Wen vertreten FDGB-Vertreter am Runden Tisch und im Betrieb?
Den Werktätigen bei Planung und Leitung wirkliche Mitsprache
Man sollte meinen, dass wir in den vergangenen Monaten begriffen haben, wie wichtig die Demokratie für unser Leben ist. Aber offensichtlich gilt das nicht für alle.
Die FDGB-Vertreter am Runden Tisch von Berlin haben den Antrag gestellt, die Bildung von Betriebsräten durch die Regierung zu unterbinden.
Bisher erfolgte die Mitbestimmung der Arbeiter ausschließlich im Rahmen des FDGB. Die Gesetze sahen formal eine Mitbestimmung vor, aber in Wirklichkeit blieb dann nur der von vornherein sinnlose Gang zur übergeordneten Behörde. Wir alle haben diese Erfahrung von der letzten Plandiskussion noch deutlich in Erinnerung.
Dadurch, dass der FDGB als alleinige Interessenvertretung aller Werktätigen mit stark zentralistisch organisierter Struktur auftrat, wurde in der Vergangenheit erreicht, dass sehr viele Werktätige völlig gleichgültig für Belange der Produktion wurden und sich keinerlei Gedanken zum effektivem Einsatz ihrer Arbeitskraft mehr machten.
Aus Protest gegen das sich selbst korrumpierende System der Berufsfunktionäre im FDGB sind viele Mitglieder inzwischen ausgetreten und sprechen der Gewerkschaft das Recht ab, für die Interessen aller Werktätigen dazu sein. Inzwischen versuchen neue Kräfte, die Gewerkschaften in selbständigen Industriegewerkschaften zu neuem Leben zu erwecken. Der FDGB soll dann nur noch eine freie Vereinigung unabhängiger Gewerkschaften sein, ohne den großen Beamtenapparat und ohne zentralistische Weisungsgewalt.
Parallel dazu entstanden in der DDR erste Betriebsräte. In Berlin gibt es derzeit in 5 Betrieben oder Einrichtungen nach unseren Informationen Betriebsräte oder Räte mit ähnlichem Namen. In weiteren 7 Betrieben werden die Wahlen vorbereitet. Diese Räte haben die Aufgabe, eine kollektive Interessenvertretung der Belegschaft gegenüber der Leitung wahrzunehmen, und sind angetreten, in der schwierigen Zeit gemeinsam Verantwortung für die Entwicklung der Betriebe zu übernehmen.
Sie arbeiten ausnahmslos ehrenamtlich und sorgen für eine demokratische und für alle transparente Entscheidungsfindung. Die Räte nehmen jetzt besonders allgemeine Fragen der Betriebsentwicklung wahr, also Fragen der Umstrukturierung, der Ausrichtung der Betriebe auf die Marktwirtschaft, der Verhandlungen mit westlichem Kapital und der Aufteilung der betrieblichen Mittel. Das bedeutet, in den Räten beginnen die Werktätigen erstmalig in der Geschichte der DDR als Eigentümer der Betriebe selbstbewusst zu handeln. Dabei ist das nicht das Kopieren des BRD-Systems von Betriebsrat und Aufsichtsrat. Unsere Räte gehen in der Mitbestimmung viel weiter. Sie setzen die Tradition der Betriebsräte in Deutschland 1945 bis 1948 fort.
Unsere Situation ist in einigen Punkten ähnlich dem damaligen Neubeginn 1945. Die Betriebsräte sind wiederum ein ganz wichtiges Mittel, um überzentralisierte Machtstrukturen in den Betrieben zu überwinden und die Werktätigen in den Prozess der Leitung und Planung demokratisch einzubeziehen.
Ich hoffe, dass die jetzige FDGB-Führung das bald erkennt und sich durch den Kampf gegen das Entstehen von Betriebsräten nicht noch länger dem Verdacht aussetzt, alte Privilegien zu verteidigen.
F(...) T(...)
aus: Berliner Zeitung, Nr. 17, 20./21.01.1990, 46. Jahrgang