Wahl-Los

Das Parteien-Einerlei ist nach zähem Ringen vorbei.

Um den wenig erbaulichen Nachlass bewerben sich inzwischen zahlreiche Neue, wovon manche so neu wiederum nicht sind. Alt hin, neu her, der Wahlkampf hat längst begonnen. Und nicht die ausgegorenen Ideen signalisieren seine heiße Phase, sondern eine schlichte Vorverlegung des Wahltermins. Gilt es jetzt für die einen, schnellstens herauszufinden, welche ihrer wechselvollen Traditionen den noch ungeübten Wählern heute am besten in den Ohren klingt, glauben andere, eiligst ihre ehedem alternative Hemdsärmeligkeit ablegen zu müssen. Die künftigen Chefs präsentieren sich in neuer Äußerlichkeit und hoffen so, nicht nur den Wählern hier, sondern auch dem Spender dort zu gefallen. Jawohl, das richtige Outfit schafft Vertrauen! Das aber wird gebraucht für Programme und Statuten, für das neue Wort, dessen einzige Neuheit jedoch allzu oft lediglich im Ort seines Verkündens liegt. Jahrelange geistige Engführung im Inneren und das folglich leichte Spiel der Medienmächte von außen zeigen ihre Wirkung.

Indes: Das Volk scheint das rechte Interesse nicht zu haben, es ist verunsichert.

Tausende ziehen von dannen, sie nehmen den "demokratischen Aufbruch" allzu wörtlich.

"Es tut sich nichts, alles zu unsicher, prinzipiell dasselbe . . ." Dann doch lieber im Westen Geld verdienen als im Osten Demokratie lernen.

Andererseits taucht immer öfter die bange Frage auf, wen soll man denn nun wählen? Alle sagen doch etwa das gleiche. Vielleicht die Partei, die den stärksten Zulauf hat ... sie hat die meisten Chancen, alles andere läuft doch nur auf Zersplitterung hinaus.

Ja, das sind wir so gewohnt über Jahre hinweg, nicht unsere tatsächlichen Interessen zu artikulieren und vertreten zu lassen, sondern aus Angst vor der Ungewissheit wählen wir die "stärkste Partei".

Am besten wäre natürlich eine Partei, die noch vor der Wahl die Wiedervereinigung erzwänge, da hätten wir dann klare, vor allem bewährte Verhältnisse und müssten nicht erst in eigener Verantwortung selbst entscheiden - wir, das Volk.

Vielleicht aber ist das längst entschieden (auch ohne Wahlfälschung!) und alles andere nur Show für das Volk: Der erste und zugleich letzte Walzer.

Andreas E(...)

aus: freie presse, Nr. 34, 09.02.1990, 28. Jahrgang, Karl-Marx-Stadt