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JW-Gespräch mit Stasiauflöser Joachim Gauck (Bündnis 90/Grüne)

Sie kommt nicht aus den Schlagzeilen - die Staatssicherheit, RAF, Terroristenkontakte in aller Welt sind die jüngsten Stichworte. Ihre einstige Allmacht provoziert Fragen: Ist sie nun endlich aufgelöst? Arbeiten Mitglieder weiter? Baut man neue Überwachungsstrukturen auf? Seit einigen Wochen hat die Volkskammer einen Sonderausschuss zur Kontrolle der Stasiauflösung. Junge Welt sprach mit seinem Vorsitzenden, Joachim Gauck (Bündnis 90/Grüne).

Mit dem 30. Juni stellte auch die Hauptverwaltung Aufklärung des ehemaligen MfS offiziell ihre Tätigkeit ein. Wie schätzen Sie den Stand der Stasi-Auflösung ein?

Das wichtigste ist, dass die Gefahr, von diesem Moloch weiter kontrolliert, behindert, in der Lebensqualität eingeschränkt zu werden, sich erledigt hat. Ich weiß, dass es noch viele Ängste gibt vor den Stasi Leuten. Doch unsere Erkenntnisse besagen: Sie leben unter uns, aber sie haben keine Macht mehr.

Woran wird deutlich, dass die Strukturen der Stasi nicht mehr bestehen?

All ihre Untersuchungs- und Kontrollmaßnahmen können nicht mehr greifen. Selbst wenn es manchmal noch in der Leitung knack, steckt dahinter nicht die Stasi, sondern wohl eher der desolate Zustand des Telefonnetzes. Einige Mitarbeiter des MfS treffen sich noch. Aber sie arbeiten nicht mehr in den Bereichen, in denen sie früher arbeiten durften.

Aber es gibt noch die Offiziere im besonderen Einsatz, die OibE . . .

Ja, das ist ein besonderer Bereich. Der Sonderausschuss hat sich dieser Aufgabe in besonderem Maße angenommen.

Wie viele sind es etwa? Ursprünglich war von 2 000 die Rede.

Es hat sie noch keiner gezählt von denen, die sie zählen könnten. Ich denke, es werden weniger sein. Zumindest von jenen OibE's, die hier, in diesem Land gearbeitet haben.

Die lassen sich aber mit Namen und Hausnummer feststellen?

Das ist nicht einfach, aber möglich. Wir arbeiten daran.

Die OibE wurden doch vom MfS in Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft gebracht, um neben Informationen vor allem zusätzliche Sicherheit zu verschaffen. Wie soll es jetzt weitergehen mit ihnen?

Die Frage ist, ob die Gesellschaft es duldet, dass Menschen, die durch diesen Arbeitgeber in ein verdecktes Arbeitsverhältnis gekommen sind, weiterhin in dieser Position arbeiten. Die Möglichkeit, dass sie dort ihrem alten Dienstherren weiter dienen können, ist gering. Den gibt es ja nicht mehr.

Wie kann die Integration der Stasi-Leute gestaltet werden?

Wir wollen Integration. Dazu müssen Lernprozesse einsetzen, wohl bei allen Menschen in diesem Land. Schlimm finde ich, wenn Menschen, die sich in weniger einkömmlichen gesellschaftlichen Bereichen bewähren wollen, diese Möglichkeit entzogen wird. Früher riefen wir: "Stasi in die Produktion." Dann können wir ihnen jetzt nicht die Fabriktore vor der Nase zuschlagen. Natürlich gibt es bestimmte Bereiche wie die Polizei, die Rechtspflege, Personalpolitik, auch die Volksbildung. Da ist die Sensibilität besonders groß in der Bevölkerung. Hier muss eine politische Entscheidung getroffen und jeder Einzelfall betrachtet werden.

Vertreter von Bürgerkomitees monieren, dass Sie als Deckmantel benutzt werden, um geschützt vor den Augen der Öffentlichkeit neue Überwachungsstrukturen aufzubauen, zum Teil mit den alten Kräften.

Zunächst zu den Bürgerkomitees. Ihre Zeit ist vorbei. Doch wir wollen auf Kompetenz und Einsatzbereitschaft ihrer Mitarbeiter nicht verzichten. Viele wurden bei den Auflösungsstäben des staatlichen Komitees angestellt. Andere arbeiten in unserem Sonderausschuss mit. Zudem gibt es Kommunen wie Leipzig und Berlin, die ihr Stück der Aufarbeitung selber weiterführen wollen und dafür Mittel zur Verfügung stellen. Auf diese Weise kann die Arbeit der Bürgerkomitees sehr sinnvoll staatlich und parlamentarisch geordnet weitergeführt werden.

Welches Verhältnis haben Sie zum Verfassungsschutz der BRD?

Menschen meiner politischen Überzeugung halten in der Regel wenig von Geheimdiensten. Aber es geht nicht an, dass man den Verfassungsschutz der BRD schlichtweg gleichstellt mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Selbstverständlich hat jeder Geheimdienst die Neigung zur Omnipotenz. Aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die Dienste der Bundesrepublik mit dem aufbewahrten Stasi-Material schalten und walten können, wie sie wollen. Wenn in Strukturen wie die Antiterror-Einheit der Polizei, die zweifellos nötig sind, ehemalige Stasispezialisten übernommen werden, dann, um sie zu stärken. Ich möchte dem Innenminister dabei keine antidemokratischen Tendenzen unterstellen.

Was soll mit dem Stasi-Erbe der Millionen Informationen über Menschen geschehen?

Wir sind gegen Vernichtung. Die Untaten der Staatssicherheit und damit der SED-Staatsführung sollen beweisbar gehalten werden. Das Material darf natürlich nicht auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit und Ängste der Menschen verramscht werden. Sicherheitssysteme müssen auch noch der Einheit einen Missbrauch ausschließen. Aber der Schaden für die Gesundung unserer Gesellschaft wäre groß, wenn wir uns aus Angst dem Thema der Aufarbeitung entziehen, indem wir deren Grundlage vernichten.

Seit Monaten steht die Überprüfung der Abgeordneten auf der Tagesordnung. Wie weit ist man damit gekommen?

Es ist für uns schwer zu verstehen, dass noch kein Abschluss vorliegt. Eigentlich ist es schon zu spät. Da ist viel Vertrauen verspielt worden.

Gibt es Kräfte, die den Auflösungsprozess und die Aufarbeitung des Materials behindern?

Ein entscheidender Fehler lag bei der Regierung Modrow. Sie hat das Stasiproblem in erster Linie im Einverständnis mit dem MfS-Apparat lösen wollen und erst in zweiter Linie in Übereinstimmung mit der Bevölkerung. Die Zeiten von Leuten wie Schwanitz ist aber nun vorbei. Mit dem Ausschuss hat sich das Parlament ein Instrument geschaffen, das in allen Fragen zur Staatssicherheit die letzte Kontrolle hat. Damit ist eine neue Qualität in diese Aufarbeitung gekommen.

Ich möchte hier in der Gegenwart niemanden namhaft machen und sagen, der und der verhindert. Aber es gibt zweifellos verschiedene Auffassungen. Auch im Parlament. Die eine Gruppe von Abgeordneten sieht bei der Überprüfung mehr die komplizierten formaljuristischen Aspekte, die andere interessiert sich mehr für die gesellschaftlichen Erneuerungsprozesse und die Aufarbeitung. Diese beiden Gruppen müssen sich einigen.

Wird es auch in einem gesamtdeutschen Parlament einen Stasiausschuss geben?

Selbst wenn wir weiter so intensiv arbeiten, können wir die Arbeit nie und nimmer bis Dezember abgeschlossen haben. Wir machen Vorschläge, wie dieses Thema auch später im vereinigten Deutschland weiter bearbeitet werden kann. Die sollen Eingang in den zweiten Staatsvertrag finden. Wir gehen schon davon aus, dass das künftige Parlament erkennen wird, wie wichtig die Beschäftigung mit dieser Zeit und diesen Vorgängen ist.

Interview: Hendrik Thalheim

Junge Welt, Mi. 18.07.1990

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