Zwischen alle Stühle gesetzt

Interview mit Jutta Braband, Bundestagsabgeordnete der linken Liste/PDS über ihre Zusammenarbeit mit der Stasi

Mit 20 Jahren wurde sie angeworben, nach fünf Jahren wollte sie nicht mehr. Dann folgten 14 Jahre Opposition, 1979 wurde sie zu neun Monaten Haft verurteilt wegen "Beihilfe zur ungesetzlichen Verbindungsaufnahme". Jutta Braband, 42, Mitglied der Vereinigten Linken, jetzt Bundestagsabgeordnete in der Gruppe Linke Liste/PDS. Sie sieht sich als Täterin, die später auf die andere Seite wechselte. Bis jetzt hat sie über ihre IM-Tätigkeit geschwiegen.

die andere: Wie kam es dazu, dass die Stasi dich anwerben konnte?

Jutta Braband: Ich bin in einem sozialistischen Gewächshaus aufgewachsen. Meine Eltern sind beide gleich am Anfang in die SED eingetreten. Bei uns war es nicht so, dass sie mir das Blaue vom Himmel heruntergelogen haben. Sie haben gesagt, das, was du da draußen vorfindest, wenn du groß bist, ist nicht so, wie es in den Büchern steht, sondern, so soll es erst werden. Und damit es so wird, musst du etwas tun. Weil es noch so viele Menschen gibt, die haben noch altes Zeug im Kopf, das muss raus.

Ich war also darauf vorbereitet, dass das alles nicht so toll ist, und ich war darauf vorbereitet, dass ich selbst zu handeln hätte. Und ich war immer ziemlich super. Und ich wollte auch immer eine Revolutionärin sein ... Ich habe mit meiner Mutter telefoniert und ihr gesagt, dass ich mich entschlossen hätte, meine IM-Tätigkeit zu offenbaren. Da fing meine Mutter an zu weinen. Sie war damals bei mir, als das erste Gespräch lief. Sie war Offizier bei der Volkspolizei. Sie hat, als ich im Gefängnis war, ihre Arbeit verloren . . . Aber das gehört wohl nicht hierher.

Ich denke doch. Wie alt warst du denn, wenn deine Mutter beim Anwerbungsgespräch dabei war?

Ich glaubt 20. Meine Mutter war zufällig zu Besuch. Sie war zwar die ganze Zeit in der Küche, aber wir haben hinterher darüber gesprochen . .  Ich bin mit 18 in die SED eingetreten an meinem 18. Geburtstag. Ich habe es als eine Ehre empfunden, aufgenommen zu werden in diesen Kreis derer, die besonders gut waren . .  Es waren zwei Männer ich wohnte schon in Berlin -, sie führten ein nettes Gespräch mit mir, und ich glaube, meine Mutter hat Kaffee gekocht. Sie bezogen sich darauf, dass ich mal vor längerer Zeit, als ich noch in Stralsund lebte, dem Staat, dem Sozialismus, einen großen Dienst erwiesen hätte. Da wurden in meinem Betrieb nagelneue Ersatzteile wegen zu hoher Lagerbestände verschrottet. Ich sah die Arbeit, die dahintersteckt und die Werte, es war wohl eine halbe bis eine Million. Das hatte mein Vater, der meine Empörung teile, der ABI angezeigt. Solche Menschen würden gebraucht, sagten sie mir. Es gäbe ja noch so viele rückschrittliche Menschen.

Wie oft sind sie dann gekommen?

Ich weiß es nicht mehr genau. Ich denke, dass die Abstände relativ groß waren, sechs, acht Wochen, manchmal noch länger, manchmal haben wir uns im 2-Wochen-Rhythmus getroffen. Aber es gab keine Regel. Manchmal haben wir uns richtig verabredet, aber meistens haben wir uns gegenseitig angerufen.

Du hast damals an einer Fachschule studiert. Was wollten sie von dir wissen?

Das ist ja das Problem. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht mehr ... Ich erinnere mich, dass sie etwas aus meinem ehemaligen Betrieb wissen wollten, über einen Kollegen. Er sei aus dem Westen gekommen und mit Vorsicht zu genießen, wahrscheinlich ein Spion. Ob ich nicht etwas über ihn erzählen könne. Das habe ich auch gemacht.

Und über die Fachschule - dazu muss ich sagen, dass ich zu einem der beiden Männer sehr bald ein ziemlich gutes Verhältnis entwickelt habe.

Zu deinem Offizier?

Ja. Ich hatte keine Freunde in Berlin. Es war kein Liebesverhältnis. In der Parteigruppe bin ich nicht klargekommen. Da wurde ich nicht ernst genommen: "Die junge Genossin hat noch Fragen", hieß es. Und der nahm alles ernst. Dem konnte ich alles erzählen. Und ich habe ihm alles erzählt.

Das Abschließen des Vertrages, das Unterschreiben der Verpflichtung, war das dann besonders feierlich?

Meiner Ansicht nach habe ich nie eine Verpflichtung unterschrieben. Bärbel Bohley hat zu mir gesagt, dass die meisten das verdrängen. Deswegen denke ich jetzt ständig darüber nach. Ich habe wirklich den Willen dazu.

An Feierlichkeiten erinnere ich mich überhaupt nicht. Außer, als sie mich einmal mit zur Leipziger Messe genommen haben. Da sind sie mit mit essen gegangen, mehrere Männer. Ich war nie in meinem Leben in einem Interhotel und dachte, ich falle jetzt gleich über den Teppich. Am Abend vorher waren zwei mit mir in einer Bar. Ein Mann war dabei, der gehörte offensichtlich nicht zu ihrem Kreis.

Es war ein ausländischer Geschäftsmann. Es wurde getanzt und gequatscht, und am nächsten Abend sind sie mit mir essen gegangen und haben mich gefragt, wie es war. Ich hatte das Gefühl, ich hätte irgendeinen Auftrag nicht erfüllt.

Haben sie dir das gesagt?

Nein. Heute denke ich, sie haben mich getestet.

Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen. Nach dem, was jetzt bekannt ist, gab es keine Tabus, wenn Spitzel auf Menschen angesetzt wurden. Oft heißt es dann von ehemaligen IMs, dass ihr Führungsoffizier nicht so war - die Ausnahme. Wahrscheinlich liegt hier das Geheimnis, weshalb das alles so gut funktioniert hat.

Ich habe dem vollständig vertraut. Er war mein Ersatzvater.

Warum wolltest du dann aussteigen?

Das hat lange gedauert. Der Ursprung war sicherlich meine Kritikfähigkeit. Ich wurde einfach mit Sachen konfrontiert, die es mir irgendwann nicht mehr möglich machten, diese Gespräche zu führen. Ich kann mich erinnern, als eine Freundin erzählte, wie in einer Silvesternacht ein junger Mann von der Polizei zusammengeschlagen wurde. Ich war fassungslos darüber, dass unsere Polizei prügelt. Denn wir haben lange Zeit im Volkspolizeikreisamt gewohnt. Das waren für mich Onkel und Tanten. Es war ein Schock. Mein Vater hat sofort gebrüllt, dass das nicht wahr ist, meine Mutter hat kein Wort gesagt. Da bin ich aufmerksam geworden.

Und das ging weiter. Etwa 1973 lernte ich in einem Klub Menschen kennen, die mir sehr wertvoll waren. Ich war dreimal die Woche in diesem Klub. Das wurde meine neue Familie. Da habe ich zum Beispiel Bettina Wegner zum ersten mal gesehen. Ich hatte sie damals noch nicht kennengelernt, aber singen gehört.

Übrigens habe ich neulich in einem Gespräch den Vorwurf strikt zurückgewiesen, ich hätte Informationen über Oppositionelle geliefert. Ich kann das nicht mehr so aufrechterhalten, weil ich mir darüber nicht mehr sicher bin. Den Begriff Oppositionelle gab es damals so für mich nicht.

Dass du nach deinen neuen Bekannten gefragt worden bist, liegt doch auf der Hand?

Es war noch viel schlimmer. Sie mussten mich nicht fragen. Ich habe das alles von selbst erzählt. Ich habe erzählt, wen ich kennengelernt habe, wie schau die sind. Ich habe noch versucht klarzumachen, dass das, was sie wollen, genau das Richtige ist. Dass man das unterstützen muss. Es waren ja nicht Leute, die andere Ansichten hatten als ich, sondern dieselben. Und damit sie nicht missverstanden werden, habe ich immer wieder betont, dass sie gute Absichten haben.

Dir muss doch aufgefallen sein, dass es nicht so verstanden wurde, wie du es wolltest?

Ja, im Klub gab es öfter Ärger, wurde etwas verboten, und irgendwann wurde er zugemacht. Aber das war meiner Ansicht nach, nachdem ich schon fertig war mit der Stasi. Ich bin dann auch nicht mehr oft hingegangen. Ich war umgezogen.

Wann hast du deinem Führungsoffizier denn gesagt, dass du nicht mehr willst? Kannst du dich daran erinnern?

Ich habe ihn ganz lange angelogen, habe die Treffen hinausgezögert. Ich habe mich damals für furchtbar feige gehalten.

Der hat mich noch monatelang angerufen und versucht, mich wieder zu überreden.

Du hast dich als Kandidatin zur Bundestagswahl aufstellen lassen. Und obwohl die Diskussionen um "Offenlegung und Ehrlich machen" hohe Wellen schlugen, hast du geschwiegen.

Ich habe es einigen Freunden gesagt, aber nicht in öffentlichen Veranstaltungen, wenn du das meinst.

Und da hat dir niemand gesagt, wenn du kandidieren willst, musst du es öffentlich machen?

Nein.

Und du selbst?

Ich mir auch nicht. Das traf nicht auf mich zu.

Wie?

Ich hatte nicht das Gefühl, schuld zu haben. In dem Sinne hatte ich auch nicht das Gefühl, etwas offenlegen zu müssen. Ich habe sechzehn Jahre das bekämpft, was ich vorher mitgetragen habe. Das war die bestimmende Zeit meines Lebens. Da bin ich geworden, was ich jetzt bin.

Ich habe nie Offenlegung um jeden Preis, um der Offenlegung willen, wegen der Schuld verlangt. Offenlegung hatte für mich zu tun mit der Möglichkeit zu lernen, gemeinsam mit anderen zu lernen, mit sich umzugehen, mit dem, was man gemacht hat. Und nie ausschließlich darum, eine Schuld einzugestehen.

Das andere ist, dass ich an einem bestimmten Punkt dachte, jetzt muss ich raus mit meiner Geschichte. Aber auch nicht aus Schuld. Diese Art von Unrechtsbewusstsein habe ich bis heute, ehrlich gesagt, nicht entwickelt. Aber vielleicht kommt das noch, wenn ich mit den Leuten von damals gesprochen habe oder wenn ich meine Akte gesehen habe und sehe, was ich da eigentlich geredet habe ... Schuld lässt sich nicht so einfach abtragen. Die bleibt. Ich hatte das Gefühl, ich habe schon alles wiedergutgemacht.

Aber mit den Leuten, über die dir ausgesagt hast, hast du nie gesprochen. Dann ist das nur die halbe Miete.

Ich hatte unglaubliche Angst.

Was hat dich jetzt bewogen, zwar spät, aber doch noch an die Öffentlichkeit zu gehen?

Wir haben in der PDS/Linke Liste schon länger eine heftige Debatte um die Stasi-Vergangenheit. Für mich ist Offenlegung mehr als so eine Art Prüfstein für die PDS. Ich dachte, dass für die Leute in der PDS, die ja fast alle aus der SED kommen, damit auch ein Lernprozess verbunden ist, in dem sich jeder mit sich selbst auseinandersetzt, mit seiner eigenen Verantwortung.

In der Vorbereitung zu unserem Stasi-Hearing im Juni ist mir aufgefallen, dass das Gespräch steckengeblieben war. Die Ausreden waren immer dieselben. Und da habe ich gedacht, vielleicht ist es einfach wichtig, dass ich meine eigene Geschichte erzähle und erzähle, wie ich nach und nach zu anderen Auffassungen gekommen bin. Weil, alle die Dinge kamen mir furchtbar bekannt vor, die ich da gehört habe. Es war damals für mich ganz genauso. Ich habe gedacht, dass der Block aufgeweicht wird zwischen denen, die mit der Stasi zusammengearbeitet haben, und den Leuten, die wollen, dass das aufgearbeitet wird und die gemeinhin Opfer genannt werden. Ich habe Schwierigkeiten mit diesem Begriff, obwohl er zweifellos juristisch richtig ist.

Im Grunde habe ich das Gefühl gehabt, dass es keine Chance zur Klärung mehr gibt in diesem Land. An dieser Stelle habe ich mit Ingrid Köppe darüber geredet, mir auch sagte, dass es nur über die Öffentlichmachung noch möglich ist, eine andere Sicht auf die Dinge zu bekommen.

Wirst du von deinem Mandat als Bundestagsabgeordnete zurücktreten?

Das ist nicht so einfach, ich hänge nicht an dem Mandat. Aber das ist eine politische Entscheidung, die ich mit den Leuten, mit denen ich arbeite, beraten will. Und ich will wissen, was jetzt passieren wird. Womit werde ich beschimpft, womit werde ich diffamiert? Ich will im politischen Sinne wissen, wer klopft mir auf die Schulter, steht mir also bei, und wer greift mich an. Ich will erst die Argumente hören.

Interview: Tina Krone

die andere, Nr. 38, 18.09.1991

ABI - Arbeiter-und-Bauern-Inspektion
IM - Inoffizieller Mitarbeiter des Ministerium für Staatssicherheit

Offener Brief von Irena Kukutz an die Bundestagsabgeordnete Jutta Braband nach der Offenlegung ihrer Stasi-Kontakte.

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