40 Jahre DDR-Geschichte:
Im Gleichschritt gut geübt

Wurzeln des Neonazismus in der DDR und Möglichkeiten seiner Überwindung

Nazis raus! Was gibt das für einen Sinn? wo sollen sie hin? Unsere Erde ist bewohnt, wo Menschen wohnen können. Wenn eine Gesellschaft eine in ihr lebende Minderheit nicht akzeptieren kann oder will, sie unter Druck setzt oder vertreibt, dann löst sie ihr Problem auf Kosten Dritter (wie im Falle Israels und der Palästinenser) oder verursacht Gegenwehr.

Weshalb sind Jugendliche denn so geworden?

Eine solche Minderheit wird zum Sammelpunkt auch für andere frustrierte Mitglieder der Gesellschaft, die die Parolen dieser Minderheit nicht unbedingt richtig finden, aber irgendeine Möglichkeit suchen, ihre eigene Unzufriedenheit gemeinsam mit anderen zu äußern.

Welche Interessen haben eigentlich "unsere" jungen Nazis, Skins usw.? Was wollen sie? Weshalb sind sie so geworden?

Wir müssen uns der schmerzhaften Erkenntnis stellen, dass sie unter uns aufgewachsen sind, erzogen und ausgebildet wurden. Wie haben DDR-Kinder die 70er und 80er Jahre erlebt? Geld kein Problem. Beziehungen entscheiden. Wenn man etwas werden will, muss man das "Richtige" sagen, denen gefallen, die zu entscheiden haben. Und nicht wenige haben diesen Zustand akzeptiert. Gerade in dieser Gruppe war Hochachtung vor der Macht, das Ideal, "stark" zu sein, verbreitet.

Gleichzeitig wurde durch Schule, Massenmedien usw. in praktisch allen Kindern und Jugendlichen die Überzeugung geweckt, dass jeder Bürger der DDR das Recht auf ein angenehmes Leben in materieller Sicherheit hat. Solidarität ist zur Spende für die "Armen" irgendwo weit weg verkommen

Und schließlich fehlt der ganz überwiegenden Mehrzahl aller DDR-Bürger das Erlebnis, wie man sich über gemeinsame Interessen verständigen und sie gemeinsam mit Aussicht auf Erfolg vertreten kann. Gute Organisationserfahrung bringen wir hingegen mit, ganz besonders, wenn es um hierarchische, für klassische Auseinandersetzungsformen geeignete Strukturen geht, wie sie u. a. auch für Naziorganisationen typisch und brauchbar sind. "Klassische" Auseinandersetzungen zwischen so organisierten Anhängern unterschiedlicher Parolen zwecks Lösung des gleichen sozialen Problems können zu einer ernsten Gefahr für uns werden.

Mit diesem Analysenbruchstück will ich nicht sagen, die DDR habe Nazis erzogen. Dessen kann man sie eben sowenig bezichtigen wie etwa die Weimarer Republik die BRD oder Frankreich. Aber ebenso wie diese hat sie Macht und Hierarchie akzeptierendes, unterordnungsbereites, unsolidarisches Verhalten belohnt und die Vorstellung anerzogen, der einzelne habe kraft seiner Staatsbürgerschaft das Recht auf ein besseres Leben als andere Völker. Das war die Voraussetzung dafür, dass der Zusammenstoß mit einer andersartigen Realität zu aggressiv nationalistischen oder faschistischen Verhaltensweisen führt. Ihre Gefährlichkeit beruht auch auf der Größe des prinzipiell gleichgestimmten, nur eben nicht aggressiven Teils der Bevölkerung.

Dennoch habe ich die Erfahrung gemacht, dass man sich mit Skins und Jungnazis ganz normal und vernünftig unterhalten kann, wenn sie nicht gerade randalieren oder in der dafür notwendigen "Hochstimmung" sind. Sie haben die gleichen Sorgen und Fragen wie andere auch. Wie viele andere Jugendliche bei uns sind sie allergisch gegen Belehrung von oben herab, Phrasen und dergleichen. Wenn es um spezielle Fragen der Geschichte und Politik geht, haben fast alle Aussprüche und Berichte ihrer Großeltern zitiert, die die Nazizeit noch erlebt haben. Zur Ehre fast aller meiner jungen Gesprächspartner muss ich aber sagen, dass ihnen der Mangel dessen bewusst war. Berichte über Selbst erlebtes erweckten bei ihnen immer Interesse, auch wenn sie nicht in ihr Weltbild passen.

Ein Ausweg könnte auch Selbsthilfe sein

Doch auch die beste individuelle Erziehung und alle Bemühungen um politische Kultur reichen allein nicht aus, um nationalistische oder faschistische Tendenzen zu überwinden. Ich meine, dass konkrete Diskussionen über Sachfragen, die sehr viele Menschen ganz unmittelbar angehen, helfen könnten, einen Konsens über politische Schranken hinweg zu ermöglichen. Projekte selbstverwalteter Häuser und kleinerer oder mittlerer Betriebe (der DGB hat dazu im Januar 1990 detaillierte Vorschläge erarbeitet) oder Erziehungseinrichtungen würden dem Interesse breiter Kreise entsprechen, Spannungen, die aus dem Gefühl der Hilf- und Einflusslosigkeit entstehen, abbauen und so auch einen wesentlichen Beitrag gegen Neonazismus, Drogensucht und Entwurzelung junger Menschen darstellen.

Dr. B(...) U(...)
(Vereinigte Linke)

PODIUM – Die Seite der und für die BürgerInnen-Bewegungen, Initiativen und Minderheiten in der Berliner Zeitung, Nr. 207, Mi. 05.09.1990

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