Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953
Von THOMAS KLEIN
Als damals im Juni 1953 die Bauarbeiter Berlins und dann auch anderer Städte der DDR auf die Straße gingen, konnten sie nicht ahnen, wer künftig alles politischen Anspruch auf sie und ihren Aufstand erheben sollte. Wer sie dagegen damals sofort als "Konterrevolutionäre, irregeführte Individuen oder des Kapitals" denunzierte. wurde ihnen nur zu rasch deutlich gemacht. Was war dieser Aufstand wirklich, und wer hat heute ein Recht darauf, diese erste Massenempörung gegen den Stalinismus in der DDR für sich zu beanspruchen?
Damals wie heute schien und scheint der Sumpf politischer Demagogie obskure Blasen zu schlagen: Was ehedem von Ulbricht und Genossen als antikommunistisches Komplott denunziert wurde, wird heute von nicht wenigen nur zu gut bekannten Karrierepolitikern der DDR-Rechten als Märtyrertum von Vorkämpfern gegen den Kommunismus gefeiert. Man ist geneigt zu sagen: So viel hat sich geändert in der DDR. Ich meine aber, dass die beklemmenden Parallelen des heutigen Umgangs der Herrschaftssachwalter mit Straßenprotesten gegen die Regierungspolitik nicht zufällig sind.
Die 2. Parteikonferenz der SED verkündete 1952 den "Aufbau des Sozialismus" und die Losung des "verschärften Klassenkampfs". Die Folgen waren das Ansteigen der "Republikflucht-Welle und eine Versorgungskrise im Frühjahr 1953. Im Mai beschloss der Ministerrat, bis zum Juni die Arbeitsnormen um mindestens 10 Prozent zu erhöhen. Die Krise spitzte sich zu. Auf Druck der nach stalinschen sowjetischen Führung und zur Erleichterung der "stillen Opposition" in der SED (Jendretzky, Herrnstadt, H. Brandt) wurde im Juni der "Neue Kurs" erzwungen. Das ebenso gehorsame wie verunsicherte ZK nahm die "Sozialismus"- Parolen und die verfügten Beschneidungen sozialer Gruppen zurück - bis auf die gegen die Arbeiter gerichteten Normerhöhungen. Diese Härte provozierte die Arbeiterklasse. Der "Neue Kurs" brachte allen etwas, nur ausgerechnet ihnen als gefeierten Trägern des gerade noch apostrophierten "sozialistischen Aufbaus" nichts.
Es kam, wie es durchaus nicht kommen musste: Massenproteste gegen die Regierungspolitik eskalierten vom 15. bis 17. Juni. Dies war die erste für Bürokraten unverhoffte Begegnung ihres Stalinismus mit der von ihnen immer wieder beschworenen Arbeiterklasse in Gestalt eines Faustschlags. Brechts beißender Sarkasmus auf diese Art Kreaturen, denen er empfahl, sich mangels Vertrauens zum Volk ein anderes zu wählen, trifft den Nagel auf den Kopf. Ohne die sowjetischen Panzer, die makabrerweise durch ihr Eingreifen den für aktuelle sowjetische Interessen untauglich gewordenen Ulbricht retteten, wären sie am Ende gewesen.
Und dann waren da noch die "Revolutionsanheizer" aus dem Westen. Noch nicht einmal ihre Auftraggeber bestreiten heute, in diesem Sinne kräftig mitgemischt zu haben. Schließlich war "kalter Krieg". Und es kam gerade recht für die perfide stalinistische Legende vom 2konterrevolutionären Putsch". Dieser antistalinistische Aufstand war eben sowenig ein konterrevolutionärer Putsch wie eine antikommunistische Revolte. Er war die handfeste Empörung großer Teile der Bevölkerung gegen die Arroganz von Bürokraten, die Arbeiterinteressen im angemaßten Namen der Arbeiter verrieten. Und dies ist heute für uns hochaktuell.
Die Stalinisten und ihr abenteuerlicher Kurs vor und dann auch nach dem Juni 1953 waren ein viel wirksamerer Beitrag mm Antikommunismus als die Parolen einer Handvoll Provokateure. Der Aufstand war aber genau sowenig eine "kommunistische Erhebung gegen die revisionistische Ulbricht-Clique", wie es unsere sektiererischen Superrevolutionäre so gerne hätten. Denn die Arbeiter konnten kaum mit einer nur durch Phrasen gespeisten Idee verbunden sein, die wirklich und selbst umzusetzen sie durch jene SED konsequent gehindert wurden. In keinem Falle aber war es ein Massenaufstand zur Wiedereinführung eines gediegenen Kapitalismus. Den hatten die Arbeiter aus langer, Erfahrung "lieben"- gelernt und damals übrigens noch in ganz frischer Erinnerung!
Heute kennt die Bevölkerung der DDR ihn, den real existierenden Kapitalismus, nicht mehr aus Erfahrung. Sie wird ihn nun kennenlernen; so, wie sie den Stalinismus kennen- und hassen gelernt hat. Den so oft von den Politbürokraten beschworenen und vom Kapital denunzierten "Sozialismus" hat sie nie erlebt. Insofern ist es ein Missverständnis fast historischer Dimension, in der sich nun auflösenden DDR von einer "Konterrevolution" zu sprechen. Hier hat eine sozialistische Revolution nie stattgefunden. Wir haben uns heute der Geschichte des 17. Juni 1953 nicht zu erinnern als eines Ereignisses, das einfach im Herbst 1989 zu seinem Ende gefunden hat. Dazwischen liegen eben diese vier Jahrzehnte Stalinismus. Deshalb sind wir heute dort, wo wir sind. Trotz alledem gehört der 17. Juni uns, den Linken, und nicht den frisch gewendeten Jubelrednern der "sozialen Marktwirtschaft"! Wir sagen dies nicht, weil wir den Arbeitern des Jahres 1953 unterschieben wollen, Linke gewesen zu sein. Wir sagen dies, weil wir solidarisch mit den Interessen der damals protestierenden Arbeiter sind. Wir sagen dies, weil wir wissen, dass diese Interessen sich nur im Kampf gegen diesen jetzt in ganz, Deutschland wuchernden Kapitalismus durchsetzen werden.
Heute erleben wir bereits, wie die Parteien der „ersten vom Volk frei gewählten Regierung" wieder von friedlichen Demonstranten (viel friedlicheren als denen des 17. Juni!) als "Provokateuren“ sprechen. Wir erleben die Arroganz der Macht und die Diktatur der Mehrheit. Wir! konstatieren den mit Furcht vermischten Ekel vor dem Votum der Straße und die Polizeiketten zum Schutz der Abgeordneten vor dem Kontakt mit ihren Wählern. Und wir hören die Regierung sagen, dass sie sich nie wieder (?) vor dem Druck der Straße beugt (??!). Erinnern sich die Herren und Damen, warum sie regieren? In erster Linie wegen des Drucks der Straße, einer außerparlamentarischen Opposition vom Herbst 1989, und nicht so sehr wegen des Votums der Wählermehrheit, deren Hoffnungen sie sich nun zu enttäuschen anschicken. Es wird unseren neuen "Pionieren der Marktwirtschaft" nicht gelingen, den Aufstand vom 17. Juni zu vereinnahmen!
Dr. Thomas Klein ist der einzige Abgeordnete der Vereinigten Linken in der Volkskammer.
Neues Deutschland, Sa. 16. Juni 1990, Jahrgang 45, Ausgabe 138
Die 2. Parteikonferenz der SED fand in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle vom 09.-12.07.1952 statt.