Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung

I. Am 13. August 1961 wurde die Teilung Berlins, Deutschlands und Europas offenkundig. Die sich durchsetzende Einsicht in diese Realität ermöglichte die Entspannungspolitik der siebziger Jahre auf Regierungsebene. In der DDR ging die Entspannung jedoch zunehmend einher mit einer Politik der Abgrenzung, an deren Folgen unser gesellschaftliches Leben schwer und viele, die weggehen, meinen: tödlich erkrankt ist. Die Isolation der nachwachsenden Generation vom Leben ihrer internationalen Mitwelt bildet nach sechsundzwanzig Jahren Mauer und nach sechs Jahren Trennung von Polen den Nährboden für Zerr und Feindbilder. Unser alltägliches Leben droht in einer nur schwer aufzubrechenden Enge zu verharren. Praktizierte Abgrenzungen stehen der Bildung von Vertrauen zwischen den Menschen und Völkern entgegen. Die jüngsten sowjetischen Friedensvorschläge schließen jedoch ausdrücklich die notwendige Förderung von Begegnungen und Verständigung der Menschen verschiedener Staaten und Gesellschaftsordnungen ein. Der in unserem Land begonnene Prozess der kontrollierten Öffnung nach außen geht in diese Richtung. Er braucht neue Anstöße unsererseits.

II. Im Rahmen des KSZE-Prozesses ist die Vertrauensbildung, verstanden als ein Vorgang zwischen souveränen Staaten, mühevoll in Gang gekommen. Wirklich gelingen wird sie aber erst dann, wenn alle Bürger der verschiedenen Staaten in einen freien Dialog treten können. Auch christlicher Glaube sucht heute nach Wegen grenzüberschreitender Solidarität. Hier wurzelt für uns das Friedenszeugnis unserer Kirche (Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung). Doch wer das Abschreckungsprinzip ablehnt, muss auch dazu aufrufen, die den Dialog behindernden Abgrenzungen zu beseitigen. Nur so wird Friedenspolitik wirklich glaubwürdig und unumkehrbar. Ein grundsätzliches Wort aus christlicher Verantwortung tut not.

III. Wir bitten die Synode, die Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung auszusprechen. Im Einzelnen bitten wir die Synode, jetzt öffentlich einzutreten für

- die volle Wiederherstellung der Reisemöglichkeiten zwischen Polen und der DDR entsprechend der Praxis von 1972-1980,

- die öffentliche Thematisierung einer anzustrebenden Freizügigkeit zwischen den sozialistischen Staaten Europas,

- die rechtlich garantierte Reisefreiheit in westliche Länder für alle DDR Bürger unabhängig von Alter, beruflicher Stellung, familiären Anlässen und politischer Einstellung,

- die Offenlegung und gesellschaftliche Diskussion der wirtschaftspolitischen, speziell finanzwirtschaftlichen Probleme im Blick auf die Reisepraxis gegenüber westlichen Ländern,

- die Aufhebung politisch begründeter Einreiseverbote für Personen aus dem Ausland einschließlich ehemaliger DDR Bürger,

- ein öffentliches Gespräch über gesellschaftspolitische Veränderungen, die geeignet sind, ehemalige Bürger der DDR zur Rückkehr zu motivieren,

- die unverzügliche Einführung von Begründungen im Fall der Ablehnung von Reiseanträgen,

- eine Diskussion über die Einführung arbeitsrechtlich verankerter Garantien, sich gegen Kontaktverbote und meldepflichten im Blick auf Personen aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet verwahren zu können,

- den kirchlichen Verhandlungsgrundsatz gegenüber dem Staat: Die ökumenische Reisepraxis muss vorrangig Sache der Gemeinden werden,

- die geistliche Problematisierung der Tatsache, dass die Behandlung der ökumenischen Kontakte als Dienstreisen die Kirche Christi zu einem Betrieb macht.

IV. Die Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung und das Einstehen für diese Forderungen können helfen, unser Leben aus verengten Perspektiven herauszuführen. Erst dann werden wir unsere Existenz nicht mehr als bevormundet und zweitrangig erfahren, sondern uns als freie und mündige Bürger betrachten.

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