Für Gewerkschaften — frei von jeglicher Bevormundung

Erklärung der Volkskammerfraktion des FDGB / Einberufung der obersten Volksvertretung noch an diesem Wochenende sowie neues Wahl- und Reisegesetz gefordert

Die FDGB-Fraktion der Volkskammer der DDR hat sich am Mittwoch, dem 8. November 1989, in einer ausführlichen und kritischen Diskussion mit der Lage in der DDR, besonders mit der Lage der Werktätigen und ihrer Gewerkschaften, beschäftigt. Die Abgeordneten der FDGB-Fraktion bekräftigten, dass die Gewerkschafter der DDR zu Recht eine eindeutige Position zur Arbeit der gewählten Volksvertreter erwarten. Sie unterstrichen ihren festen Willen, einen eigenständigen Beitrag zu leisten. Das schließt ein, jeglicher Bevormundung seitens staatlicher Leiter und Organe sowie politischer Parteien energisch entgegenzutreten. Oberstes Ziel muss sein, die Interessen der Werktätigen auf der Grundlage der weiteren Ausgestaltung des Sozialismus zu vertreten. Das betrifft besonders die Erhaltung der sozialer. Sicherheit.

Als dringendste Fragen, die sofort in Angriff genommen werden müssen, erklärt die Fraktion:

Erstens. Die FDGB-Fraktion will ihre Rechte und Pflichten entsprechend der Verfassung der DDR und der Geschäftsordnung der obersten Volksvertretung stärker wahrnehmen. Die Abgeordneten sind viel umfassender in die Tätigkeit der Volkskammer und ihrer Organe sowie in Entscheidungsfindungen einzubeziehen Voraussetzung ist ihre umfassende Information. In allen Volksvertretungen sind FDGB-Fraktionen zu bilden.

Zweitens. In einem Brief an den Präsidenten der Volkskammer beantragt die FDGB-Fraktion die Einberufung der Volkskammer zu ihrer nächsten Tagung noch am Wochenende. Dort ist eine gründliche Einschätzung der Lage in der DDR vorzunehmen. Die Fraktion ist sich des Ernstes der Lage im Lande voll bewusst. Der Vertrauensschwund auch zur obersten gewählten Volksvertretung darf sich nicht fortsetzen. Die Sprachlosigkeit muss überwunden werden. Unverzügliches Handeln ist notwendig.

Drittens. Die Fraktion des FDGB schlägt die Neuwahl des Präsidenten der Volkskammer vor. Aufgaben und Verantwortung des Präsidiums müssen neu festgelegt sowie weitere Kaderveränderungen vorgenommen werden.

Viertens. Die FDGB-Fraktion unterstützt den Antrag des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Bildung eines Ministeriums für Arbeit und Sozialpolitik. Sie fordert die Bildung eines Umwelt- und Wissenschaftsausschusses bei der Volkskammer und schließt sich dem Vorschlag an, den Ausschuss für Industrie, Bauwesen und Verkehr zu trennen.

Fünftens. Die FDGB-Fraktion unterstützt die Vorschläge des Bundesvorstandes zur Überarbeitung des Arbeitsgesetzbuches, für ein Gesetz zur Arbeiter- und Volkskontrolle, zur Sozialgesetzgebung und für ein Rentengesetz. Die Fraktion tritt für die Schaffung eines Gesetzes zur Regelung von Arbeitsstreitigkeiten, für die Neufassung des Wahlgesetzes und anderer Gesetzesvorlagen ein.

Sechstens. Die FDGB-Fraktion lehnt den Entwurf des Reisegesetzes in seiner jetzigen Fassung ab. Sie spricht sich für ein Gesetz aus, dass das Recht eines jeden Bürgers, in jeden Staat der Erde zu reisen und in die DDR zurückzukehren, nicht durch bürokratische Verfahren wie Ausreisevisum und lange Bearbeitungszeiten einschränkt.

Sie fordert die Regierung auf, in Verhandlungen mit der Regierung der BRD und dem Senat von Berlin (West) Regelungen zu erreichen, die die ökonomischen Interessen der DDR wahren.

Des weiteren verlangt die Fraktion vom Minister der Finanzen eine realistische Aussage über die Valutalage, damit alle Bürger selbst ihre Gedanken und Vorschläge zur Finanzierung von Auslandsreisen einbringen können.

Siebentens. Die Fraktion des FDGB teilt die wachsende Sorge der Bevölkerung und der Mitarbeiter des Handels über den zunehmenden Abkauf von Waren, deren Ausfuhr aus der DDR nicht erlaubt ist und die für spekulative Zwecke genutzt werden. Sie fordert von der amtierenden Regierung der DDR und den Staatsorganen Sofortmaßnahmen zur Beseitigung dieses Zustandes im Interesse der Bevölkerung sowie Maßnahmen zum Schutze des Verkaufspersonals gegen Übergriffe.

Tribüne, Organ des Bundesvorstandes des FDGB, Do. 09.11.1989, 45. Jahrgang, Ausgabe Nr. 221

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