Worauf es bei den Wahlen ankommt
In wenigen Tagen ist es soweit.
In der DDR finden die ersten freien, gleichen und geheimen Wahlen statt. Es besteht die Gefahr, dass es die ersten und die letzten sind. Schon allein deshalb, weil es die DDR nach dem Willen der Mehrheit, zumindest der Mehrheit der sich zur Wahl stellenden Parteien, lieber heute als morgen nicht mehr geben soll.
Die Umfragen, sicher zum Teil auch zur "Stimmungsmache" erstellt, signalisieren eine Gefahr doch recht deutlich: Eine Mehrheit von zwei Dritteln der Sitze im Parlament für die von Kohl gesteuerte Allianz und die politisch äußerst heterogene SPD ist eine reale Gefahr für den demokratischen Prozess in der DDR geworden. Was wäre schon für die DDR von einer Koalitionsregierung zu erwarten, die ihr vordringliches Ziel darin sieht, den Staat, den sie zu führen den Auftrag hat, möglichst schnell verschwinden zu lassen? Und wie sähe eine neue Verfassung aus, die gleichsam von der Mitte bis rechtskonservativ allein geschrieben und auch allein im neuen Parlament durchgebracht werden könnte? Dabei ist hier lediglich die Frage offen, ob es eine neue Verfassung für die DDR überhaupt noch geben würde, Herr Ebeling jedenfalls findest das alles recht unnütz und befürwortet da schon eher den raschen Anschluss, am besten gleich über Paragraph 23 des Grundgesetzes der BRD, damit man sich sicher sein kann, dass nichts Progressives aus vierzig Jahren DDR-Geschichte im neuen Staate übrig bleibt. Herrn Ebeling ist selbst der muntere Wanderschritt, mit welchem sich die CDU ins unternehmerhörige, rechtskonservative Spektrum begibt, noch zu zaghaft. Wie man Herrn Ebeling und seine Getreuen von der DSU politisch einordnen könnte, verbietet der Weitblick mir ausführlicher zu benennen (es gibt im konservativen Lager zu viele tüchtige Anwälte).
Dennoch: Die beschriebene Gefahr ist ebenso real, wie die Chance, sie zu bannen. Die Menschen in diesem Land, die der Auffassung sind, dass sie vierzig Jahre nicht nur Unsinn gemacht haben; dass sie über bittere Erfahrungen etwas errungen haben, was wert ist, gleichberechtigt in einen Prozess der deutschen Annäherung eingebracht zu werden - die Menschen, die sich hartnäckig nicht ausreden lassen, dass Demokratie mehr ist, als einmal in vier Jahren zur Wahl zu gehen, die Menschen, die da immer noch meinen, dass eine Gesellschaft nur in wirklicher Freiheit entwickelt werden kann, wenn soziale Gerechtigkeit und Solidarität herrschen - diese Menschen sollten nicht resignieren. Auch sie haben eine Stimme. Nicht nur im Wahllokal. Es ist Zeit, hohe Zeit, Resignation, Verbitterung und die schon längst wieder aufgekommene Furcht abzuschütteln.
Wir sind viele.
Uns kann man nicht abschaffen, wie vielleicht einen Staat.
Nur noch wenige Tage. Zeigen wir, dass es uns gibt. Haben wir Vertrauen in unsere eigene Kraft. So werden auch andere uns vertrauen.
Michael M(...),
Vereinigte Linke
aus: wahl aktuell März 1990