9. Volkskammer, 17. Tagung, 21.02.1990
Berlin. Die Volkskammer setzte ihre 17. Tagung am Mittwoch mit einer Debatte zur Regierungserklärung Hans Modrow fort. PDS-Sprecher war der stellvertretende Parteivorsitzende Wolfgang Pohl: Bei der Überwindung der im Ergebnis des zweiten Weltkrieges entstandenen Teilung der deutschen Nation kann es nur um die Vereinigung zweier souveräner Staaten gehen. Nur dann können die sozialen Rechte der Bürger gesichert werden. Die Einigung der Deutschen darf nicht zu einem Krisenherd in Europa führen.
Redner anderer Parteien und Fraktionen rieten ebenfalls zu Besonnenheit und Augenmaß und warnten davor, die hart erarbeiteten Rechte der Bürger durch eine einfache Angliederung an die BRD aufs Spiel zu setzen. Auf das Recht der Selbstbestimmung pochte Cornelia Wolfram (FDJ): Für uns macht es einen erheblichen Unterschied, ob man sich vereinigt oder sich aufgibt. Auch Minister Walter Romberg (SPD) plädierte für einen geordneten Vereinigungsprozess, und Michael Koplanski (DBD) sagte, schließlich wisse jeder, was die DDR bereits für Gesamtdeutschland geleistet hat.
CDU-Vorsitzender Lothar de Maizière ging letztlich doch von dem von seiner Partei vorher laut propagierten Vorhaben ab, die Wiedereinführung der Verfassung von 1949 zu beantragen, und LDP-Vorsitzender Reiner Ortleb rief Unmutsäußerungen zahlreicher Abgeordneter hervor, als er der PDS und anderen Parteien unterstellte, sie schürten soziale Ängste. Dem Liberalen zeigten auch Sprecher der VdgB, des FDGB und des DFD auf, wie begründet diese Ängste unter den arbeitenden Menschen und vor allem den sozial Schwachen im Lande sind. Nicht Rhetorik, sondern Verantwortungsbewusstsein müsse dominieren - ein aus reicher Erfahrung geborenes Wort von Außenminister Oskar Fischer, der als letzter sprach.
Die Abgeordneten billigten mehrheitlich das Parteien- und das Vereinigungsgesetz. Zuvor hatte NDPD-Abgeordneter Mögling seinen Antrag vom Vortag zurückgezogen, ausländische Zuwendungen an Parteien nicht erst 1991, sondern sofort zu verbieten. Dafür hatte seine Partei nun im Gegenteil beantragt, dieses Schänkungsverbot gänzlich aufzuheben. Der Antrag bekam 149 Stimmen, 59 Gegenstimmen und 150 Enthaltungen, wurde also abgelehnt.
Dann Antworten von Vizepremier Christa Luft auf restliche Fragen aus der 15. Tagung. Was sich in der DDR sozial bewährt habe, müsse bewahrt werden. Die Sicherung des Rechts auf Arbeit habe dabei Vorrang. Es bedeute aber nicht Recht auf einen bestimmten Arbeitsplatz oder -ort.
Arbeitslosenunterstützung bezeichnete die Wirtschaftsministerin in diesem Zusammenhang als das soziale Mindestauffangnetz. Wichtiger als die Aussicht auf Arbeitslosengeld sei die Aussicht, Arbeit zu haben. Deshalb komme der Beschaffung von Arbeitsplätzen und der Finanzierung von Umschulungsprogrammen Priorität zu. Weitere Antworten galten der Exportrentabilität von DDR-Erzeugnissen, der Steuerreform und dem Gewerbegesetz, das übrigens am heutigen Donnerstag im Ministerrat behandelt werden soll.
Von unseren Berichterstattern Günter Fleischmann und Jochen Fischer
Neues Deutschland, Nr. 45, Do. 22.02.1990, 45. Jahrgang
Berlin. - Axel Knack Rainer Stephan Während einer Pause in der gestrigen Volkskammerdebatte beobachtet: Ein Abgeordneter bat seinen Amtskollegen um dessen Heimatadresse. Wie an einem der letzten Tage im Kurheim. Symptomatisch wohl - Aufbruchstimmung im Parlament. So ging es gestern auch eher geruhsam zu, als an einem der letzten Sitzungstage der jetzigen Legislaturperiode immerhin über wichtige Dinge beraten wurde. Wie über die deutsche Frage, zu der Premier Modrow am Vortag die Regierungserklärung abgegeben hatte.
Kaum einer nutzte die Chance zum Wahlkampf vor der unablässig laufenden Kamera bei diesem ja doch brisanten Thema. Von den neuen Parteien und Gruppierungen, die mit eigenen Ministern ohne Geschäftsbereich in der Regierung vertreten sind, nutzte nur einer - Prof. Romberg von der SPD - die Chance, die Auffassung seiner Partei darzulegen. Alle anderen hüllten sich in Schweigen. Sollten sie meinen, dass der Wählerschar das Profil ihrer Organisationen schon so klar ist, um gänzlich auf die öffentliche Darlegung zu verzichten?
Die ordentlich bestallten Fraktionen meldeten sich alle zu Wort, um ihre Auffassungen zu verkünden. Die waren durchaus auch differenziert, vor allem, was den Zeitpunkt einer deutschen Vereinigung betraf wie auch das, was noch zuvor in den Prozess eingebracht werden müsse. DBD-Redner Koplanski forderte, dass das Ergebnis der Bodenreform gewahrt werden müsse, Grundstücks- und Wohnungsspekulation müsse vorgebeugt werden. Der Erhalt des sozialen Besitzstandes wurde von mehreren Rednern gefordert. Wie hältst Du es mit dem Eigentum? - Das wird wohl auch eine Gretchenfrage der bevorstehenden Wahl.
Mit Spannung war der Auftritt von CDU-Chef de Maizière erwartet worden. Schließlich hatte diese Partei schon im Vorfeld verkündet, dass sie die derzeitige Verfassung kippen wolle und statt dessen die von 1949 wieder einzusetzen gedenke. Nun mag man an der derzeitigen manche Kritik äußern - es verging ja in den vergangenen Wochen auch kaum eine Volkskammersitzung ohne Abstimmung über eine Änderung daran - aber in aller Eile auf eine 40 Jahre alte zurückzugreifen, das war wohl doch nicht mehrheitsfähig. Deshalb wurde der Antrag auch gar nicht erst eingebracht, zumal sich der Runde Tisch derzeit mit den Grundlinien einer neuen Verfassung beschäftigt
Höhepunkt aller Fraktionsreden war die der FDJ, Cornelia Wolfram stellte fest, dass es manche Parteien gäbe, die ihre Grundsatzpositionen schneller wechselten als die SED ihren Namen. Sie könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass durch das stete Schüren von Ängsten auch die letzten Reste von Selbstvertrauen und Versuche, Reste von DDR-Identität zu bewahren, demontiert würden. Zu vielen Politikern gingen die Sprüche von der sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft wie Milka-Schokolade von der Zunge Sie wandte sich scharf gegen ein „nationalistisches Deutschland über allen und über alles."
Außenminister Oskar Fischer forderte, die Einheit Deutschlands nur im Einklang mit der europäischen Einheit zu vollziehen. Nationale Verantwortung müsste an die Stelle von Wahlkampfrhetorik treten.
Kurze Irritationen gab es bei der Abstimmung zum Parteiengesetz. 149 Abgeordnete hatten nämlich für eine Änderung in Bezug auf ausländische Parteienfinanzierung plädiert, 59 dagegen, 150 enthielten sich der Stimme. Maleuda bremste dann den Jubel der Änderungsbefürworter, denn im Eifer hatten sie übersehen, dass für den Antrag die Mehrheit nicht gestimmt hatte. So wurde das Parteiengesetz wie auch das über die Vereinigungen ohne Veränderungen beschlossen.
Bei der letzten Tagung waren noch einige Fragen zu wirtschaftlichen Problemen offengeblieben, die Vizepremier Christa Luft beantwortete. Sie bezeichnete eine Arbeitslosenunterstützung als das Mindestauffangnetz. Priorität hätten die Arbeitsplatzbeschaffung und die Finanzierung von Umschulungsprogrammen.
Abschließend rief Kammerpräsident Maleuda im Namen des Präsidiums alle Bürgerinnen und Bürger auf, alles zu tun für Gewaltlosigkeit, Ruhe und Besonnenheit. Ein notwendiger Appell auch angesichts der um sich greifenden Hamsterkäufe. Einmal zumindest trifft sich das Parlament aber noch vor der Wahl, am 6. und 7. März.
Berliner Zeitung, Nr. 45, Do. 22.02.1990, 46. Jahrgang
In seiner Rede verwies Lothar de Maizière auf die Volkskammerwahlen, die ein Parlament wählen wird, dem enorme wirtschaftliche und soziale Probleme zur Lösung anvertraut werden. Zugleich müsse es entschlossene Schritte auf die deutsche Einheit hin zu gehen haben. Wenn die Regierung dann auch ausreichende demokratische Legitimation besitze, so brauche sie aber auch eine Verfassung, die Ausdruck des Grundkonsenses aller Demokraten sei. Diesen Zweck erfülle die von 1968 und ergänzte und veränderte von 1974 nicht mehr.
"Wir alle haben in den letzten Wochen den oft quälenden Versuch miterlebt, neue demokratische Gesetze und andere Rechtsvorschriften mit der geltenden Verfassung zu harmonisieren", führte der Redner aus. Trotz der Änderung des Artikels 1, dem Streichen der führenden Rolle der ehemals herrschenden Partei, durchziehe der Führungsanspruch die ganze Verfassung. Sie gehe weiter von einer festgeschriebenen Zweistaatlichkeit aus und trage auch nicht dem Wunsch der Bürger Rechnung, in Ländern zu leben. Die zu wählende Volkskammer müsse also zugleich verfassungsgebende Nationalversammlung sein, die in 40 Jahren Gewachsenes ebenso berücksichtigt wie den eigentlichen Ausgangspunkt 1949. "Der gegenwärtige Zustand, eine Verfassung zu haben, die nicht oder nur bedingt praktizierbar ist, ist unerträglich und führt zu weiterer Gefährdung der Rechtssicherheit", betonte er.
Lothar de Maizière verwies darauf, dass an der damaligen Verfassung bedeutende Mitglieder der CDU wie Dr. Dr. Brandt, Georg Dertinger, Prof. Dr. Hickmann und Dr. Lobedanz mitgewirkt hatten, die in der Folgezeit aus ihren Ämtern gejagt und verfolgt wurden. Im einzelnen beschrieb er die dort verankerten Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, der Mitbestimmung wie der antifaschistischen Grundhaltung.
Abschließend verwies er auf die geänderte Position der CDU, entgegen ihrer Ankündigung den Antrag auf die Wiedereinsetzung der 1949er Verfassung nicht zu stellen. „Wir tragen damit der Tatsache Rechnung, dass in unserem Volk eine breite Verfassungsdiskussion entstanden ist. Wir respektieren, dass der Runde Tisch beabsichtigt, in seiner letzten Sitzung Leitlinien für eine neue Verfassung vorzulegen. Wir wollen diesen demokratischen Prozess weder stören noch präjudizieren", erklärte de Maizière und schloss: „Dennoch legen wir allen mit Verfassungsfragen Beschäftigten die 49er Verfassung in besonderer Weise ans Herz. Umkehr in die Zukunft heißt auch, sich seines Ursprungs zu erinnern.
Unverständlich blieb, dass danach weitere Redner gegen die damit ja aufgegebene Absicht der CDU polemisierten und das anhand einzelner, von der Entwicklung überholter Artikel jenes Grundgesetzes. Möglich, dass dazu die bei der Ankündigung fehlende Argumentation diesen Meinungsstreit ausgelöst hat.
Aus der 15. Tagung der Volkskammer noch offengebliebene Fragen beantwortete die Stellvertreterin des Vorsitzenden des Ministerrates für Wirtschaft, Prof. Dr. Christa Luft. Im Zusammenhang mit der sozialen Komponente der Wirtschaftsreform bezeichnete sie die Arbeitslosenunterstützung als eine Minimalforderung an das soziale Auffangnetz. Generell gehe es der jetzigen Regierung darum, das zu bewahren, was sich bewährt hat. Das sei ein Riegel gegen hemmungslose Marktwirtschaft. Auch künftig sei das Recht auf Arbeit gesichert, allerdings nicht auf eine bestimmte Arbeit an einem bestimmten Ort. Erforderlich seien Flexibilität und Mobilität der Arbeitskräfte. Die Regierung arbeite an einer Sozialcharta, die einen sozialverträglichen Weg zur Einheit garantieren soll. Das werde in die Verhandlungen über eine Währungs- und Wirtschaftsunion eingebracht. Christa Luft verdeutlichte, dass Sozialleistungen kein Geschenk seien, sondern künftig von jedem Bürger einen höheren eigenen Beitrag erfordern würden.
Umfängliche Überlegungen gebe es auch, Antwort Nr. 2, zum Import-und Exportgebaren. Entsprechende Analysen hätten dazu geführt, weniger für den Export denn für den Binnenmarkt zur Verfügung zu stellen, andere Produkte, soweit rentabel, sollten weiter vorwiegend dem Export vorbehalten bleiben. Als Kernfrage der Wirtschaftsreform bezeichnete Ministerin Prof. Luft die Förderung, nicht die Zügelung von Initiative. Steuergleichheit bedeute dabei Chancengleichheit. Entsprechende Gesetzentwürfe seien von dieser Tatsache gekennzeichnet. Chancengleichheit für alle Eigentumsformen garantiere das Gewerbegesetz, dass am heutigen Donnerstag [22.02.], im Ministerrat beraten werde.
Einen neuerlichen Appell an die Bürger des Landes verlas zum Ende der 17. Tagung Volkskammerpräsident Dr. Maleuda. Im Standpunkt des Präsidiums der Volkskammer heißt es, Einhalt geboten werden müsse allen Erscheinungen, die der Entwicklung der Demokratie entgegenstehen. Konsequenter Einsatz für Ordnung, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sei dringend geboten. Nur Gewaltlosigkeit, Ruhe und Besonnenheit seien dazu geeignet, die Krise nicht weiter zu vertiefen. Gefordert seien Toleranz und Respektierung von Andersdenkenden.
Von unseren Berichterstattern Carola Schütze und Friedrich Eismann
Neue Zeit, Nr. 45, Do. 22.02.1990, 46. Jahrgang