9. Volkskammer 14. Tagung 11.01.1990
Berichte aus Berliner Zeitung, Neues Deutschland
Klare Worte waren es, die Ministerpräsident Modrow in seiner zweiten Regierungserklärung der noch kurzen, gerade zweimonatigen Amtszeit wählte. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen standen die innenpolitisch komplizierte Situation des Landes sowie die angespannte Wirtschaftslage. Er plädierte für eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch.
Unter dem Beifall der Abgeordneten forderte er gleichzeitig, die Legitimation seiner Regierung nicht in Frage zu stellen. "Ich kann mich nicht entsinnen", so Modrow, "durch einen Staatsstreich Ministerpräsident geworden zu sein." In seiner knapp eineinhalbstündigen Rede vor dem Hohen Haus bekräftigte er die Unumkehrbarkeit der Demokratisierung und dankte den Werktätigen, den Besonnenen und Unruhigen für ihren Rat, ihre Kritik und ihre Tat.
Ausführlich ging der Regierungschef auf die angestrebte Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch ein. Deren Rat brauche und suche die Regierung, da er nachhaltigen Einfluss auf die Stabilität im Lande ausüben könne. Entgegen den Zielstellungen sei im vergangenen Jahr das Nationaleinkommen um vier Milliarden Mark zu gering ausgefallen. Durch die Werktätigen sei eine stärkere Leistungsentwicklung in den Betrieben und Kombinaten anzustreben. Eine Währungsreform sei nicht vorgesehen. Statt der Staatlichen Plankommission solle ein Wirtschaftskomitee, an dessen Arbeit auch der Runde Tisch beteiligt werden sollte, die strategischen Wirtschaftsaufgaben beraten. Er kündigte für den kommenden Montag einen Bericht über die innere Sicherheit an.
Nicht auf der Tagesordnung stehe, so Premier Modrow, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Gleichzeitig warnte er vor Einmischungsversuchen von außen in den Wahlkampf. Das könne nur das Verhältnis zwischen der DDR und der BRD belasten.
Zu Beginn der Parlamentsdebatte hatte sich, wie inzwischen schon fast üblich, das Kaderkarussell gedreht. So gab es Mandatsveränderungen sowie solche im Volkskammerpräsidium und im Staatsrat. Nach der Rede von Modrow wurden Prof. Wünsche (LDPD), Dr. Lauck (SED-PDS) und Dr. Diederich (DBD) zu Mitgliedern des Ministerrates sowie Dr. Joseph zum Generalstaatsanwalt gewählt.
Nach dem Hick-Hack der letzten Wochen gelang es der obersten Volksvertretung nun nach der zweiten Lesung endlich, das Reisegesetz mit geringfügigen Veränderungen zu verabschieden. BZ veröffentlicht es morgen. Es tritt am 1. Februar in Kraft. Wirtschaftsministerin Prof. Luft begründete einen Verfassungsänderungsentwurf, der die Beteiligung ausländischen Kapitals an DDR-Unternehmen ermöglicht. Damit könne die DDR intensiver an der internationalen Arbeitsteilung teilnehmen.
Ein Versprecher des Verteidigungsministers Hoffmann bei der Begründung des Zivildienstgesetzentwurfs - es wurde in der Kammer in erster Lesung behandelt - fand den lautstarken Beifall der im Rang anwesenden Mitglieder des Runden Tisches. Der Minister hatte irrtümlich von einem sechsmonatigen Wehrdienst gesprochen, jedoch den ein halbes Jahr länger währenden Zivildienst im Gegensatz zum Grundwehrdienst von einem Jahr gemeint.
Verabschiedet wurde nach der Begründung von Leichtindustrieminister Halm und einer kurzen Debatte mit zwei Gegenstimmen ein Gesetz zur Änderung des Handwerksförderungsgesetzes
Vor der zeitaufwendigen Ausarbeitung eines Rahmengesetzes für Handwerk und Gewerbe sollten damit möglichst schnell zusätzliche Leistungsanreize geschaffen werden. Es sieht eine günstigere Besteuerung vor und die Möglichkeit, mehr als zehn Beschäftigte einzustellen. Eine ebenfalls komplikationslos angenommene Änderung des Luftfahrtgesetzes ermöglicht nunmehr, Hängegleiter und ähnliche Geräte in der DDR zu betreiben.
Neu geregelt werden soll das Staatsbürgerschaftsgesetz, das in erster Lesung behandelt wurde. Damit würde dieses Gesetz mit internationalem Recht in Übereinstimmung gebracht werden. Anschließend wurde dem Staatsrat der Vorschlag unterbreitet, die Volkskammerwahlen für den 6. Mai dieses Jahres auszuschreiben. Die Wahlen zu den örtlichen Volksvertretungen und regionalen Parlamenten sollten im Zusammenhang mit der anstehenden Verwaltungsreform später stattfinden.
In einem Bericht der Kommission zur Ergänzung und Änderung der Verfassung vor dem Hohen Haus wurde darauf verwiesen, dass die bisherige von stalinistischen Positionen geprägt sei, so dass eine völlig neue Verfassung notwendig sei. Der Volkskammerausschuss zur Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes hat unter Hinzuziehung von Hunderten Hinweisen aus der Bevölkerung einen Entwurf erarbeitet, der Varianten eines reinen Verhältnis- und eines kombinierten Wahlrechts enthält. Emotionsgeladen debattierten die Abgeordneten, dass sie vom Entwurf dieses Gesetzes aus westlichen Medien erfahren hätten. Entrüstung auch, dass der Text zwar dem Runden Tisch, nicht aber den gewählten Volksvertretern bisher übergeben worden sei.
Die zweitägige Debatte wird heute mit der Aussprache zur Regierungserklärung fortgesetzt. Nach Beendigung der gestrigen Sitzung demonstrierten Tausende Bürger vor dem Hause der Volkskammer.
Von unseren Berichterstattern R. Stephan und A. Knack
Berliner Zeitung Nr. 10, 46. Jahrgang, Fr. 12.01.199
Berlin (ND). Auf der 14. Tagung der Volkskammer am Donnerstag gab der Vorsitzende des Ministerrates, Hans Modrow, eine umfassende Einschätzung der Lage in der Republik. Zugleich legte er Rechenschaft über die bisherige achtwöchige Tätigkeit der von ihm geführten Koalitionsregierung ab. "Wenn die DDR in dieser Zeit so manche harte Prüfung bestanden, wenn sie ein Stück Demokratie, ein Stück Freiheit und Ansehen gewonnen hat, so ist dies das Verdienst des Volkes, das sich auf einen neuen, einen guten Weg gemacht hat", sagte, der Regierungschef und sprach seinen Dank aus. Eine neue Politik sei begonnen worden, obwohl noch viel von der alten aufzuarbeiten sei. Er teile die Sorgen vieler Bürger um die Zukunft, habe aber auch begründeten Optimismus zu sagen: Wir alle gemeinsam besitzen Kraft und wirtschaftliche Substanz, um uns den Problemen zu stellen.
Im weiteren Verlauf seiner Rede nahm der Ministerpräsident unter anderem zu folgenden Problemen Stellung:
ÜBERBRÜCKUNGSGELD. Dir Proteste gegen die Zahlung eines Ausgleichsbetrages bis zu maximal drei Jahren für ehemalige Mitarbeiter der Staatsorgane richteten sich gegen eine Vereinbarung, die auf Verlangen der zuständigen Gewerkschaft getroffen wurde. Angesichts des öffentlichen Unmutes hat der Ministerrat die Vereinbarung gekündigt. Auch hinsichtlich der Differenzzahlungen für ehemalige Mitarbeiter des Amtes für Nationale Sicherheit ist man dabei, eine neue Regelung zu suchen. Als Alternative nannte der Regierungschef eine Differenzzahlung für ein Jahr oder eine einmalige Zuwendung.
SICHERHEIT. Internationale Erfahrungen lehren, dass es neben der Armee und der Polizei verfassungsmäßige Dienste geben muss, die mit spezifischen Mitteln Rechtsstaatlichkeit und -sicherheit zu gewährleisten haben. Dazu seien Nachrichtendienst und Verfassungsschutz unter ziviler Leitung bestimmt unter parlamentarischer Kontrolle sowie mit der notwendigen Öffentlichkeit. Dabei gehe es keinesfalls darum, betonte der Redner, die Struktur des ehemaligen MfS aufrechtzuerhalten oder deren Arbeit fortzusetzen. Die Regierung werde zum 15. Januar am Runden Tisch eine detaillierte Information über die Sicherheitslage geben.
RUNDER TISCH. Die Regierung habe sich zu konstruktiver Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch bekannt und beweise dies durch die Tat. Zugleich wandte sich der Ministerpräsident gegen Versuche, die Legitimation der Regierung zu bestreiten. Er könne sich nicht erinnern, durch einen Staatsstreich Ministerpräsident geworden zu sein.
WIRTSCHAFTSLAGE. 1989 wurden vier Milliarden Mark weniger Nationaleinkommen als geplant erreicht. In 70 Kombinaten traten Gewinneinbußen von 2,1 Mrd. Mark ein. Der Rückgang der Produktion beruhe im November/Dezember zu zwei Dritteln auf dem Weggang von Arbeitskräften. Bei der Erarbeitung des Planes 1990 bis Mitte Februar habe man sich darauf einzustellen, dass ausgehend von den objektiven Bedingungen das Produktionsvolumen im Jahre 1990 nicht höher liegen kann als 1989. Außerdem erklärte Hans Modrow: Eine Währungsreform ist nicht vorgesehen, und die Spareinlagen der Bevölkerung werden garantiert.
AUSSENWIRTSCHAFT. Statt eines vorgesehenen Exportüberschusses kam es 1989 zum Importüberschuss. Notwendig sei, in diesem Jahr hohe Exporteinnahmen zu realisieren und mit Importen sparsamer umzugehen. "Einer solchen Beschränkung der wirtschaftlichen Möglichkeiten im Inland müssen wir uns zweifellos stellen." Aufträge für Produktionsumstellungen wurden erteilt, erklärte der Regierungschef. Damit soll vor allem die Produktion jener Maschinen erhöht werden, die auf dem Weltmarkt gefragt und rentabel absetzbar sind.
INTERNATIONALE KOOPERATION. Von einem Ausverkauf der DDR im Zuge der Wirtschaftsreform könne keine Rede sein. "Nicht übermäßige, sondern ungenügende Hinwendung der DDR zu internationaler Kooperation hat unsere Wirtschaft in die gegenwärtige Lage gebracht. Nicht sogenannte nationale Autarkie haben wir nötig, sondern internationale Arbeitsteilung."
AUSSENPOLITIK. Die DDR will sich auch künftig in ihren Beziehungen nach Ost und West als verlässlich und insbesondere für seine Nachbarn als zuverlässig erweisen. Eine Vereinigung von DDR und BRD stehe nicht auf der Tagesordnung. Die DDR unterstützt den Vorschlag, in diesem Jahr ein Gipfeltreffen der KSZE-Staaten abzuhalten.
Neues Deutschland B-Ausgabe Nr. 10, 45. Jahrgang, Fr. 12.01.1990