Aussagen vor der Volkskammerwahl
Marion Seelig, Medienreferentin der Initiative
Wann und wie steht die deutsche Einheit auf der Tagesordnung?
Die Vereinigung steht für uns im Grunde nicht auf der Tagesordnung. Wir sehen eine Entwicklung in Richtung einer Vertragsgemeinschaft mit zwei Staaten einer Nation, bei gegenseitiger staatlicher Anerkennung. Dieser Punkt erscheint uns besonders wichtig in Anbetracht der Probleme, die beispielsweise bei bedingungsloser Übernahme des Rechtssystems der Bundesrepublik entstehen würden. Wir trennen durchaus die ökonomischen Fragen wie Zusammenarbeit, Kreditierung usw. von der Vereinigung.
Welche außen- und innenpolitischen Bedingungen sehen sie für eine Vereinigung beider deutscher Staaten?
Unseren Ausgangspunkt habe ich schon genannt. Als entscheidend in der deutschen Frage betrachten wir das Verhältnis zu den Nachbarn, insbesondere zu Polen. Dieses Land gehört mit an den Verhandlungstisch. Klar ist auch die Tatsache, dass die militärischen Blöcke gegenstandslos werden müssen, wenn es tatsächlich zu einer Vereinigung kommt.
Grundsätzlich spricht sich die VL gegen eine übereilte Vereinnahmung aus. Darum ist auch die Währungsunion als erster Schritt unmöglich. Wir brauchen Wirtschaftssanierung, soziale Absicherungen, damit nicht über die Hälfte unserer Betriebe bankrott macht und die Leute auf die Straße setzt. Währungsunion bedeutete außerdem Aufgabe der Souveränität der Staatsbank, mit der Folge, dass es keine wirtschaftliche Souveränität mehr gäbe.
Was bringt die DDR an Werten in den Einigungsprozess ein, wie können sie geschützt werden?
Wir haben Chancen, in diesem Land echte Demokratie zu entwickeln, ein basisdemokratisches Element einzubringen, das dem rein parlamentarischen System überlegen sein könnte. In Betrieben und Wohngebieten, überall muss die tatsächliche Mitbestimmung der Menschen über ein Rätesystem gesichert werden. Wir schaffen jetzt neue Gesetze, von denen auch die BRD profitieren könnte. Zum Beispiel das Gewerkschafts- und das Mediengesetz.
Wenn schon Vereinigung, dann nur nach der Anerkennung der DDR und damit ihrer Rechtslage. Ansonsten würden sich alle ehemaligen Eigentümer hier wieder einfinden.
Die Gespräche führte
Bettina Urbanski
aus: Berliner Zeitung, Jahrgang 46, Ausgabe 45, 22.02.1990. Die Redaktion wurde mit dem Karl-Marx-Orden, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Orden "Banner der Arbeit" ausgezeichnet.