieder dahin zurückgeschnipst werden, wo er herkam, und 'bums' ist alles Weg. Das schaffte natürlich Raison. Auf mich hat es sicherlich auch eine Suggestion ausgeübt, obwohl ich mich mehr als Manager verstand. In der Bundesrepublik sind mir ja dann die Augen übergelaufen, was ich bei vergleichbaren Managern sah. Und da fand ich meine damaligen Privilegien nicht mehr so arg.
MORGEN: Sie waren jahrelang Chefredakteur des "Neuen Deutschland", des Sprachrohrs der Partei und vor allem Erich Honeckers. Historisch ist die Ausgabe vom 13. März 1984. Dort ist E.H. in der gleichen Zeitung 43 Mal abgebildet. Wie können Sie sich diesen Führerkult heute erklären?
SCHABOWSKI: Im Nachhinein sieht das natürlich alles peinlich aus. Der Anlass war die Leipziger Messe, und es gehörte zu dieser gesamten Liturgie um den Generalsekretär, der mit dem letzten Botschafter dort sprach, und die Fotos sollten dokumentieren, wie international angesehen die DDR sei.
MORGEN: Und der Chefredakteur konnte es sich nicht erlauben zu sagen, dass das alles wohl doch etwas albern aussehe?
SCHABOWSKI: Das war wirklich schrecklich. Mir fällt keine Rechtfertigung ein. Das System produzierte solche Dinge und wir waren selbst daran schuld. Es ging ja noch viel weiter. Er ließ sich jeden Tag vor Druckbeginn den Umbruch der Frontseite vorlegen.
MORGEN: Der Staatschef persönlich redigierte jeden Tag die Seite 1 des "Neuen Deutschland"?
SCHABOWSKI: Er sah sie zumindest an, redigierte manchmal aber auch Überschriften und Meldungen selbst. Was in dieser Zeitung stand, war für ihn eine amtliche Verlautbarung. Er kontrollierte die Medien rigoroser als sein Vorgänger Walter Ulbricht, der damit auch nicht zimperlich umgesprungen war.
MORGEN: Stimmt es, dass E.H. sogar die Fotoauswahl besorgte, als das Modell des neuen "Wartburg" vorgestellt wurde?
SCHABOWSKI: Solche Dinge gehörten dazu. Bis zuletzt prangte jeden Tag sein Foto auf der Seite 1, ohne Ausnahme jeden Tag. Das war ein Ritual, es fiel uns schon gar nicht mehr auf. Das war aber systemimmanent: Die Generalsekretäre der ČSSR oder der UdSSR sind genauso hunderte Male ausgekotzt worden in ihren Zeitungen. Das war das System, und das System hatte ganz primitive Vorstellungen von Machtstrukturen, und wir, die Träger dieses Systems, mehr oder weniger intelligent, passten uns diesen Vorstellungen an. Kein Zweifel: Es war eine Art Feudalismus.
MORGEN: Empfanden Sie es damals auch als Feudalismus?
SCHABOWSKI: Nein, natürlich nicht, sonst wäre ich ja schizophren geworden. Man ist hineingewachsen in diese ganze Liturgie von Anfang an. Als junger Mann tritts du in die Partei ein, und es wird dir alles unter dem Generaltitel präsentiert: Wir sind die einzigen, die die richtige Politik vertreten, wir sind die Elite, das ist unser großer moralischer Auftrag, und so weiter. Für die Unzulänglichkeiten fanden sich immer Rechtfertigungen. Das Underdog-Moment spielte bei uns eine enorme Rolle. Im Zweifelsfall war's der Klassenfeind oder der westliche Imperialismus, der die Entwicklung behinderte, und in manchen Dingen stimmte das ja auch. Man darf nicht vergessen, dass alles, was hier etabliert wurde, sowjetischen Ursprungs ist, alles bis ins Detail.
MORGEN: Ist das jetzt eine späte Rache an Gorbatschow?
SCHABOWSKI: Wieso Rache?
MORGEN: Weil er nicht nur ein System, sondern den ganzen Staat erledigt hat.
SCHABOWSKI: Im Gegenteil: Für uns Jüngere war er doch die Hoffnung, obwohl weder er noch wir ahnten, wohin seine Reformen führen würden. Als er vor fünf Jahren damit begann, hockten wir am Fernseher und verfolgten jedes Wort, jede Geste auf seinen Reisen. Letztlich gilt für die UdSSR aber dasselbe wie für die DDR: Die Sowjetunion ist nicht zu reformieren, die Strukturen lösen sich ebenso auf wie bei uns. In der DDR gings im Zeitraffer, in Moskau läuft die Zeitlupe. Das Ende bleibt sich gleich.
MORGEN: Hat dies Honecker geahnt, erklärt das seine Halsstarrigkeit bis zu allerletzt?
SCHABOWSKI: Ich weiß es nicht. Gorbatschows erster Besuch in der DDR war für eine völlig ungewohnte Erfahrung. Er diskutierte mit dem Politbüro und dem ZK, forderte Widerspruch heraus. Bis dahin war unsere Erfahrung mit Moskau: Wenn der Obergötze ein Wort sagt, will er es genau so haben und nicht anders. Wenn wir in Berlin nicht so wollten wie er, mussten wir höchstes taktisches Geschick aufbieten, um eine Entscheidung zu modifizieren. Honecker hat nicht begriffen, dass sich mit Gorbatschow diese Rituale völlig gewandelt hatten, obwohl ja auch Gorbatschow ein Mann des Apparats war, der jahrelang völlig angepasst alles mitgetragen. hat. Im DDR-Politbüro wurde über diese Entwicklung nie direkt diskutiert. Man machte sich gerne lustig über politisch-professionelle Schnitzer, die Gorbatschow etwa bei der Antialkohol-Kampagne unterliefen. Im Politbüro wurde kolportiert, die Leute würden in der UdSSR Eau de Colgone als Alkoholersatz konsumieren.
MORGEN: Gab es eine deutsche Überheblichkeit gegenüber Moskau?
SCHABOWSKI: Die gab's. Wir hatten das Gefühl, endlich nicht mehr die letzte Laus am Schwanz zu sein, ganz anders, als noch in den siebziger Jahren.
MORGEN: Dann kam der 7. Oktober 1989. Gorbatschow reist als Ehrengast zum famosen Jubiläum 40 Jahre DDR an. Alles wartet auf ein Signal zu radikalen Reformen. Keiner aus der DDR-Führung wagt es. Wieder ist es Gorbatschow, der den Anfang macht: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Verstand man diesen Satz auch im Allerheiligsten als Signal?
SCHABOWSKI: Natürlich, damit war klar, die Russen würden nicht eingreifen.
MORGEN: Hinter verschlossenen Türen stauchte Gorbatschow offenbar das DDR-PoIitbüro zusammen. Wie haben Sie jene Sitzung in Erinnerung?
SCHABOWSKI: Das war ganz anders, viel subtiler. Die Rede, die er hielt, war moderat, er kritisierte die DDR nicht, stellte vielmehr die Probleme der Sowjetunion dar und sagte sinngemäß: Macht bloß nicht alle unseren verdammten Fehler nach. Aber die DDR war im Grunde ja schon ein einziger Fehler, da war nichts Falsches nachzumachen.
MORGEN: Wie reagierte Honecker?
SCHABOWSKI: Er hielt eine sehr ungeschickte Replik, war noch viel verkrampfter als sonst. Gorbatschow schüttelt mehrfach den Kopf und ließ ein zischendes Tssss" hören. Eigentlich hätten wir da putschen müssen, aber wir konnten Gorbatschow nicht in diese peinliche Lage bringen.
MORGEN: War das ein konkreter Plan?
SCHABOWSKI: Mitte September 1989 hatte es erste Diskussion gegeben in diesem Gremium, die ich überhaupt erlebte; Honecker war nicht anwesend, er lag krank im Bett. Hier zeigten sich vorsichtig erste Ansätze. Abweichende Meinungen in wichtigen Fragen galten bis dahin im Politbüro als unaussprechbar. Wer nicht in dieser Ideologie aufgewachsen ist, kann das nicht verstehen. Diese Ideologie hatte einen Fixpunkt: den Generalsekretär. Wer ihn weg haben wollte, musste sich im klaren sein, dass er damit ein wesentliches Stück Ideologie weghackt. Honecker konnte ja nicht überstimmt oder abgewählt werden. Er war der von der Ideologie Getragene, der die Ideologie Verkörpernde. Das eigene Selbstverständnis gipfelte in dem ironischen Satz, man befinde sich auf der jeweiligen ideologischen Linie des jeweiligen Generalsekretärs. Die Führungsfrage war also der zentrale Punkt, und der Sturz des Generalsekretärs...
MORGEN: ... war Gotteslästerung ...
SCHABOWSKI: ... war Königsmord, der nur konspirativ zu bewerkstelligen war. Wir konnten uns nur indirekt verständigen.
MORGEN: Wer ist "wir"?
SCHABOWSKI: Krenz, Lorenz und ich, wobei man sich das nicht als festgefügte Verschwörertruppe vorstellen darf.
MORGEN: Und Modrow?
SCHABOWSKI: Ach Modrow. Ich habe immer versucht, herauszukriegen, woran das Reformerische bei ihm gelegen hat.
MORGEN: Wie auch immer. Sie waren die mächtigsten Männer im Land und vermochten dennoch nicht, dem gesundheitlich schwer Angeschlagenen, über Siebzigjährigen einfach ein Ultimatum zu stellen, obwohl es doch um die Existenz des Staates ging?
SCHABOWSKI: Nein, der hätte sofort Politbüro und Zentralkomitee zusammengerufen, wir wären erledigt gewesen. So loyal Honecker gegenüber war die Stimmung in der Partei noch, als wir am Abgrund standen. Krenz hatte sogar bis zuletzt gehofft, den Wechsel mit Honecker gemeinsam durchzuziehen. Das muss man sich mal vorstellen! Manche haben wirklich sehr, sehr spät begriffen, worum es ging.
MORGEN: Wie lief die Götterdämmerung denn nun wirklich ab?
SCHABOWSKI: Wir brauchten einen, der den Antrag auf Honeckers Rücktritt stellte, wir wussten nicht, auf wen wirklich Verlass war. Willi Stoph ließ sich schließlich dafür gewinnen, bat sich im Gegentausch allerdings einen schönen Posten aus ...
MORGEN: ... das Amt des Staatspräsidenten als Brutuslohn
SCHABOWSKI: ... jedenfalls nicht den Posten des Generalsekretärs, aber das erledigte sich dann von selbst. Stoph trug diesen einen Satz ohne jede Begründung und völlig emotionslos vor, als rede er von Problemen bei der Kartoffelernte. Honecker reagierte zunächst nicht und ging zur Tagesordnung über. Für ihn war das, als würde einem jemand auf die Schulter tippen mit der Aufforderung: Spring mal eben unter die Straßenbahn, Genosse. Er lebte ja bis zu diesem Zeitpunkt im Zustand halber Vergötterung. Die Psychologie der ganzen Geschichte ist hochinteressant. Es gab Protestrufe am Konferenztisch. Dann ging's los. Als einer der ersten ließ ihn Günther Mittag fallen, einer seiner engsten Mitarbeiter, der Honecker in jeder Beziehung ausgenutzt hat, ein Dämon in der ganzen Misere der DDR, um den es bis heute seltsam ruhig geblieben ist. Nach mehreren Stunden gab es einen einstimmigen Beschluss.
MORGEN: Honecker stimmte für seinen eigenen Sturz?
SCHABOWSKI: Am Ende ja. Es musste immer alles einstimmig sein in diesem Gremium. Daran ist zu erkennen, wie enorm stark diese Liturgien noch in der Endphase wirkten.
MORGEN: Sie sprechen bisher fast ausschließlich von Politbüro, ZK und Honeckersturz. Man mag es kaum glauben: Draußen tobte die Straße, die Leute liefen in Scharen weg, und die Machtelite beschäftigte sich fast ausschließlich mit dem Sturz von Gottvater. War dies die Folge der fast totalen Isolierung, in der die Spitze von Staat und Partei schwebte?
SCHABOWSKI: Der Sturz war in dieser Situation in der Tat die Hauptsache und beherrschte uns, anders wäre nichts zu bewegen gewesen. Die Beseitigung der Person erschien uns viel wichtiger als das, was danach kommen sollte. Das ist aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar, aber wir glaubten, wenn er erst mal weg ist, hätten wir Zeit und Möglichkeit und die Kräfte, um eine Konzeption zu erarbeiten. Demokratisierung, Wahlen, Liberalisierung der Wirtschaft, kurz: Übereinstimmung mit dem Wollen ...
MORGEN: ... und vor allem Drängen ...
SCHABOWSKI: ... der Menschen herzustellen.
MORGEN: Auch die vollständige Öffnung der Grenzen?
SCHABOWSKI: Erleichterung der Ausreise, Reisefreiheit, das wussten wir, musste rasch geregelt werden, weil die ČSSR die Grenzen geschlossen hatte und wir unter enormen Druck gerieten.
MORGEN: Dabei erschien die Öffnung der Mauer eher als Zufall. War es ein historischer Betriebsunfall, als Sie am Abend jenes 9. November eher beiläufig vor 400 internationalen Journalisten mitteilten, die Grenzen seien nun wohl doch irgendwie offen?
SCHABOWSKI: So war das doch nicht! Die Mär ist später aufgekommen, irgendein Funktionär des Innenministeriums habe in jene Verordnung Formulierungen eingeschmuggelt, die die Mauer einstürzen ließen. Unser, das heißt der Auftrag des Politbüros, hieß Reisefreiheit. Ich hatte an der ZK-Sitzung, während der das behandelt wurde, zeitweilig nicht teilgenommen. Krenz übergab mir später den Text der Verordnung mit der Bemerkung: "Das wird ein Knüller für die Weltpresse."
Tatsächlich laß ich den Text erstmals, als die TV-Kameras schon liefen. Ich stockte kurz beim Hinweis auf den Geltungsbereich Berlin, weil mir durch den Kopf schoss: Sind denn die Sowjets überhaupt informiert? Das betrifft doch den Vier-Mächte-Status der Stadt.
MORGEN: Und waren sie informiert über den Mauerbruch?
SCHABOWSKI: Weiß ich bis heute nicht. Ich hörte nur, dass der Sowjetbotschafter Kotschemassow "leichte Konsterniertheit" hat erkennen lassen. Aber er konnte niemanden mehr rügen, dazu war er aufgrund der Ereignisse nicht mehr in der Lage.
MORGEN: War diese plötzliche Maueröffnung ein Putsch von oben, um die Initiative von der Straße zurückzugewinnen?
SCHABOWSKI: Ich hatte eine positive Lesart davon: Wir ermöglichten die Reisefreiheit. Ich glaubte ja noch an das System und seine Reformierbarkeit und hielt das für eine zentrale Frage. Es war unumgänglich, um wenigstens ein Stück des verlorenen Vertrauens zurückzugewinnen.
MORGEN: Sie fuhren nach der Pressekonferenz beruhigt nach Hause ohne das Gefühl, soeben Ihr politisches Ende und das der DDR verkündet zu haben.
SCHABOWSKI: Man muss jetzt nicht so tun, als hätte an jenem Tag vor einem Jahr irgendjemand in Ost und West gewusst, dies würde in weniger als einem Jahr zum Zusammenbruch der DDR führen.
MORGEN: Nachts wurden Sie nach Berlin zurückgerufen. Was dachten Sie in jener Nacht, als Tausende an Ihnen vorbei einfach in den Westen spazierten und die Grenzsoldaten hilflos zuguckten?
SCHABOWSKI: Ich stand am Übergang Heine-Straße, der erste Gedanke war: Jetzt läuft die DDR aus ... Dann sah ich, wie ruhig, ja fröhlich alle waren. Die Meldungen, die bei mir eintrafen, ergaben insgesamt ein beruhigendes Bild. Keine Panik, keine Gewalt. Ich rief Krenz an und sagte: "Egon, das Ding ist gelaufen, mach Dir mal keen Kopp." Anderntags hatte es sich an der Grenze ja schon fast normalisiert, obwohl die Übergänge offenblieben. Eigentlich hätte die Regelung erst um vier Uhr früh in Kraft gesetzt werden sollen und nicht sofort, aber das stand in der Verordnung, die ich von Krenz erhalten hatte, nicht drin. Geändert hat das auch nichts mehr.
MORGEN: Was ist von Ihrem marxistischen Weltbild geblieben?
SCHABOWSKI: Nicht viel Gesellschaftsrelevantes.
MORGEN: "Gott" gibt es nicht, hat es nie gegeben, alles nur Bluff?
SCHABOWSKI: Gott, wie Sie es nennen, Marx oder die Utopie ist nicht praktikabel. Natürlich kommt jetzt der Vorwurf, wenn solche Leute wie der Schabowski so gründlich auf die Schnauze fallen, sind sie bereit, ihre Götzen zu verbrennen. Aber ich kann nicht anders.
Fred David
Der Morgen, Nr. 285 B, Fr. 07.12.1990