"Der Spielraum hat das Ausmaß einer Zelle"

Der vor elf Jahren aus der DDR vertriebene Schriftsteller Jürgen Fuchs schreibt über den "faulen Kompromiss" der großen Koalition der "Vernünftigen" im Falle Krawczyk / Für ihn gibt es hingegen einen Kompromiss, bei dem die Opfer nicht zu Schuldigen gemacht werden.

Von Jürgen Fuchs

Als ich Ende Januar in der taz meinen Aufsatz "Verdrängtes kommt wieder" zuschickte - er wurde am 3. Februar gedruckt - konnte keiner von uns genau wissen, dass ausgerechnet an diesem Tag Freya Klier und Stephan Krawczyk in den Westen gefahren werden würden - in der bekannt kulanten Weise. Ahnen ließ sich diese Wiederholungsvariante deutscher Geschichte allerdings. Sonntag Abend änderte sich die Berichterstattung westlicher Medien ein klein wenig, der Ton des Neuen Deutschland verschärfte sich merklich, Senator McCarthy ließ grüßen. Etwas Hoffnung kam auf, das spürte man: "Die Bundesregierung verhandelt... Rechtsanwalt Vogel, ein enger Vertrauter des Generalsekretärs, hat sich eingeschaltet..." In solchen Situationen wird auf die Worte geachtet, Politiker und Journalisten ahnen etwas. Eine "Lösung" kommt in Sicht. Außenstehende werden gedämpft mit ihren ungeduldigen, ahnungslosen Solidarisierungsabsichten.

"Die erste Reihe geht ins Feuer"

In Ost-Berlin sagte eine Frau, die schon einen Hausarrest miterlebt hatte, ziemlich gut voraus, was dann andere überraschen sollte: "Es ist eigentlich immer dasselbe", sagte sie. Dann, am Montag, Dienstag, das Stichwort "von der insgesamt guten Lösung" (Rechtsanwalt Vogel). Im Mittelpunkt sollten die Inhaftierten stehen, ihre Familien, auch die Kinder, die ihre Eltern vermissen, weil sie verhaftet wurden unter dem Vorwurf politischer Unbotmäßigkeit. Hatten sie Kriege befürwortet, Völkerhass geschürt, Rassismus das Wort geredet? Nein, sie hatten ihre Meinung gesagt, das berühmte Luxemburg-Zitat hochgehalten. Oder nicht mal hochgehalten, denn sie kamen gar nicht dazu, wurden in Wohnungen verhaftet oder vor dem Haus. Bärbel Bohley zum Beispiel wollte gar nicht zur Demonstration. Als die Umweltbibliothek durchwühlt wurde, hatte sie ihr Telefon zur Verfügung gestellt als Kontaktadresse für Betroffene. Sie fühlte, dass sie "dran war". Anderen, zum Beispiel den Tremplins, erging es ähnlich. "Die erste Reihe geht jetzt ins Feuer", dieses Gefühl. "Die Randgruppen, die mit Kirche wenig, aber viel mit demonstrativen Aktionen zu tun haben", (Erich Honecker/Graf Lambsdorff), sollten weggefangen werden. Die Jungs standen schon im Hausflur, warteten, griffen dann zu.

Darf man keine "gewaltfreien demonstrativen Aktionen" unternehmen, wie es Herr Lambsdorff vorgestern im deutschen Fernsehen verständnisvoll berichtete nach dem Gespräch mit dem obersten Befehlshaber, der so freundlich, so staatsmännisch gelassen, so einfach auf den westdeutschen Gast zutrat im Empfangsraum für ausländische Gäste... Nein, im Real Existierenden darf man das eigentlich nicht. Nur als ideelle Variante, in den Zahlreichen Leseexemplaren der dortigen Verfassung. Ein Bewusstsein und eine Zusage auf Papier für Demokratie existieren schon, das schon, auch ein Recht auf die inzwischen so bezeichnend unterschiedlich interpretierte "freie Wahl, wo man leben möchte". Liebe Gehende, Bleibende und Hinterbliebene, inklusive der Zuschauer: Nur, das Sein ist etwas anders. Vielleicht war der FDP-Politiker auch gekommen, um Spenden zu überbringen an die Familien der "Ungeduldigen", hohe Summen unter Umständen, um die ging es ja in anderen Zusammenhängen, die gar nicht hier hergehören. Von "Ruhe" sprach der westdeutsche Politiker und wollte wohl "Ordnung" hinzusetzen, sagte dann aber "Frieden". Ein klein wenig hatte er gezögert, gestutzt, es noch selbst bemerkt. Aber etwas gemeint, etwas sehr, sehr Wichtiges gemeint in deutschen, auch historischen Zusammenhängen.

So geht es nicht mehr

Das war vorgestern Abend im deutschen Fernsehen. Am Anfang dieser Woche meldete sich Anwalt Vogel zu Wort, mehrmals. Er hatte Mandanten, die saßen im Gefängnis, die sollten da raus, das hörte er auch am Telefon aus Bonn, besorgte Anrufe, Telegramme, Fernschreiben, also musste gehandelt werden. Am Dienstag tagte das Politbüro. Ich glaube, dass einem Mann wie Wolfgang Vogel tatsächlich viel daran liegt, Gefangene rauszuholen. Und dafür gehen er und andere in die Machtstrukturen, übernehmen die Sprachregelung und sind manchmal erfolgreich, wenn die "Interessenlage" es erlaubt. Es ist eine Mischung aus vielen Komponenten. Auch jüdische Mitbürger zu retten war kompliziert, erforderte (auch) Kollaboration, Mut, Klugheit. Vielleicht ist Rechtsanwalt Vogel auch einverstanden mit dem politischen Strafrecht der DDR, ich weiß es nicht. Als ich ihn in der Haft erlebte, ich Gefangener - er Anwalt, hatte ich diesen Eindruck nicht. Wenn er liest, was ich schreibe, wird er in jedem Fall dagegen sein. "Man spricht nicht darüber, das belastet die Bemühungen." Aber das geht nicht, geht nicht mehr. Wir müssen darüber sprechen. Dieses stillschweigende Einvernehmen und Schweigen, weil etwas anderes die Herren verstimmt, kann nicht länger mitgemacht werden

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Teile meiner Familie leben in der DDR können jederzeit angetastet werden, Teile von mir selbst. Wer dringt dann zu ihnen vor, wer hilft, wer hat Zutritt? Das Koppeln des "Humanitären" an ein Schweigen oder Nicht-Thematisieren, an Vorsicht und Mitspielen, kann aber auf Dauer nicht richtig sein.

Lüge und Verrat?

Zu Beginn dieser Woche begann man von der "Lösung" zu sprechen. Der "insgesamt guten Lösung im Interesse der Inhaftierten". Damit war klar, beim Wörtchen "insgesamt" konnte man es erahnen, dass über den Willen der Inhaftierten erst einmal und nachdrücklich (es ging um ihr Zuhause, ihre Arbeit vor Ort, um sehr Wichtiges) hinweggegangen wird. Dann das nächste Stichwort gab wieder Rechtsanwalt Vogel, kurz vor der Aktuellen Stunde des Bundestages, auch Petra Kelly sollte sprechen, das hieß: "Noch in dieser Woche werden alle freigelassen, sie können selbst wählen, ob sie in der DDR bleiben möchten oder übersiedeln möchten." Aufatmen, Hoffnung, Erleichterung. Endlich "die Wende"!

Dann die Ankunft der Vorhut hier, sie sollte schweigen, andere redeten aber. Pastor Braune redete vor laufenden Kameras ("Haftbedingungen waren korrekt, sie wollten freiwillig ausreisen, haben einen Antrag gestellt, dem stattgegeben wurde") er beklagte sich auch, dass so viele weggehen wollen aus der DDR. Wertete, gab Zensuren, geschickt, politisch platziert, ein wendiger Seelsorger. "Es ist also schiefgegangen", dachten die zurückgebliebenen Freunde, sackten zusammen in ihren Kirchen und Andachten, "sie sind weg, haben sich erpressen lassen. Oder wollten sie gar schon immer weg? War alles Lüge, Verrat, was sie gesungen und vorgetragen haben auf der Bühne?" Als das passiert war, widersprachen die so ins Neuland Eingeführten, waren mittendrin in einer Schlacht noch vor dem Aufatmen, einem harten Medien-Poker.

Freya Klier und Stephan Krawczyk widersprachen der Freiwilligkeits-Version. Sie wiesen auf das hin, was jeder weiß. Jeder weiß es, kann es wissen! Man muss nur das Neue Deutschland, besonders in den letzten Tagen, lesen, die abgedruckten Denunzianten-Artikel der DKP-Stalinisten (Einmischung aus dem Westen!?), die wichtigen Worte des DDR-PEN-Vorsitzenden Kamnitzer, der alles rechtfertigte, auch historisch, aus antifaschistischer Sicht... all die Hassreden gegen die Inhaftierten mit Namensnennung im Zentralorgan, die Vorverurteilung also, das Urteil: die oder das dürfen hier nicht sein. Josef Stalin. Als Zeitung und Handlungsvorgabe auf dem Tisch der Vernehmer, die Gefangenen dürfen sie lesen. Was soll da noch "ermittelt" werden? Naja, Gorbatschow spricht mit Sacharow, Gefangene werden freigelassen. Aber da, die TASS-Meldung, "Renegaten verhaftet in der DDR" ... Auch das "Glasnost"-Land wendet sich gegen sie! Und so fühlen sich die Gefangenen völlig verloren. Und sind es in einem schlimmen Sinne auch. Es gibt keinen Spielraum, auch nicht für Rechtsanwälte und Bischof Forck. Der Raum hat das Ausmaß einer Zelle. So bestimmen es die, die Macht haben und es Herrn Lambsdorff sagten, der anschließend mit Kirchenvertretern sprach. Es wird alles gut, die Beziehungen gehen weiter, auch der Dialog, natürlich im Rahmen der Gesetze. Das ist die Sprachregelung, die Beruhigung. Alles andere "geht nicht!", "muss weg", so oder so. Das ist der verengte Weg der Gewalt und der Erpressung, der freilich sehr alltäglich ist und fast unsere Welt bestimmt.

Sie können wählen, Frau Klier, Herr Krawczyk, Frau Bohley: "andere zu sein, dann geht es vielleicht zurück an den Prenzlauer Berg." Oder sie selbst zu sein, dann weg oder im Gefängnis bleiben. Das ist die schäbige kleine Wahl für die, die es jetzt tatsächlich betrifft. Es ist ihr Konflikt, kein darüber Reden von außen!

Die Stillstellung der "Ungeduldigen"

In jedem Fall aber sind sie schuldig: Friedensaktivitäten, Ökologie, Reden mit Petra Kelly und Gert Bastian, freche Lieder singen, Satire ungenehmigt auf der Bühne, Biermann gut finden, Günter Kunert und Sarah Kirsch, Erich Loest auch, der so lange saß - das geht nicht, ist ein Verbrechen. Das steht im Zentralorgan. Dann Haft, bis zu zwölf Jahren, dann raus in den Westen, dann auch noch schweigen. Reden sie, sind sie schuldig: an der Haft der anderen. Widersprechen sie der offiziellen Version, gefährden sie das Humanitäre und schaden vor allem der Verhandlungsposition derer, die sie wirklich schützen wollen.

Die Rechtsanwälte und Kirchenvertreter bekommen es ab, ihr Spielraum verengt sich, auch ihre Angst. Und Rechtsanwalt Schnur hat Angst, um sich selbst und andere, auch um seine Mandanten. Geht weg, rettet euch, widersprecht nicht, wir alle sind in Gefahr! Das ist das Kennzeichnende der Situation. Sie wird hergestellt und weitergegeben an die anderen, vor allem die Opfer. Wenn diese aus der Opferrolle herauswollen, zum Beispiel sagen, was jeder weiß in jedem Land der Erde: "Freie Entscheidungen gibt es nicht in Erpressungssituationen", werden sie dafür attackiert. Auch von ihren Verbündeten, weil diese in Bedrängnis geraten. Und warum geraten sie in Bedrängnis? Weil die Befehlshaber gekränkt sind, weil der "General" sauer ist oder seine Außendarstellung gefährdet sieht. Folge: Rechtsanwalt Vogel legt sein Mandat nieder, "nichts geht mehr". So geht es nicht. Das soll ausgedrückt werden. Das Erziehungsprogramm läuft bis zum nächsten Zeitpunkt, dem Einlenken oder Stillwerden der "Ungeduldigen". Alle sie haben Familien, wollen raus, auch Transit fahren und nicht immerzu für möglich halten, was die Jungs in den Anoraks schon tun werden, wenn sie dürfen oder sollen. Alle wissen, was läuft, man darf es nur nicht sagen. Nicht öffentlich ausdrücken. Diese Macht, die Schriftsteller drangsaliert und junge Leute verhaftet, weil sie verreisen wollen und Rosa Luxemburg gut finden auf ihre Weise, darf nicht länger so viel (und akzeptierte) Macht haben hier und dort.

Es gibt einen Weg

Die Inhaftierten müssen sofort aus dem Gefängnis raus. Es gibt auch einen Weg, er ist nicht utopisch: "Zu wünschen ist den Mächtigen die baldige Einsicht, dass sich gesellschaftliche Konflikte nur mit Feinfühligkeit und Geduld lösen lassen und dass Gewalt nur neue Konflikte schafft", so Günther de Bruyn, ein in der DDR lebender Autor, in seinem Appell aus diesen Tagen. Die jetzt gesuchte "Alternative" ist die "Linie" von de Bruyn, Stefan Heym und Christa Wolf, der DDR-Nationalpreisträgerin 1987: "Toleranz muss wachsen. Die kulturpolitischen und ökologischen Fragen, die überall laut wurden, waren an die dafür zuständigen Stellen gerichtet. Geantwortet haben aber nun andere Behörden, und die wählten anstelle des Gesprächs, dem sie sich offensichtlich nicht gewachsen fühlen, die Gewalt (...)" Das Zitat von Rosa Luxemburg benennt aber genau das Problem: "Wer Ehrlichkeit will, darf sie nicht unterdrücken; wer das lebendige Wort im politischen Dialog und in der Kunst schätzt, muss dessen Unabhängigkeit gewährleisten; wem an Kreativität zum Nutzen der Gesellschaft liegt, muss diese wachsen lassen, und besonders die Jugend braucht Freiraum dazu und nicht Gängelei" (de Bruyn, Februar 1988).

Das ist gut. Das ist die "Linie". Das sind die "Kräfte der Vernunft", ihr Dialogpartner von der SPD! Das ist der einzige Weg, der den Inhaftierten schnell und wirklich human helfen kann. Auch er ist ein Kompromiss, allerdings keiner, bei dem die Opfer schuld sind.

aus: taz, Ausgabe 2426, 06.02.88

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