Michael Mäde, Vereinigte Linke:

PDS-Wahlprojekt ist keine taktische Option

Es ist nur wenige Wochen her, da wurde auf der Erneuerungskonferenz der PDS laut darüber nachgedacht, ob der Begriff Erneuerung überhaupt noch zutreffend sei. Schließlich habe man mit der alten SED nichts mehr gemein.

Die illegale Finanztransaktion hat schlagartig sogenanntes "altes Denken" offengelegt und Demokratie-Defizite zutage gefördert. Man hatte ein Bild von sich entworfen, welches viele Widersprüche zur Realität aufwies. Für Konflikte geisterte der Zauberspruch: "Nach den Wahlen klären wir das schon..." umher. Auch mancher Bündnispartner der PDS verschob Widerspruch und Befremden mit dem Hinweis auf die Wahlen. Als viele GenossInnen anfingen, an das Bild zu glauben, wurde die Partei von der Geschichte eingeholt.

Das Entsetzen darüber ist ebenso verständlich wie einer wirklich politischen Reaktion hinderlich. Die große Enttäuschung vieler Menschen signalisiert eine unzutreffende Einschätzung des Erneuerungsstandes der Partei. Der entstandene Handlungsbedarf sollte nicht in erster Linie mit Blick auf die Wahlen ausgefüllt werden. Vielen GenossInnen ist klargeworden, dass dies sehr wahrscheinlich die letzte Chance dieser Partei ist.

Es ist jetzt besonnenes Handeln zur Erneuerung der PDS nötig. Dazu gehören Verständigung über den politischen Grundkonsens, die Herausarbeitung von Differenzen; dazu gehört eine durchgreifende Regelung der Parteifinanzen ebenso wie ein grundlegendes Überdenken der innerparteilichen Strukturen. Aber es hat keinen Sinn, in Hysterie zu verfallen und mit scheelem Blick auf die Wahlen wieder zwei Schritte in der Öffentlichkeitsarbeit und nur einen (zögerlichen) in der Erneuerung der Partei zu gehen. Mit moralischer Argumentation sind die tiefer liegenden politischen Probleme, die bis zum Selbstverständnis als Partei gehen, nicht zu lösen. Absurd ist es, jetzt auf den Parteivorsitzenden munter drein zuschlagen. Die meisten GenossInnen waren sehr froh, dass mit ihm der Entertainer der Partei verbunden war, und viele haben in den Wahlkämpfen geholfen, Gregor Gysi in diese Rolle zu schieben.

Es ist unbestreitbar, dass Präsidium und Parteivorstand (damit wesentlich auch der Vorsitzende) einen wesentlichen Teil der politischen Verantwortung für die Krise der Partei tragen. Ebenso unstrittig ist, dass die ErneuerInnen in der Partei viel zu lange sich politisch haben neutralisieren lassen. Es wurde versäumt, die Frage der Parteifinanzen politisch zu lösen. Vorrangig galt: Was kann man für die Partei retten? und nicht: Was kann man für die LINKE retten?

Ja, es bleibt jetzt nur ein radikaler Schnitt. Doch damit ist es nicht getan. Es muss die Verantwortlichkeit für die verbleibenden Mittel der Partei geregelt werden, bei substantieller Mitbestimmung der Basis. Politische Konsequenzen aber müssen viel weiter reichen. Es ist meine feste Überzeugung, dass man der Auseinandersetzung zu wesentlichen Fragen des Parteiverständnisses und des Selbstverständnisses als Oppositionskraft, des Verhältnisses der Partei zum bürgerlichen Parlamentarismus nicht länger ausweichen kann.

Die unabhängigen Linken im Osten, die an dem Wahlprojekt LINKE LISTE/PDS beteiligt sind, haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass für sie dieses Projekt keineswegs eine taktische Option war und ist. Demzufolge steht für die Mehrheit von uns ein Ausscheiden aus dem Bündnis in dieser kritischen Situation nicht zur Debatte. Wir haben uns nie Illusionen über den realen Zustand der PDS gemacht. Unsere Schlussfolgerung kann nur lauten: mit den ErneuerInnen verstärkt zu kooperieren und Diskussionspunkte offen und öffentlich zu benennen. Wir haben gemeinsam mit unseren Freunden im Westen darüber nachzudenken, wie eine Zusammenarbeit nach den Wahlen und unabhängig von ihrem Ausgang aussehen könnte. Wir werden wie zuvor versuchen, an der Auseinandersetzung von Sachfragen die kompromisslose Abgrenzung von konservativen Kräften in der PDS zu suchen, und wir bekennen uns ausdrücklich zu einer kritischen Solidarität, die sich mit dem praktischen Handeln deckt. Die Bedrohung, in die sich die Partei gebracht hat, ist real. Die Linken innerhalb und außerhalb der PDS tragen gemeinsam Verantwortung dafür, dass nicht eine dahinsiechende PDS zum Bremsklotz im Umformierungsprozess der deutschen Linken wird.

Neues Deutschland, Sa. 10.11.1990

Δ nach oben