Ein dritter (Holz-) Weg?

Stereotyp wiederkehrende Argumente der letzten Wochen waren: "Keine neuen Experimente!" und "Übernahme des bewährten Systems der Marktwirtschaft!".

Ein Experiment wäre es zweifellos, eine Gesellschaft aufzubauen, in der Tiefschlag gegen den Menschen nebenan und weiter weg untersagt ist. Das hat es bisher noch nicht gegeben, auch wenn die "Fraternité" sowohl in der Großen Französischen Revolution als auch der Oktoberrevolution auf den Fahnen stand. Ist damit die Undurchführbarkeit dieses Ideals bewiesen?

Verständlich ist, dass viele Leute das Bedürfnis haben, in Wohlstand und geordneten Verhältnissen zu leben. Dieses Ziel sehen sie durch eine Vereinigung mit der BRD und Übernahme des dort herrschenden politischen und ökonomischen Systems, das sich offenbar "bewährt" hat, in greifbarer Nähe. Der Kleinbürger wollte schon immer gesicherte Verhältnisse, zumindest für sich selbst. Wenn es anderen schlechter geht, liegt es sowieso an deren Faulheit, und wenn irgendwo in finsteren Gegenden der Welt die Völker aufeinanderschlagen, ist es einfach, dies genüsslich vor dem Fernseher zu verfolgen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, inwieweit man selbst daran schuld ist.

Wie bewährt ist eine Gesellschaft, die sich selbst als Zwei-Drittel-Gesellschaft bezeichnet, also ein Drittel von vornherein ausschließt? Für einen Wahlsieg sind zwei Drittel ja auch ausreichend, und worauf kommt es sonst noch an?

Wie bewährt ist eine Gesellschaft, in der faschistische Gruppen und Parteien ungehindert wirken können, während Friedensdemonstranten gerichtlich verurteilt werden und Demokraten Berufsverbote kriegen?

Wie bewährt ist eine Gesellschaft, die trotz Weltspitzenwerten bezüglich der Arbeitsproduktivität nicht in der Lage ist, die natürliche Reproduktion der Natur zu gewährleisten?

Wie bewährt ist eine Gesellschaft, deren Wohlstand auch darauf beruht, dass vier Fünfteln der Weltbevölkerung keine Chance gegeben wird, zumindest die lebensnotwendigen Bedürfnisse zu befriedigen?

Statt eine umweltverträgliche Industrie aufzubauen, wird "Öko-Technologie" der Schadensbegrenzung zu einer neuen Gewinnquelle, die der Steuerzahler finanziert.

Diese Fragen (und viele andere) kann man auch der Gesellschaft stellen, die hier vierzig Jahre unter dem Firmenzeichen Sozialismus lief. Aber dass dieses Modell sich nicht bewährt hat, kann unterdessen kaum noch jemand bestreiten. Bei der westlichen Alternative ist das nicht so leicht erkennbar.

Also ein dritter Weg?

Dieser ist unannehmbar für alle,

- die zu bequem sind, sich selbst Gedanken zu machen, da sie es gewohnt sind, einer vorgefertigten Anschauung hinterherzulaufen, egal, wie diese sich nennt,

- denen ihre Filzpantoffeln mehr wert sind als eine lebenswerte Welt für ihre Kinder und Enkel

- denen es gleichgültig ist, wie viele Menschen auf der Welt täglich verhungern, solange ihre Katzen hochwertiges Futter kriegen. Experimente haben es so an sich, dass man zwar Hypothesen über ihren Ausgang anstellen kann, aber keine Garantie für das Gelingen hat. Wer das fürchtet, muss zu der sicheren, bewährten Lösung Zuflucht nehmen, die eine Krise der Menschheit gewährleistet. Todsicher!

Bevor die Leipziger Gruppe Renft in den siebziger Jahren verboten wurde, sang sie in einem ihrer Lieder: "Revolution ist das Morgen schon im Heute, ist kein Bett und kein Thron für den Arsch zufriedner Leute."

Genau!

Jens K(...)

aus: freie presse, Nr. 43, 20.02.1990, 28. Jahrgang, Karl-Marx-Stadt

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