"Keine neuen Modelle mit Massenbildern"
Interview mir Dr. Reinfried M(...)
Welche Punkte machen für dich die innere Kultur der Bürgerbewegung aus? Kannst du da langfristige Entwicklungslinien benennen?
Reinfried M(...): Eine politische Kultur, die durch Alternativdenken und an der Basis funktioniert, ist historisch selten und oft von Eliten getragen worden. Ich meine nicht, dass wir jetzt riesige Massenbewegungen brauchen. Es wird immer ein großes Bürgertum im Sinne von Angestellten, Beamten, freien Berufen geben. Das hat seine Funktion in der Schichtung einer Gesellschaft. Wie sie sich politisch betätigen, welche Kulturen sie entwickeln, das ist ihre Geschichte. Das ist nicht unser Problem. Aber es gibt auch eine hinreichend große Zahl von Gesellschafts- und Gemeindemitgliedern, die eine eigne und nicht nur "punktuelle" Kultur entwickeln. Wo anders als in praktischen Versuchen, Konzepten, Netzwerken soll sie denn entstehen? Das ist eine Sphäre, die sehr klein beginnt, eine lange Zeit braucht, die aber eine Chance hat.
Das zweite Gebiet alternativer Kultur ist die Kommune, der Kiez, der Stadtbezirk: eine Wohngebiets- und Lebenskultur, wie sie um den Kollwitzplatz in Berlin herum besteht und begonnen hat. Da wird doch ein Riesenproblem der Zivilisationsgesellschaften angegangen: Die Isoliertheit innerhalb von Wohlstand, dass Anonymität, die Isoliertheit produziert, nicht notwendige Rückzugsbedingung von Leben ist. Das anzugehen in der Art von konventions- und standesschrankenfreien Räumen, wo die Leute einen lockeren Zusammenhang haben, der die Hierarchie- und Sozialprestige-Rangfolgen der (Lohn-)arbeit nicht auch noch in der Freizeit reproduziert.
Ein dritter Punkt, von dem aus eine Vision angegangen werden muss, sind linke, alternative, ökologische Unternehmen. Auch die kleinen Gemeinschaften werden nicht funktionieren, wenn sie nicht ein Mindestmaß an Organisation, Management, Rechnungsführung beherrschen. Da müssen Erfahrungen gemacht werden. Das kann attraktiv werden für junge Banker, Unternehmer. Diese "alternative" Szene als Reproduktionsraum: Man kann einen relativ stressigen und oft auch fremdbestimmten Arbeitstag so eher verkraften, als wenn man dann an den gutbürgerlichen Familientisch zurückkehrt. Und umgekehrt: Die lockere, linke, alternative Kultur braucht, glaube ich, auch Betätigungsfelder, wo straff und streng organisiert gearbeitet wird. Es muss nicht sein, dass immer nur die andere Seite die Führungskräfte stellt. Es ist eben nicht der "Weg zur Macht" über eine politische Revolution von außen, sondern Teilhabe von innen und damit Abbau von Über-Macht! Über die Funktionen, von denen Gesellschaft lebt und über die Humanisierung dieser Funktionen, was nicht heißt, sie zu desorganisieren, sondern sie human zu organisieren. Da gibt es Leistung und Leistungsbegriff, Wertung und Geld. Und es ist. ein Grundelement alternativer Kultur, dass man das kann und dass man dabei nicht kulturell kaputtgehen muss, sich nicht in eine Sucht stürzen muss.
Wenn sich Vorstellungen von neuen Lebenswelten entwickeln, sind das auch schon Konzeptionen für eine Gesamtgesellschaft oder bleibt das im überschau- und erfahrbaren Raum?
Reinfried M(...): Für die Zukunft ist es das Schlimmste, was passieren kann, wenn Modelle mit Massenbildern gemacht werden. Ich mach das immer gern an der Stadt fest: Die schönsten Städte, die ich kenne, sind gewachsen, fast ganz allein, über die Jahrhunderte. Da gab es immer mal Zeiten von Planung, aber es ist nicht so weit gekommen, dass sie das Stadtbild dominiert hat. Sie hat immer nur etwas organisiert, der Rest ist nur nach- oder zugewachsen.
Es schadet eine gesamtgesellschaftliche Dimension, die abstrakt bleibt. Die Gesamtgesellschaft wächst hauptsächlich von unten. Sie wächst viel solider von unten, als sie je von oben konstruiert und per Weisung durchgesetzt werden kann. Die Bürgerbewegungen werden wohl auch immer über eine Strategie fürs Gesamte reden müssen, aber die ist ganz verschieden von einer institutionalisierten Durchführung durch Apparate.
Ist es nicht eine Illusion, mit lebensweltlicher Initiative und Energie verkrustete Systeme verändern zu wollen?
Reinfried M(...): Stimmt denn das mit der Verkrustung? Ist das nicht nur ein abstraktes ideologisches Bild? Ich will das mal von drei Seiten hinterfragen.
Die erste Seite: Es gibt in der Produktion, also nicht in den Leitungsbereichen der Gesellschaft, in den letzten 30, 40 Jahren drastische Veränderungen. Finanzherrschaft von oben bleibt, aber Gestaltungs- und Handlungsspielräume unten werden größer. Neue Produktionskonzepte und technologische Zwänge sind schon Elemente, die dagegen sprechen, dass das System in der Lage ist, sich gegen Initiative von unten sehr wirksam zu schützen. Es hängt eben auch an der Initiative von unten, dass sich die bürgerliche Gesellschaft an ihrer produktiven Basis öffnet. Manchmal verquer, umgeleitet. Wenn Produktivität und Leistung nicht anders zu steigern sind als durch Änderung von Unternehmensideologie und Wertbegriffen, dann stellen sich auch Unternehmer damit auf Basisdruck ein. Das heißt nicht nur, Manipulation zu betreiben. Das heißt, dass Unternehmer-Funktionäre und Arbeiter in einer bestimmten Art sich gegenseitig anzuerkennen gezwungen sind.
Ich glaube eben nicht, dass das an der Starrheit der bürgerlichen Gesellschaft scheitert. Eher müsste sie eigentlich an diesen materiellen Veränderungen scheitern. Aber sie hat da schon erhebliche Flexibilität praktisch nachgewiesen.
Ist so gesehen der Charakter der Bürgerbewegungen nicht eher nachrevolutionär, weil das System der Industriegesellschaften gar nicht gesprengt werden muss, sondern flexibel und entwicklungsfähig ist? Müssen dann die Bürgerbewegungen nicht lediglich die Möglichkeiten und Spielräume ertasten, akzentuieren, mit Leben erfüllen und so die Gesellschaft transformieren?
Reinfried M(...): Ich will nur von meinen praktischen Erfahrungen aus schlussfolgern, was da revolutionär konkret ist.
Für mich ist das letzte Jahr eine Phase revolutionärer Wandlungen. Das alte System ist nicht primär und allein durch Kapitaldruck von außen zerstört worden und zusammengebrochen, sondern durch den Bürgerunwillen der Auswanderer und derer, die drinnen geblieben sind!
Wenn wachsende Gestaltungsmöglichkeiten und -zwänge in der Fertigung, Umweltdruck auf Industriekonzepte und Deblockierung des Staates nicht revolutionärer Wandel sind, dann habe ich keinen Begriff von Revolution! Eine andere Frage ist, ob es gelingt, ob nicht Widerstand von unten einfach zu spät kommt für den Zustand der Welt. Aber das wusste vor den Umbrüchen niemand, das ist immer - mindestens zeitlich - falsch eingeschätzt worden.
Verglichen mit den Bedingungen für alternative Politik vor der Jahrhundertwende wird immer klarer, dass die Führungseigenschaften des Kapitals auch die globalen Probleme nicht verhindern konnten, sondern produziert haben - dass das Kapital also die Bürgerbewegungen und alternative Politik braucht. Und schon aus der Konkurrenz heraus musste sich das Unternehmertum wandeln - auch der starre Staatskapitalismus des Ostens hat sie dazu gezwungen und die Bürgerbewegungen werden weiter wehtun.
Revolution kann natürlich nicht nur als politisch-militärische Machtergreifung einer Avantgarde verstanden werden. Aber die Subjektrolle von Bürgerbewegungen als Politikträger des nächsten Jahrtausend müsste doch noch einmal umfassender bestimmt werden!
Reinfried M(...): Allgemein steht für mich die Frage so: Welche Gestaltungsspielräume für Individuen sind durchsetzbar, das ist die Kernfrage nach der Kraft der Bürgerbewegungen. Das ist für mich der konkrete Inhalt von Revolution: In dem Maße, wie Freiheitsgrade zur Gestaltung von Verhältnissen entstehen, bestehen und ausgebaut. werden können, findet für mich Revolution statt. Das ist nicht gebunden an das Vorhandensein eines Panzerkreuzers oder an einer besonderen sozialen Notlage. Aus der notwendigen gesellschaftlichen Arbeitsteilung müssen kontrollfähige Strukturen von Leitern und Arbeitnehmern entstehen. Die Kontrolle muss von unten und im konkreten überschaubaren Betriebs- oder Wohnraum stattfinden und durch Parlamentspräsenz gestärkt werden. Wenn diese konkreten Gemeinwesen entstehen, funktionieren, ihren Mitgliedern Gestaltungsmöglichkeiten und wachsende Freiheitsgrade geben, dann ist das ein Prozess von Revolution, der nicht automatisch läuft. Er braucht vielmehr ein "buntes" Subjekt, kein ideologisches Subjekt mit einer abstrakten Zielprogrammatik. Es geht um das tägliche Leben, das durch die "Farben" der Bürgerbewegungen gut repräsentiert wird. Teilhabe an Entscheidung, Einbeziehung in Arbeit und Verantwortung für sie, Überwindung der Männervorherrschaft durch Geschlechtergleichstellung, Umwelterhalt bei Wirtschaftswachstum und entmilitarisierte Gesellschaft sind jahrtausendalte Fragen, die die Vertretungsdemokratie von Parteien bisher nicht gelöst hat. Wenn die Bürger durch diese Themen immer direkter im Alltag bedroht sind, müssen direkte politische Formen ihnen alternative Möglichkeiten des Eingriffs geben. Die gesellschaftlich anerkannte Chance muss da sein.
Die Unternehmen können da ebenso wenig Ersatzdienste leisten wie etwa der Staat. Und damit: Ich kann nicht nur über die Bürgerbewegungen reden, wenn ich Zukunft denke - ich muss über den Gegenpart, das Bürgertum, ebenso nachdenken. Es hat Fähigkeiten, Fertigkeiten, Erfahrungen und Funktionen beim Erhalt und der Entwicklung von Gesellschaft. Es geht nicht darum, sie aus diesen Funktionen zu drängen, sondern eine Kooperationsstruktur zu finden, die funktioniert. Nicht nur eine ökonomische auch eine ökologische. Ich bin ganz sicher, dass zu dem Kreis der Unternehmer und Manager auch Grüne und Linksalternative gehören werden, aber es wird der Kreis des Bürgertums bleiben.
Und ich bin sicher, dass es nicht angeht und keine Perspektive hat, die Armee durch Degradierung der Offiziere und Generäle abzuschaffen und sie in den Straßenbau zu schicken. Die Armee wird sich eine andere Perspektive aufbauen müssen und können. Die NATO hat die strategischen Farben gewechselt: Sie selbst sind nicht mehr die Blauen, sondern die Grünen und der Gegner ist nun braun. Das soll nicht überinterpretiert werden. Es ist nur zu bedenken, dass in so einer Vision einer zukünftigen Gesellschaft die Selbstreproduktion und -reformation der Systeme auch Platz haben muss. So wichtig, wie die Bürgerbewegung für die politische Bewältigung der Umweltprobleme ist, so wichtig ist die Armee für die organisatorische Bewältigung. Die Generäle werden ihren Ruhm dadurch erneuern können, dass sie mit Umwelteingreiftruppen Katastrophen vorbeugen und abwehren können. Und sie werden bei Erfolg hochgeachtete Leute sein, und das ist in Ordnung, wenn sie keinen Krieg mehr machen.
Für mich ist erkennbar geworden, dass die Bürgerbewegungen Träger des aktiven institutionellen Wandels der Gesellschaft sind. Das ist ein langfristiger, eher evolutionärer als revolutionärer, nur teilweise bewusst gestaltbarer Prozess. Die Bürgerbewegungen allein können aber die Gesellschaft nicht verändern. Wen braucht es noch dazu?
Reinfried M(...): Ich hätte Mühe zu sagen, wen nicht! Wenn ich die Armee nenne, weil sie das Spektakulärste an dieser Wandlung ist, gehört schon viel Phantasie dazu, aus der Bundeswehr eine Umwelteingreiftruppe zu machen. Aber mit der Bundeswehr, wie sie jetzt ist, kann man in Zukunft nichts anfangen. Da ist Wandel erforderlich und auch denkbar - wenn auch nicht ohne Widerstand von unten.
Wenn ich mir die Ideologen ansehe, dann sind sie weitgehend entbehrlich. Die Staatsapparate werden an Dimension verlieren und an Effizienz gewinnen müssen und die Ideologen werden dabei aufs Haupt geschlagen werden.
Der Wandel braucht die Unternehmer - auch im Rahmen eines denkbaren selbstverwalteten Betriebes. Auch der wird ein Unternehmer sein, der im Auftrag der Belegschaft den Betrieb verwaltet. Wie sich das im einzelnen ergibt und wo die revolutionären Übergänge dieser Entwicklung sind, kann man nicht vorhersagen. Aber der Transformationsprozess eines "sozialistischen Leiters" - er war kein Diktator, nur ein Patriarch - zu einem Manager, lässt die Räume erkennen, die sich da auftun.
Eine große Gruppe staatstragendes Bürgertum wird nötig sein, das früh zur Arbeit geht, die staatstragenden Funktionen erfüllt und ohne großen Kulturanspruch nachher in den Familien sitzt. Sie mögen vielleicht ein Leben mit wenig Farben führen - sie werden nötig sein. Ich glaube nicht, dass die Alternativen willig und in der Lage sind, diese Funktion zu erfüllen. Man sollte die Bürger dafür nicht schelten, aber sie müssen kontrollierbar sein. Wer wenig Farben hat, kommt schneller auf die Idee, dass es nur eine gibt und macht sie leichter zur gesellschaftlichen Norm und Richtschnur! Ich sehe also weder eine totale Mobilität und Rotation in der Gesellschaft noch einen zunehmend problemlosen Überfluss für alle. Die jetzigen Überflussgesellschaften des Westens haben den Überfluss an Problemen erzeugt und selbst zu tragen. Es sind alle wesentlichen Funktionen und auch die wichtigsten Gruppen der Gesellschaft für die Zukunft notwendig, wer das nicht anerkennt, dessen Zukunftsvision wird nie konkret werden. Visionen haben immer etwas konkretes. Viele sind nicht real geworden, weil sie nicht begonnen wurden, weil Geduld, Mindestorganisation und die Öffentlichkeit fehlte. Sie wurden immer nach vorn geschoben, vertagt. Man muss sie beginnen.
Die Andere, Nr. 43, 14.11.1990, Beilage, Unabhängige Wochenzeitung für Politik, Kultur und Kunst, Herausgeber: Klaus Wolfram