9. Volkskammer 13. Tagung 01.12.1989
Berichte aus Der Morgen
Berlin. - Mit fünfzigminütiger Verspätung, da sich Präsidium und Fraktionen noch zu Beratungen zurückgezogen hatten, sowie einer Umstellung in der Reihenfolge in der Tagesordnung begann am Freitag die 13. Tagung der Volkskammer der DDR in Berlin. Im Mittelpunkt der Vormittags-Sitzung standen das Gesetz zur Veränderung der Verfassung der DDR und die 1. Lesung des Reisegesetzes.
Der erste Absatz des Artikels 1 der Verfassung der DDR lautet jetzt: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land." Bei fünf Stimmenthaltungen wurde dieser Änderung zugestimmt. Damit entfällt im ersten Satz die Passage "unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei". Ein CDU-Antrag, den ersten Satz so zu formulieren: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat", wurde bei 112 Zustimmungen und 20 Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt.
In der Nachmittagssitzung nahmen die Abgeordneten mit großer Empörung, viele nahezu fassungslos, erste bisherige Ergebnisse des zeitweiligen Ausschusses zur Überprüfung von Amtsmissbrauch, persönlicher Korruption, persönlicher Bereicherung und anderen Handlungen entgegen. Ausschussvorsitzender Dr. Heinrich Toeplitz legte in dem Zwischenbericht bereits eine solche Fülle von bestürzenden Ergebnissen vor, die jeden anständigen Bürger dieses Landes erschauern lassen. Der Sprecher des Ausschusses verlangte, Schuldige ohne Ansehen der Person zur Verantwortung zu ziehen. Es gehe um ein Klima würdiger menschlicher Beziehungen. Im Bericht des Ausschusses wurden umfangreiche Baumaßnahmen zugunsten bisher bevorzugter Personen, Land- und Jagdhäuser, Sonderjagdgebiete, Finanzmanipulationen, auch mit Valutamitteln, sowie Sonderrechte für ehemalige Mitglieder der sogenannten Partei- und Staatsführung aufgedeckt. Dr. Toeplitz unterbreitete eine Reihe Vorschläge hinsichtlich des Verkaufs und des Vermieten von Häusern, die dem bislang bevorzugten Personenkreis zur Verfügung standen. Er sprach sich dafür aus, dass auch auf örtlicher Ebene bei den Volksvertretungen entsprechende Ausschüsse zur weiteren Aufdeckung und Kontrolle gebildet werden. Der Volkskammerausschuss habe eine Reihe Fachleute hinzugezogen und zusätzlich eine ständige Arbeitsgruppe gebildet. Die Untersuchungen werden fortgesetzt.
Aufgrund der Diskussion der Gewerkschaftsmitglieder über das Gebäude des Bundesvorstandes am Märkischen Ufer habe der Ausschuss festgestellt, dass auf Grund zentraler Entscheidungen 100 Millionen Mark aus dem Staatshaushalt für dieses Gebäude zur Verfügung gestellt worden seien. Die Frage, wer diesen Antrag gestellt und wer ihn genehmigt habe, ist noch offen. Wie viel Gewerkschaftsgelder zusätzlich für den Bau verbraucht worden seien, werde die neue Leitung des FDGB zu klären haben. Im Bereich des Ministerrates seien Häuser für die Söhne der früheren Mitglieder des Politbüros Stoph, Kleiber und Krolikowski gebaut worden. Die Bauten erfolgten auf Antrag der Väter und wurden vom früheren Staatssekretär des Ministerrates, Dr. Kleinert, angewiesen.
"Bei einer unvorhergesehenen Kontrolle beim Bundesvorstand des DTSB fanden wir in Büroschubladen und anderen Behältnissen 291 000 DM in bar, über deren Herkunft und Verwendung keine ordentlichen Belege vorhanden waren", sagte der Vorsitzende des Ausschusses. Der dafür Verantwortliche habe sich durch Selbstmord der Verantwortung entzogen. Das Geld sei inzwischen der Staatsbank überwiesen worden. (Wir berichten noch ausführlich über die Beratungen zu diesem Bericht.)
Die Volkskammer verabschiedete eine Erklärung an die Föderative Versammlung und die Völker der ČSSR, in der sie betont, sie halte es „in Übereinstimmung mit Willensäußerungen von Bürgern unseres Landes in dieser Stunde für geboten zu erklären, dass sie die Beteiligung der DDR an militärischen Aktionen von Staaten des Warschauer Vertrages im Zusammenhang mit innenpolitischen Auseinandersetzungen in der ČSSR im August des Jahres 1968 aufrichtig bedauert und im Namen des Volkes der DDR den Völkern der ČSSR um Entschuldigung bittet."
Zum abschließenden Tagesordnungspunkt 9 billigte die Volkskammer einen Beschluss des Staatsrates, die Immunität des Abgeordneten Gerhard Nennstiel wegen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen aufzuheben.
Bei der Begründung des Entwurfs des Reisegesetzes hatte Innenminister Lothar Ahrendt betont, dass die damit befasste Regierungskommission bis zum 29. November 84 388 Vorschläge erhalten habe. Abgeordnete fast aller Fraktionen brachten in der Debatte Ergänzungs- und Abänderungsvorschläge ein. Im Mittelpunkt: Wie und wann werden die DDR-Bürger mit Reisemitteln ausgestattet, wie unterbinden wir Rauschgift-Einfuhr und Schmuggel. Es ging um Statusfragen von Ausländern mit Wohnsitz in der DDR bzw. von Staatenlosen. Finanzministerin Uta Nickel versprach, zur 2. Lesung des Gesetzes konkrete Aussagen zu machen, wie der Devisenfonds für Reisen gestaltet werden soll.
Der Entwurf des Reisegesetzes wird nun in den Ausschüssen der Volkskammer beraten. Die 2. Lesung und Beschlussfassung soll bis Mitte Januar 1990 erfolgen.
In der lebhaften Diskussion appellierte Hermann Kant (Kulturbund) an seine Kollegen mit der Forderung, das Verhältnis zu den polnischen Bürgern nicht weiter zu belasten, "gegen Nationalismus aufzutreten und der Völkerfreundschaft anzuhängen". Harald Naumann (CDU) entgegnete, es gehe bei den von der DDR-Regierung beschlossenen Maßnahmen, für die es unter der Bevölkerung viel Zustimmung gebe, allein gegen massenhafte Warenabkäufe und Schmuggel.
Ohne Aussprache stimmten die Abgeordneten den Gesetzentwürfen über Rechtshilfe in Zivil- und Strafsachen zwischen der DDR und Tunesien und der VR China (eine Stimmenthaltung) zu.
Für die ausscheidenden Abgeordneten Ernst Goldenbaum (DBD), Gerald Götting (CDU), Uwe Lorenz und Frank Straube (FDJ), Werner Lorenz (Kulturbund) und Heinrich Homann (NDPD) zogen die Nachfolgekandidaten Roland Materna, Regina Karpinski, Kerstin Hugel und Mayh Plewka, Dr. Hannelore Vater und Rosemarie Göbbels ins Parlament.
Für wirkliche soziale Gleichberechtigung plädierte zu Beginn des 6. Tagesordnungspunktes Anfragen an die Regierung - der behinderte Abgeordnete Uwe Gajewski (FDJ), dessen Beitrag von einem Fraktionskollegen verlesen wurde. Der hohe Perspektivanspruch, den die neue Zeit auch für alle Geschädigten geweckt habe, müsse erfüllt werden; dem könnte ein zu gründender Verband Behinderter dienen.
Dr. Heinrich Toeplitz (CDU) bezog sich auf den Zwischenbericht des Generalstaatsanwaltes zu den Ereignissen um den 7. Oktober und stellte die Frage, wer der Polizei die Befehle gegeben und die massenhaften Zuführungen veranlasst habe.
Wieso wurden an geographisch unterschiedlichen Orten die gleichen diffamierenden Praktiken angewandt? Dr. Toeplitz forderte, weiße Flecken in der DDR-Justizgeschichte zu tilgen und jene Verfahren aus den Jahren 1953 bis 1958 zu überprüfen, in denen Menschen unschuldig verurteilt wurden, so z. B. Wolfgang Harich, Max Fechner, Georg Dertinger, Walter Brandt, Paul Bender und der Liberaldemokrat Karl Hamann.
Auf eine Frage von Ulrike Rommel (NDPD) zur Zukunft der Nationalen Front antwortete deren Präsident Prof. Lothar Kolditz, dass es noch nicht gelungen sei, einen Konsens über die weitere Arbeit der NF zu erreichen. In einem Brief wird er sich an die Ausschüsse wenden, sich als Bürgerkomitees weiterzuentwickeln, die kommunale Probleme lösen helfen und offen für alle sind. Der Überbau, also auch der Nationalrat, werde dabei nicht mehr nötig sein.
Dr. Witho Holland (LDPD) erkundigte sich danach, wie weit zum Ausbau internationaler Wirtschaftskooperationen nötige neue Verordnungen z. B. zum Gewinntransfer, der Beteiligung an Gesellschaften mit beschränkter Haftung und an Joint Ventures gediehen seien. Prof. Dr. Christa Luft teilte mit, dass dazu ein Maßnahmekatalog erarbeitet und in Kürze veröffentlicht wird.
Prof. Manfred von Ardenne (Kulturbund) plädierte für die Neugliederung der DDR nach dem Muster der fünf traditionellen Länder, wie sie entsprechend der Verfassung von 1949 existierten. Er machte diesen Vorschlag vor dem Hintergrund der erforderlichen Verwaltungsreform, um, wie er sagte, einen Missbrauch der Zentralmacht auszuschließen und die Verantwortlichkeiten in den peripheren Bereichen zu erhöhen. Von Ardenne verlangte, im "Nahbereich der Minister" Männer ihres Denkens und Vertrauens, beginnend bei den stellvertretenden Ministern, einzusetzen. "Wer dazu nicht die Kraft hat, den bestraft das Leben", sagte er in Abwandlung des bekannten Gorbatschow-Wortes.
Der stellvertretende Regierungschef Parteifreund Dr. Peter Moreth gab hinsichtlich des Länder-Vorschlags zu bedenken, dass man bei solch strategischen Fragen nicht einem Zeitdruck unterliegen dürfe. Strukturfragen sollten erst dann entschieden werden, wenn die Inhalte der staatlichen Arbeit klar sind. Derzeit gehe es vielmehr um die Eigenständigkeit der Städte und Gemeinden, die sich selbst verwalten und mit eigenen Fonds größere Möglichkeiten erhalten. Es gehe um eine kommunale Selbstverwaltung ab 1990 und dabei um eigene Fonds.
Weitere Antworten in Stichworten: Landwirtschaftsminister Hans Watzek verwies darauf, dass 500 Kilotonnen Futtergetreide importiert werden mussten, um Ertragsausfälle auszugleichen, die Viehbestände und die Versorgung zu sichern. Für die nächsten Jahre sei eine neue Export-Import-Strategie der Landwirtschaft auszuarbeiten; noch fehlten vor allem Technik und Ausrüstungen. Geprüft werden gegenwärtig Sofortmaßnahmen bei Preisveränderungen (Gemüse, Schlachtvieh). Handelsminister Manfred Flegel versicherte, dass eine gute Festtagsversorgung für alle Städte und auch die Gemeinden (vor allem bei Apfelsinen, Schokoladenerzeugnissen, Geflügel, Karpfen) angestrebt werde.
"Morgen" - Bericht von Lothar Henke und Jürgen Voigt
Der Morgen, Nr. 284, 45. Jahrgang, Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, Sa. 02.12.1990