Sozialistische Konkurrenz für Honecker
Die "Vereinigte Linke" organisiert 300 bis 500 Leute in autonomen Betriebs- und Universitätsgruppen GewerkschafterInnen, autonome Studentenseminare, engagierte ChristInnen und Leute von der Szene gehören zu der ersten größeren Gruppe in der DDR, die den Begriff des Sozialismus mit neuen Inhalten füllen will. Ihr erstes Ziel ist der Aufbau einer Alternativgewerkschaft - doch vorerst arbeiten sie noch - konspirativ - im FDGB. Viele sind auch Mitglieder der SED, die sie als Bündnispartnerin betrachten. Um seine Arbeit nicht zu gefährden, kann die taz den Interviewpartner nicht namentlich nennen.
taz: Wie viele Leute arbeiten in der "Vereinigten Linken" mit, die Anfang September in Böhlen ein Positionspapier zur weiteren Entwicklung der DDR vorgelegt hat?
N.N.: Genaue Zahlen hab ich nicht. Man kann aber davon ausgehen, dass die einzelnen Gruppen, in denen jeweils zwischen zehn und 20 Leute aktiv arbeiten, zusammen ein aktives Potential zwischen 300 und 500 Leuten umfassen, im Augenblick. Ich denke aber, dass nach der Veröffentlichung unseres Papiers, noch mehr zu uns stoßen werden. Zu diesen einzelnen Gruppen zählen autonome Studentenseminare, Aktivgruppen, die in den Betrieben Gewerkschaftsarbeit machen, genauso wie Szenevertreter und engagierte Christen.
Wie sieht das Kräfteverhältnis in eurem Spektrum aus, überwiegen da die Intelligenzler?
Das ist eben nicht der Fall. Versuche, Arbeiter aus den Betrieben, Studenten und Akademiker an einen Tisch zu holen, haben wir schon vor längerer Zeit unternommen. Das scheiterte zunächst. Den Intelligenzlern wurde vorgeworfen, dass sie keine Ahnung hätten von der Praxis. Und umgekehrt wurde den Werktätigen vorgehalten, dass sie unter einem akuten Theoriemangel litten. Jetzt scheint es uns gelungen zu sein, beide zusammenzuführen. Allerdings müssen wir unsere Ziele noch immer populärer formulieren, an der Sprache krankt es noch sehr.
Im Unterschied zu den anderen oppositionellen Gruppen, die in den letzten Wochen in der DDR an die Öffentlichkeit getreten sind, habt ihr schon ein ziemlich ausgefeiltes wirtschaftliches und gesellschaftspolitisches Programm. Wie steht ihr zu den anderen oppositionellen Gruppen, gibt es da Kontakte?
Zunächst gehe ich davon aus, dass es in der DDR noch keine klare Opposition gibt. Die üblichen Pauschalforderungen der Szene, Reise- und Pressefreiheit, Einschränkung der Repressionen und öffentliche Diskussionsmöglichkeiten bieten allenfalls eine Grundlage zur Bildung einer Opposition. Bisher hatte ich deshalb Schwierigkeiten mit der Titulierung "Opposition" bei uns. Jetzt, in der Vielzahl der Neugründungen, scheint die Etablierung einer Opposition möglich. Das "Neue Forum" glaube ich, hat eine Chance, flächendeckend zu arbeiten. Ich selbst habe Vorbehalte dieser Gruppierung gegenüber. In ihr sammeln sich, das sieht man ja schon an den Erstunterzeichnern, so heterogene Positionen, dass es im Vorfeld schon unmöglich wird, gemeinsame Zielvorstellungen zu entwickeln oder sie wieder in den üblichen Pauschalitäten ersticken werden.
Das "Neue Forum" versteht sich doch aber explizit als eine Sammlungsbewegung, die es erst einmal ermöglichen soll, durch vereinte Kraft Voraussetzungen für die Arbeit unterschiedlicher politischer Orientierungen in der DDR zu schaffen. Eine anschließende Ausdifferenzierung schließt es doch nicht aus?
Wenn es dem Anspruch, eine öffentlich legitimierte Streitplattform zu sein, gerecht wird, wäre ich der letzte, der sich an dem Disput nicht beteiligen würde. Nach außen tritt es aber so auf, als wolle es trotz der Heterogenität ein gemeinsames Programm entwickeln. Da bin ich skeptisch. Außerdem sammeln sich da auch die "Medienhaie", die in der Lage sind, die Ausrichtung dieser Gruppe zu beeinflussen. Wir haben daher die Befürchtung, verheizt zu werden und uns dem Medienmonopol unterordnen zu müssen.
Werdet ihr am 2. Oktober an der Veranstaltung teilnehmen, die sich einen übergreifenden Zusammenschluss aller oppositionellen Kräfte zum Ziel gesetzt hat?
Hier werden zunächst alle Vertreter der Szene zugegen sein, die bisher schon in Erscheinung getreten sind. Darüber hinaus - und dazu zählen wir auch - gibt es Gruppen, die sich in der Tagespolitik nicht spektakulär zu Wort gemeldet haben. Ihr Aktionsradius bestand darin, in den Betrieben Vertrauensarbeit aufzubauen, konkret Gewerkschaftsarbeit mit neuen Zielsetzungen vorsichtig anzugehen.
Wie sieht diese Gewerkschaftsarbeit aus, und wo findet sie statt?
Das ist unterschiedlich. Angefangen beim Sammeln vieler Details, um konkrete Alternativen für die Produktion der Betriebe zu entwickeln. Die Frage nach den konkreten Produktionsverhältnissen ist zentral für uns. Bis hin zu sozialen Fragen der Humanisierung der Arbeitswelt. Natürlich diskutieren wir auch generell Reformperspektiven in unserem Land: Was hieße das, wenn es sofort zur Öffnung bei uns käme? Bei einer fundamentalen Öffnung müssen wir damit rechnen, dass es zu einem starken Rechtsruck kommt. Dafür haben die Herrschenden den Sozialismus zu sehr diskreditiert. Viele Werktätige haben mit dieser Form des Sozialismus gebrochen. Für uns heißt das, wir müssen den Begriff mit neuen Inhalten füllen. Wir diskutieren daher Konzepte der Sozialpolitik und veränderter Planungszusammenhänge. Was bedeutet Eigenfinanzierung der Kombinate? Wie kann man die Kompetenzen der staatlichen Plankommissionen einschränken? Wer wird die Entscheidungsbefugnisse beim Abbau der zentralen Verwaltung in den Händen haben? Sind es wieder die Technokraten und alten Betriebsleiter die natürlich auch ein Interesse an mehr Entscheidungsgewalt hegen, um ihre Machenschaften fortzusetzen? Dem setzen wir ein Konzept von Betriebsräten entgegen. Was die Effektivierung der Arbeit angeht, müssten bei uns viele Betriebe zumachen. Wir befassen uns mit der Frage, was geschieht mit den Arbeitslosen, die es auf jeden Fall geben wird?
Woher stammen ursprünglich diese Initiativen?
Sehr unterschiedlich. Zum einen aus Gewerkschaftsorganisationen und SED-Zirkeln, die nach einer Zeit angefangen haben, sich intensiver mit der Geschichtsaufarbeitung und den Klassikern zu befassen. Die meisten von ihnen stehen sehr weit links, sind schon für eine Einheitsgewerkschaft, aber nicht für den FDGB. Sie stellen sich nicht gegen die Gewerkschaft als Transmissionsriemen der Partei, aber weisen darauf hin, dass ein Rädchen davon ein entgegengesetztes Drehmoment hat. Das Allernotwendigste ist, einen Alternativgewerkschaftsverband zum FDGB ins Leben zu rufen. Daran arbeiten wir. Selbst wenn sich der FDGB veränderte, bliebe er durch seine alten Strukturen vorbelastet. Daneben denken wir darüber nach, eine Art Gewerkschaftsjugendbewegung zu beleben. Es ist eine Menge konkreter Arbeit, die die Leute leisten, und daher können ihre Aktionen nicht spektakulär sein, ja müssen sogar konspirativ bleiben. In vielen Großbetrieben sind sie ganz erfolgreich, und wenn es nur darum geht, einfach bestimmte Diskussionen dort in Bewegung zu bringen, Nachfragen zu stellen und die Abteilungsgewerkschaftsleitungen in die Zange zu nehmen. Angefangen bei den Schulden des Betriebes über den Lohnfonds bis hin zu den Neueinstellungen reichen die Aufgaben. Zu solchen Fragen haben die anderen Szene-Oppositionellen keine Position. Für viele von diesen Gruppen ist die Friedensbewegung einfach zu reaktionär. Sie betreibt teilweise einen Ausverkauf an den Westen. Dazu zählt so was wie Bekenntnisse zur Wiedervereinigung. Das sind genauso unsere Gegner wie die Politbürokratie.
Im Unterschied zu den anderen Gruppen hat sich euer Papier gegen die Entwicklungen in Polen und Ungarn abgegrenzt, sie sogar zum Vorwand genommen, um diesen Entwicklungen in der DDR prophylaktisch vorzugreifen.
Der DDR geht es wirtschaftlich noch nicht so schlecht. Ginge sie den Weg Ungarns oder Polens, hätte die DDR ihre Existenzberechtigung als zweiter deutscher Staat verloren. Die Linken hier haben keineswegs ein Interesse an einer Wiedervereinigung, denn sie gehen davon aus, dass es hier eine Reihe von sozialen Errungenschaften gegeben hat, die es nach Möglichkeit zu wahren gilt. Diese können nur gehalten werden auf der Grundlage eines Übergangsprogramms mit sozialistischer Tendenz. Alle Linken sind sich einig, dass die alte stalinistische These vom Sozialismus in einem Land überholt ist. Von daher ist ein konkret sozialistisches Programm vorerst nicht möglich. Wir müssen die Form eines Übergangsprogramms für eine Übergangsgesellschaft entwickeln.
Was sind die Essentials eines solchen Übergangsprogramms?
In unserem Papier ist die Rede von Eigenerwirtschaftung der Mittel in den Betrieben neben Verstaatlichung und einem privaten Sektor, der aber nur auf Eigenarbeit beruhen darf, also ohne Angestellte. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen darf nicht zugelassen werden.
Zur Steigerung der Produktivkraftentwicklung bemühen sich die anderen osteuropäischen Länder um Kapitalanleihen im Westen. Wie steht ihr dazu?
An solchen Punkten gehen die Meinungen in der Tat auseinander. Als Problem wird definiert: Es gibt demnächst den EG-Binnenmarkt und kein Integrationsmodell des RGW. Die DDR kann sich nicht selbst versorgen, ist auf Handel angewiesen. Daher muss auch sie dem Weltmarkt Rechnung tragen.
Kommt die SED für euch noch als Bündnispartner in Frage?
Natürlich. Sie käme nicht nur in Frage. Ich bin felsenfest überzeugt: Wesentliche Veränderungen in unserem Land gehen nicht ohne sie. Wer das übersieht, hat Illusionen oder will ein bürgerlich-parlamentarisches System. Ein ganz wesentliches Moment in dieser Diskussion muss sein, was die SED bisher nicht geleistet hat: den Sozialismus in der DDR wieder mit visionären Vorstellungen zu füllen.
Wenn ihr von einem Programm für eine Übergangsgesellschaft sprecht, ist das doch aus parteimarxistischer Sicht erst mal ein Schritt zurück. Ihr verabschiedet euch von der "Gesetzmäßigkeit" in der Geschichte, um den Sozialismus nicht auf immer und ewig zu diskreditieren. Welche Konsequenzen erwachsen daraus für die Struktur des zukünftigen politischen Systems, und wo werden sich nach Preisgabe der monolithischen Struktur die divergierenden gesellschaftlichen Interessen repräsentieren können?
Das Einparteiensystem ist kein konstituierendes Moment einer sozialistischen Gesellschaft. Nirgends bei Marx lässt sich das finden, selbst Lenin hatte ein differenziertes Verhältnis dazu. Ein Mehrparteiensystem bei uns ist bitternotwendig, aber auf der Grundlage einer Verfassung, die geprägt ist von einem freiheitlich demokratischen Sozialismus. Das lässt sich erarbeiten. Alle stimmen einem Mehrparteiensystem bei uns zu, welche Rolle die Parteien spielen werden, darüber gibt es allerdings divergierende Auffassungen, ob Rätesystem, Parlamentarismus oder Kommune, da gibt es Streit.
Warum seid ihr die einzigen, die ihr Positionspapier nicht namentlich unterzeichnet haben. In eurer politischen Tradition steht ihr doch der SED näher als die anderen Gruppen?
Das sehe ich nicht so. Unser Konzept bildet eine viel größere Gefahr für die Erhaltung vorhandener Machtstrukturen. Eben weil an der SED-Basis, in Akademikerkreisen und sogar bei höheren Kadern große Sympathien für unser Projekt bestehen. Schon in unserer Befürwortung eines Mehrparteiensystems bewegen wir uns weit weg von der SED. Innerhalb der SED schotten sich die ab, die von den gegenwärtigen Strukturen profitieren. Das sind auch diejenigen, die das Gewaltmonopol innehaben. Warum konspirativ? Die Gruppen in den Betrieben und innerhalb der SED, aber auch an den Universitäten haben große Bedenken sich zu früh zu weit vorzuwagen. In ihren Bereichen werden sie für konkrete Arbeit gebraucht, auch um Informationen aus der Partei und anderen Bereichen in die Gruppen hineinzutragen. Einzelne Leute haben sich ja schon hervorgewagt. Was war das Ergebnis? Man hat sie nicht einfach brotlos gemacht oder als Verräter abgestempelt, so läuft das heute nicht mehr. Nein, es wird intern geregelt, du wirst aus der Partei ausgeschlossen, was momentan sehr schnell geht, erhältst aber eine Pension, damit du ruhig bleibst. Daher wollen wir nicht, bevor die Strukturen stehen, die jahrelange Arbeit gefährden.
Hat die Veröffentlichung eures Programms zum jetzigen Zeitpunkt etwas mit der Ausreisewelle zu tun?
Mit dem Exodus hat es nichts zu tun. Dass es zu diesem Zeitpunkt kommt, ist natürlich nicht zufällig. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die in den Ausreisern Verräter sehen. Nur wenn sie sich drüben dann hinstellen und daraus ein Politikum machen, womit sie bestimmte Interessen der BRD stützen, dann stört mich das. Ich würde es mir aber auf keinen Fall anmaßen, so zu reagieren wie die Bonzen hier. Jeder soll seinen Pass bekommen und fahren können.
aus Taz, 23.09.89, Ausgabe 2918