9. Volkskammer 12. Tagung 18.11.1989


Bericht aus Berliner Zeitung


Seit Sonnabend hat die DDR wieder eine Regierung. Auf ihrer 12. Tagung schenkte die Volkskammer am Sonnabend dem Kabinett Modrow in Berlin ihr Vertrauen. Zu Beginn der Tagung wählten die Abgeordnete n der obersten Volksvertretung eine zwanzigköpfige Kommission zur Überprüfung von Amtsmissbrauch und Korruption. Die Parlamentarier beschlossen die Bildung von Kommissionen zur Änderung der Verfassung und zur Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes. Danach gab der Generalstaatsanwalt der DDR einen Zwischenbericht über die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung von Übergriffen der Sicherheitsorgane bei Demonstrationen um n 40. Jahrestag der Republik. Dem schloss sich eine Debatte an.

Noch kurz vor der Wahl der Regierung hatte Modrow einen seiner Kandidaten ausgewechselt: Statt Poßner wurde Prof. Emons als Minister für Bildung und Jugend vorgeschlagen. Wie später auf einer Pressekonferenz der Regierung zu erfahren war, gab die höhere Kompetenz Emons für dieses komplexe Ministerium den Ausschlag.

Bei übergroßer Mehrheit, nur fünf Gegenstimmen und sechs Enthaltungen, stimmten die Abgeordneten der obersten Volksvertretung der Ministerliste zu. Kammerpräsident Maleuda (DBD) gratulierte im Namen der Parlamentarier den 28 Mitgliedern des Ministerrates und wünschte ihnen für ihr schweres Amt Erfolg.

Nächster Tagesordnungspunkt war die Bildung eines zeitweiligen Ausschusses der Volkskammer zur Überprüfung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption, der persönlichen Bereicherung und anderer Handlungen, bei denen der Verdacht der Verletzung von Gesetzen besteht. Auch hier hatte die SED-Fraktion noch in letzter Minute ihre beiden Kandidaten für die Kommission ausgetauscht. Die Volkskammer beschloss folgende Zusammensetzung:

Bärbel Aust (VdgB), Klaus-Dieter Bormann (FDGB), Dr. Manfred Brendel (LDPD), Siegfried Burkhardt (VdgB), Gustav-Adolf Schur (SED), Susanne Häber (DBD), Hans Härtel (FDJ), Prof. Dr. Volker Klemm (NDPD), Claus-Dieter Knöfler (LDPD), Ursula Köckritz (DFD), Kerstin Kralowetz (FDJ), Dr. Rosemarie Krautzig (CDU), Wolfgang Lesser (KB), Dr. Elke Löbl (FDGB), Thomas Singer (SED), Inge Müller (DFD), Prof. Dr. Peter Schwartze (KB), Prof. Dr. Gerd Staegemann (NDPD), Dr. Heinrich Toeplitz (CDU), Wilhelm Weißgärber (DBD).

Anschließend teilte Maleuda mit, dass die Volkskammer in den vergangenen Tagen Schreiben erhalten habe, in denen Ehefrauen und Kinder von Funktionären betroffen mitteilen, dass sie für Anschuldigungen gegen ihre Männer und Väter bereits öffentlich vorverurteilt werden, obwohl bisher solche Vorwürfe noch nicht untersucht oder nachgewiesen sind.

In einer Erklärung unterstrichen die Abgeordneten:

"Das Präsidium und die Abgeordneten der Volkskammer vertreten den Standpunkt, dass solche Sippenbeschuldigungen, zumal vor erfolgten gründlichen Prüfungen, nicht mit Recht und Moral vereinbar sind. Bei allem Verständnis für dabei auftretende Emotionen darf nicht zugelassen werden, dass Bürgermeister, Vorsitzende örtlicher Räte und andere Funktionäre, die oft seit Jahrzehnten in treuer Pflichterfüllung für die DDR und die Bürger gearbeitet und gelebt haben, heute unterschiedslos und ohne schlüssige Beweise für eventuelles ungesetzliches Handeln diffamiert und bedroht werden.

Das Präsidium und die Abgeordneten der Volkskammer halten es für geboten, gerade in diesen für unser Land so schweren Tagen Ruhe und Besonnenheit zu wahren, für Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Gleichheit aller vor dem Gesetz einzutreten. In diesem Sinne appellieren wir an Vernunft und Anstand aller Bürgerinnen und Bürger."

Da die jüngsten Debatten der Volkskammer davon gezeugt hatten dass auch die Geschäftsordnung des Hohen Hauses den neuen Anforderungen an Parlamentarismus nicht mehr gerecht wird, wurde der zuständige Ausschuss mit deren Überarbeitung beauftragt. Einstimmig wurde die Bildung einer Kommission zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Republik beschlossen. Innerhalb von vier Wochen, so einigten sich die Abgeordneten bei einer Gegenstimme, wird ein zeitweiliger Ausschuss zur Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes seine Arbeit aufnehmen. Darin sollen nicht nur Vertreter aller Fraktionen, sondern auch weitere Experten mitwirken. Dieses Gremium soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt einen Entwurf vorlegen, der in erster Lesung im Parlament beraten und gleichzeitig der Öffentlichkeit zur Diskussion unterbreitet wird.

Anschließend verlas Generalstaatsanwalt Wendland einen Untersuchungsbericht über die Übergriffe der Sicherheitsorgane bei den Demonstrationen am 7. und 8. Oktober. Insgesamt habe es in jenen Tagen 3 456 Zuführungen gegeben, vor allem in Berlin und Dresden. Die Einsätze der Sicherheitskräfte basierten auf einer Fehleinschätzung der politischen Führung des Landes. Inzwischen wird von selten der Staatsanwaltschaft bereits 480 Anzeigen wegen Übergriffen der Sicherheitsorgane nachgegangen. 76 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet, 43 davon gegen Unbekannt. Beobachter der Tagung hatten jedoch den Eindruck, dass Wendland Schuldzuweisungen für die Ereignisse um den 40. Jahrestag der DDR paritätisch verteilen wollte.

Viele der Abgeordneten nutzten die Gelegenheit, an den Generalstaatsanwalt Fragen zu stellen und Standpunkte zu den Vorgängen zu äußern. So wurde nach der Wiedergutmachung angerichteter Schäden sowie nach der persönlichen materiellen Verantwortlichkeit gefragt Wendland erklärte dazu, dass Ansprüche auf Ausgleich von Lohnausfällen natürlich beglichen und die gesetzwidrig handelnden Verursacher materiell zur Verantwortung gezogen werden. Auf eine weitere Anfrage erklärte er, dass politische Meinungsäußerungen grundsätzlich nicht kriminalisiert werden dürften. Das werde nun unter seiner Leitung durchgesetzt. Dass Angehörige der Staatssicherheit sich in provozierender Weise in Demonstrationen eingemischt hätten, könne er aufgrund der bisherigen Ermittlungen nicht bestätigen. Man werde jedoch auch solche Hinweise berücksichtigen. Auf die Frage, welchen juristischen Wert die Unterschrift von Verhafteten hätte, mit denen sie wider besseres Wissen versichern mussten, dass sie keinerlei Repressionen ausgesetzt waren, antwortete der oberste DDR-Anklagevertreter: keinen.

Über erschreckende persönliche Erlebnisse aus jüngster Zeit berichtete die Abgeordnete Ellen Brombacher (SED). Statt auf übelste Weise beschimpft zu werden, müsse wieder eine Atmosphäre herbeigeführt werden, die es Kommunisten erlaubt sich ohne Ängste in der Öffentlichkeit zu bewegen. Wie ein weiterer Abgeordneter forderte sie unter dem Beifall des Parlaments, dass die Schutz- und Sicherheitsorgane ihre ganze Kraft gegen sich verstärkende terroristische und neo-faschistische Tendenzen im Lande einsetzen. Wie sehr das nötig ist, bewies ein weiterer Volksvertreter, der ein Flugblatt verlas, in dem offen zur Sabotage aufgerufen wurde. In diesem Zusammenhang erklärte Präsident Maleuda unter starkem Beifall: Wir setzen auf die Vernunft der Bürger unseres Landes.
Von unseren Berichterstattern Axel Knack und Rainer Stephan

Berliner Zeitung, Mo. 20.11.1989, Nr. 273, Jahrgang 45, Ausgabe 273

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