9. Volkskammer 12. Tagung 17./18.11.1989


Bericht aus Neues Deutschland, Berliner Zeitung


Berlin. Die Volkskammer der DDR trat am Freitagvormittag in Berlin zu ihrer 12. Tagung zusammen. Sie nahm die Regierungserklärung des zu Wochenbeginn gewählten Vorsitzenden des Ministerrates, Dr. Hans Modrow (SED), entgegen. Dazu sprachen 25 Redner in einer von Sachlichkeit und Verantwortungsbewusstsein beherrschten Debatte, die zahlreiche Vorschläge zu den anstehenden Reformen ergab. Die Regierungserklärung erhielt am Abend die Zustimmung aller Abgeordneten. Die Volkskammer berief mehrere Mitglieder des Staatsrates ab, wählte Prof. Dr. Manfred Mahlmann (NDPD) zum Stellvertreter des Vorsitzenden und Gerhard Lindner (LDPD) zum Mitglied des Staatsrates. Die Sitzung wird heute [18.11.] fortgesetzt

Die mit Spannung erwartete Tagung begann mit dem ungewöhnlichen und ungewohnten Bild, dass auf der Regierungsbank nur ein Platz besetzt war: der Dr. Hans Modrows, des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR. Seine Regierungserklärung war wichtigster Tagesordnungspunkt.

"Diese Regierung wird eine Regierung des Volkes und der Arbeit sein. Sie ist eine Regierung des Friedens und des Sozialismus", so kennzeichnete Hans Modrow den künftigen Ministerrat, der als eine Regierung der Koalition, eines neu verstandenen kreativen Bündnisses entstand. "Sie will alles tun, damit die eben begonnene demokratische Erneuerung des gesamten öffentlichen Lebens tiefe Wurzeln bekommt und behält", sagte der Ministerpräsident. "Dem Volk der DDR, das einen guten Sozialismus will, wird diese Regierung verpflichtet sein", bekannte er.

Ausführlich erläuterte der Ministerpräsident, welche Reformen die Regierung zunächst in Angriff nehmen will - in Übereinstimmung mit allen politischen Kräften des Landes, zügig, aber nicht überhastet, nach ordentlichen Analysen und öffentlichen Diskussionen. Es sind Reformen des politischen Systems, verbunden mit gesetzgeberischen Schritten, um Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit zu stärken; eine Wirtschaftsreform, die auf Eigenerwirtschaftung, Effektivität, vernünftige Leitung und Planung und Durchsetzung des Leistungsprinzips zielt: eine Bildungsreform; ein Programm, um Ökonomie und Ökologie in Übereinstimmung zu bringen und zu halten sowie eine Verwaltungsreform.

Dann legte Hans Modrow den Vorschlag für die Zusammensetzung des Ministerrates vor, der aus Vertretern aller fünf Parteien bestehen und statt 45 nur noch 28 Mitglieder zählen soll.

Es sei das Ziel dieser Regierung, alles zu tun, damit die DDR den Anforderungen gerecht wird, die an den sozialistischen deutschen Staat als Faktor der Sicherheit und Stabilität in Europa gestellt werden; bekräftigte der Regierungschef.

Die nun folgende Debatte zeigte bei aller Zustimmung zur Regierungserklärung doch Unterschiede im Herangehen an die Zusammenarbeit und in Einzelfragen. Sie wurde - die Reihenfolge war ausgelost worden - von Prof. Dr. Manfred Gerlach für die LDPD eröffnet. Er entwickelte u. a. die Prinzipien der LDPD für künftige Wahlen und stellte der Regierung einen Fragenkatalog. Dr. Karl-Heinz Werner (DBD), und dar CDU-Vorsitzende Lothar de Maizière dagegen erklärten, dass ihre Parteien diese Volkskammertagung nicht als Auftakt eines Wahlkampfes ansehen. Der CDU-Vorsitzende hatte laut Geschäftsordnung das Rederecht erhalten, obwohl er nicht Abgeordneter ist. Die NDPD, sagte Günter Hartmann, werde kontrollieren, dass SED und Staat nicht länger verflochten sind. Die SED-Fraktion, erklärte Wolfgang Herger, übernimmt die Verantwortung, dass sich künftig weder Politbüro noch Zentralkomitee in die Kompetenz der Regierung einmischen. Er sprach sich dagegen aus, dass alle SED-Mitglieder verantwortlich für die Deformationen gemacht werden und dankte unter dem Beifall der meisten Abgeordneten den Genossen für ihr standhaftes Wirken in diesen Tagen. Katrin Hensel (FDJ) fand in der Regierungserklärung die Interessen der Jugend widergespiegelt. Die Interessenvertretung der Bauern solle man nicht allein Parteien überlassen, entgegnete Annette Römhild (VdgB) auf die in der Diskussion aufgeworfene Frage, die Volkskammer nur noch durch Parteien zu bilden. Auch der Kulturbund hat in diesem Parlament eine Tradition zu verteidigen und fortzuführen, sagte Prof. Dr. Karl-Heinz Schulmeister zum gleichen Diskussionspunkt. Der DFD wolle sich für alle Frauen öffnen, die sich für Sozialismus und Frieden einsetzen, betonte Eva Rohmann (DFD). Dr. Fritz Rösel (FDGB) hob hervor, dass es nun gelte, die Voraussetzungen zu schaffen, damit alle Bürger auf der Grundlage des Leistungsprinzips arbeiten können.

Nach den Sprechern der Fraktionen ergriffen das Wort Dr. Thomas Speck (FDJ), Gustav-Adolf Schur (SED), Dr. Witho Holland (LDPD), Gerald Schmidt (DBD), Prof. Dr. Eberhard Kallenbach (NDPD), Dr. Gerhard Pohl (CDU), Prof. Dr. Gregor Schirmer (KB), Petra Rau (FDGB), Prof. Dr. Karlheinz Arnold (SED), Dieter Stollberg (LDPD), Prof. Dr. Gerhard Baumgärtel (CDU), Renate Ritter (DBD), Gero Hammer (NDPD), Dr. Gottfried Engelmann (LDPD), Wolfgang Junker (SED).

Zu Beginn der Volkskammertagung ging es um personelle Veränderungen. Die CDU hatte beantragt, dem Wunsch Wolfgang Heyls zu entsprechen, ihn aus gesundheitlichen Gründen von seiner Funktion als Mitglied des Präsidiums der Volkskammer zu entbinden. Sie beantragte, Adolf Niggemeier in dieses Amt zu wählen. Die Abgeordneten billigten das.

Die Fraktion der SED schlug vor, Horst Sindermann, Willi Stoph, Kurt Hager, Werner Krolikowski und Harry Tisch von ihren Ämtern im Staatsrat zu entbinden. Die Fraktion behält es sich vor, zum gegebenen Zeitpunkt Vorschläge zur Wahl in den Staatsrat zu unterbreiten. Gerald Götting (CDU) teilte mit, dass er als Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates zurücktrete. Das Präsidium des Hauptausschusses der NDPD übermittelte die Absicht Prof. Dr. Heinrich Homanns, von seinem Amt als Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates zurückzutreten. Die LDPD beantragte die Abberufung Dr. Peter Moreths als Mitglied des Staatsrates, da er für eine andere Aufgabe vorgesehen sei. Alle diese Anträge wurden einstimmig gebilligt.

Dann wählte die Volkskammer auf Antrag der NDPD Prof. Dr. Manfred Mühlmann einstimmig zum Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates und auf Antrag der LDPD Gerhard Lindner bei einer Stimmenthaltung zum Mitglied des Staatsrates. Beide leisteten den in der Verfassung verlangten Eid.

Die Volkskammer billigte anschließend auf Antrag der SED-Fraktion die Aufhebung der Mandate von 27 Abgeordneten und das Nachrücken entsprechender gewählter Nachfolgekandidaten. Die Namen wurden bereits am Freitag im ND veröffentlicht. Gerald Götting (CDU) wurde auf seine Bitte hin ebenfalls als Abgeordneter abberufen. Das Mandat des verstorbenen Abgeordneten Horst Brasch (SED) ist durch die Nachfolgekandidat Dr. Helga Heinrich (SED) neu besetzt worden.

Die Debatte der vorangegangenen 11. Tagung wird, so teilte der Volkskammerpräsident mit, am 1. Dezember in einer geschlossenen Sitzung, die den Charakter einer Fragestunde und einer Debatte haben sollte, fortgesetzt.

Volkskammerpräsident Dr. Günther Maleuda versicherte, dass alle der obersten Volksvertretung seit der 11. Tagung zugegangenen Hinweise und Vorschlage, Kritiken und Anregungen erfasst und den zuständigen Organen der Volkskammer zugeleitet und in deren Arbeit berücksichtigt werden.
Von unseren Berichterstattern Günter Fleischmann und Karin Wenk

Neues Deutschland, Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Nr. 272, 44. Jahrgang, B-Ausgabe, Sa. 18.11.1989

Seit Sonnabend hat die DDR wieder eine Regierung. Auf ihrer 12. Tagung schenkte die Volkskammer am Sonnabend dem Kabinett Modrow in Berlin ihr Vertrauen. Zu Beginn der Tagung wählten die Abgeordnete n der obersten Volksvertretung eine zwanzigköpfige Kommission zur Überprüfung von Amtsmissbrauch und Korruption. Die Parlamentarier beschlossen die Bildung von Kommissionen zur Änderung der Verfassung und zur Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes. Danach gab der Generalstaatsanwalt der DDR einen Zwischenbericht über die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung von Übergriffen der Sicherheitsorgane bei Demonstrationen um n 40. Jahrestag der Republik. Dem schloss sich eine Debatte an.

Noch kurz vor der Wahl der Regierung hatte Modrow einen seiner Kandidaten ausgewechselt: Statt Poßner wurde Prof. Emons als Minister für Bildung und Jugend vorgeschlagen. Wie später auf einer Pressekonferenz der Regierung zu erfahren war, gab die höhere Kompetenz Emons für dieses komplexe Ministerium den Ausschlag.

Bei übergroßer Mehrheit, nur fünf Gegenstimmen und sechs Enthaltungen, stimmten die Abgeordneten der obersten Volksvertretung der Ministerliste zu. Kammerpräsident Maleuda (DBD) gratulierte im Namen der Parlamentarier den 28 Mitgliedern des Ministerrates und wünschte ihnen für ihr schweres Amt Erfolg.

Nächster Tagesordnungspunkt war die Bildung eines zeitweiligen Ausschusses der Volkskammer zur Überprüfung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption, der persönlichen Bereicherung und anderer Handlungen, bei denen der Verdacht der Verletzung von Gesetzen besteht. Auch hier hatte die SED-Fraktion noch in letzter Minute ihre beiden Kandidaten für die Kommission ausgetauscht. Die Volkskammer beschloss folgende Zusammensetzung:

Bärbel Aust (VdgB), Klaus-Dieter Bormann (FDGB), Dr. Manfred Brendel (LDPD), Siegfried Burkhardt (VdgB), Gustav-Adolf Schur (SED), Susanne Häber (DBD), Hans Härtel (FDJ), Prof. Dr. Volker Klemm (NDPD), Claus-Dieter Knöfler (LDPD), Ursula Köckritz (DFD), Kerstin Kralowetz (FDJ), Dr. Rosemarie Krautzig (CDU), Wolfgang Lesser (KB), Dr. Elke Löbl (FDGB), Thomas Singer (SED), Inge Müller (DFD), Prof. Dr. Peter Schwartze (KB), Prof. Dr. Gerd Staegemann (NDPD), Dr. Heinrich Toeplitz (CDU), Wilhelm Weißgärber (DBD).

Anschließend teilte Maleuda mit, dass die Volkskammer in den vergangenen Tagen Schreiben erhalten habe, in denen Ehefrauen und Kinder von Funktionären betroffen mitteilen, dass sie für Anschuldigungen gegen ihre Männer und Väter bereits öffentlich vorverurteilt werden, obwohl bisher solche Vorwürfe noch nicht untersucht oder nachgewiesen sind.

In einer Erklärung unterstrichen die Abgeordneten:

"Das Präsidium und die Abgeordneten der Volkskammer vertreten den Standpunkt, dass solche Sippenbeschuldigungen, zumal vor erfolgten gründlichen Prüfungen, nicht mit Recht und Moral vereinbar sind. Bei allem Verständnis für dabei auftretende Emotionen darf nicht zugelassen werden, dass Bürgermeister, Vorsitzende örtlicher Räte und andere Funktionäre, die oft seit Jahrzehnten in treuer Pflichterfüllung für die DDR und die Bürger gearbeitet und gelebt haben, heute unterschiedslos und ohne schlüssige Beweise für eventuelles ungesetzliches Handeln diffamiert und bedroht werden.

Das Präsidium und die Abgeordneten der Volkskammer halten es für geboten, gerade in diesen für unser Land so schweren Tagen Ruhe und Besonnenheit zu wahren, für Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Gleichheit aller vor dem Gesetz einzutreten. In diesem Sinne appellieren wir an Vernunft und Anstand aller Bürgerinnen und Bürger."

Da die jüngsten Debatten der Volkskammer davon gezeugt hatten dass auch die Geschäftsordnung des Hohen Hauses den neuen Anforderungen an Parlamentarismus nicht mehr gerecht wird, wurde der zuständige Ausschuss mit deren Überarbeitung beauftragt. Einstimmig wurde die Bildung einer Kommission zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Republik beschlossen. Innerhalb von vier Wochen, so einigten sich die Abgeordneten bei einer Gegenstimme, wird ein zeitweiliger Ausschuss zur Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes seine Arbeit aufnehmen. Darin sollen nicht nur Vertreter aller Fraktionen, sondern auch weitere Experten mitwirken. Dieses Gremium soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt einen Entwurf vorlegen, der in erster Lesung im Parlament beraten und gleichzeitig der Öffentlichkeit zur Diskussion unterbreitet wird.

Anschließend verlas Generalstaatsanwalt Wendland einen Untersuchungsbericht über die Übergriffe der Sicherheitsorgane bei den Demonstrationen am 7. und 8. Oktober. Insgesamt habe es in jenen Tagen 3 456 Zuführungen gegeben, vor allem in Berlin und Dresden. Die Einsätze der Sicherheitskräfte basierten auf einer Fehleinschätzung der politischen Führung des Landes. Inzwischen wird von selten der Staatsanwaltschaft bereits 480 Anzeigen wegen Übergriffen der Sicherheitsorgane nachgegangen. 76 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet, 43 davon gegen Unbekannt. Beobachter der Tagung hatten jedoch den Eindruck, dass Wendland Schuldzuweisungen für die Ereignisse um den 40. Jahrestag der DDR paritätisch verteilen wollte.

Viele der Abgeordneten nutzten die Gelegenheit, an den Generalstaatsanwalt Fragen zu stellen und Standpunkte zu den Vorgängen zu äußern. So wurde nach der Wiedergutmachung angerichteter Schäden sowie nach der persönlichen materiellen Verantwortlichkeit gefragt Wendland erklärte dazu, dass Ansprüche auf Ausgleich von Lohnausfällen natürlich beglichen und die gesetzwidrig handelnden Verursacher materiell zur Verantwortung gezogen werden. Auf eine weitere Anfrage erklärte er, dass politische Meinungsäußerungen grundsätzlich nicht kriminalisiert werden dürften. Das werde nun unter seiner Leitung durchgesetzt. Dass Angehörige der Staatssicherheit sich in provozierender Weise in Demonstrationen eingemischt hätten, könne er aufgrund der bisherigen Ermittlungen nicht bestätigen. Man werde jedoch auch solche Hinweise berücksichtigen. Auf die Frage, welchen juristischen Wert die Unterschrift von Verhafteten hätte, mit denen sie wider besseres Wissen versichern mussten, dass sie keinerlei Repressionen ausgesetzt waren, antwortete der oberste DDR-Anklagevertreter: keinen.

Über erschreckende persönliche Erlebnisse aus jüngster Zeit berichtete die Abgeordnete Ellen Brombacher (SED). Statt auf übelste Weise beschimpft zu werden, müsse wieder eine Atmosphäre herbeigeführt werden, die es Kommunisten erlaubt sich ohne Ängste in der Öffentlichkeit zu bewegen. Wie ein weiterer Abgeordneter forderte sie unter dem Beifall des Parlaments, dass die Schutz- und Sicherheitsorgane ihre ganze Kraft gegen sich verstärkende terroristische und neo-faschistische Tendenzen im Lande einsetzen. Wie sehr das nötig ist, bewies ein weiterer Volksvertreter, der ein Flugblatt verlas, in dem offen zur Sabotage aufgerufen wurde. In diesem Zusammenhang erklärte Präsident Maleuda unter starkem Beifall: Wir setzen auf die Vernunft der Bürger unseres Landes.
Von unseren Berichterstattern Axel Knack und Rainer Stephan

Berliner Zeitung, Mo. 20.11.1989, Nr. 273, Jahrgang 45, Ausgabe 273

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