Rede von Lutz G(...) von der Vereinigten Linken (Böhlener Plattform)
Liebe Leipzigerinnen und Leipziger!
Während wir uns hier versammeln, versammeln sich in Paris die Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft, um über die DDR zu beraten. Thyssen bietet an, die DDR in fünf Jahren aufzupäppeln. Ein Marshall-Plan soll her. Doch niemand denkt, leider auch Hans Modrow nicht, bei diesem notwendigen Sanierungsprogramm an die demokratische Mitbestimmung der Werktätigen, an die demokratische Kontrolle über ihr Eigentum. Schließlich haben die Werktätigen Leipzigs die Wende erzwungen. Sollen sie durch den beginnenden Sozialabbau die Zeche für eine verfehlte Wirtschaftspolitik bezahlen? Sollen sie jetzt den Gürtel enger schnallen, um die 15 Milliarden Haushaltsdefizit auszugleichen? Sicher, wir brauchen die angestrengte Arbeit eines jeden. Aber wir brauchen endlich auch wirkliche demokratische Kontrolle und Selbstverwaltung in den Betrieben. Damit nicht schon wieder Leute, die kein Mandat des Volkes haben, die Richtlinie der Politik bestimmen, deshalb müssen wir uns an die alten Traditionen der Arbeiter erinnern und Betriebsräte bilden, die über die Wirtschaftspolitik mitentscheiden in den Betrieben und Kombinaten und die über einen Kongress der Betriebsräte auch die Politik der Regierung kontrollieren. Wir müssen unser durch die Verfassung gesichertes Volkseigentum endlich wirklich in Besitz nehmen. Alle, die Manager von Thyssen und Sanyo, die Wirtschaftsexperten der Regierung und die Werktätigen gehören an den "Runden Tisch". Erhalten wir unsere auch von allen westlichen Freunden gelobten Vorzüge: den Gemeinschaftssinn, die Kommunikationsfreudigkeit, die Toleranz, den Mut. Gerade wir Leipziger haben ihn am 9. Oktober bewiesen. Die sächsische Gemütlichkeit und unseren langen Atem bei den Demonstrationen am traditionellen Montagabend. Lassen wir uns nicht von Coca-Cola, McDonald und Micky Mouse kaufen! Lassen wir uns nicht von demokratischen Parolen und einer Wirtschaftsreform, die nur von den Experten gemacht werden soll, einschläfern. Neue Köpfe sind gut, aber vor allem müssen neue Inhalte und wirklich demokratische Strukturen her. Hoffen wir nicht auf einen Erlöser oder Revolutionär von oben, ob er nun Krenz oder Modrow heißt. Nehmen wir endlich die Sache selber in die Hand. Bei den Demos, bei den Dialogen und in den Betrieben. Wir alle müssen gegen den alltäglichen Stalinismus, der sich erneuern will, Sozialismus endlich gemeinsam definieren. Wir brauchen keine Rederepublik, wir brauchen eine Räterepublik! Die wirklich revolutionären Kräfte in der SED werden daran gemessen werden, ob sie für neue demokratische Strukturen und vor allem, ob sie für die reale Verfügungsgewalt der Werktätigen über ihr Eigentum kämpfen.
Liebe Leipzigerinnen und Leipziger!
Wir leben in unserer Stadt zusammen mit vielen tausend ausländischen Bürgern. Wir erleben aber auch, wie sie im Alltag diskriminiert werden beziehungsweise durch eine verfehlte Politik der Stadtväter in Gettos gesperrt worden sind. Ebenso erleben wir täglich den immer stärker werdenden Terror offen neofaschistischer Kräfte. Der Stalinismus hat durch die Entmündigung des Volkes diese Haltung mit hervorgebracht und begünstigt. Wirklich neues Denken bedeutet, unseren alltäglichen Faschismus gegenüber den ausländischen Mitbürgern endlich zu überwinden und sie in unser Gemeinwesen einzubinden. Wirklicher Kampf gegen den Stalinismus bedeutet auch konsequenter Kampf gegen Neofaschismus! Wirkliches neues Denken heißt: den wirklichen Gegner erkennen und alle revolutionären Kräfte in den Prozess des demokratischen Wandels einzubeziehen. Auch die progressive Basis der SED. Einen wirklich neuen, demokratischen, freiheitlichen und sozialistischen Staat aufzubauen kann nicht heißen, sich mit einem alten Staat zu vereinen, sei er auch noch so dynamisch, bunt und verlockend. Wir sind kulturellhistorisch und zweifellos auch durch unsere Mentalität eine Nation, aber wir brauchen zwei Staaten, damit das gemeinsame Haus Europa gebaut werden kann. Danke.
[Rede gehalten auf einer Kundgebung des Neuen Forums am 18. November 1989 in Leipzig.]