9. Volkskammer 18. Tagung 06.03.1990


Berichte Neues Deutschland, Neue Zeit, Berliner Zeitung


Berlin (ND-Fleischmann). 14 Gesetze stehen auf der Tagesordnung der 18. Volkskammertagung, die am Dienstag in Berlin begann. Als erstes wurde, zusammen mit den erforderlichen Verfassungsänderungen, das Gesetz über die Rechte der Gewerkschaften in der Deutschen Demokratischen Republik mit großer Mehrheit beschlossen. Es ist ein von Millionen diskutiertes Gesetz für starke, souveräne Industriegewerkschaften und Gewerkschaften, die bereit und fähig sind, die Interessen aller Kolleginnen und Kollegen zu schützen und zu vertreten.

Helga Mausch, Vorsitzende des Geschäftsführenden Vorstandes des FDGB, in der Begründung: "Wir gehen davon aus, dass jede gewerkschaftliche Tätigkeit unabdingbar in den Rahmen eingebunden ist, den die Verfassung des Staates absteckt. Andererseits darf keine Rechtsvorschrift außer der Verfassung die Rechte der Gewerkschaften begrenzen oder beschneiden."

Die Aussprache brachte Vorschläge vor allem zur Ausgestaltung des Schlichtungsrechtes bei Arbeitsstreitigkeiten.

Käte Niederkirchner im Standpunkt der PDS: "Starke Gewerkschaften sind unverzichtbar für die Gewährleistung der sozialen Interessen der Werktätigen bei einem deutsch-deutschen Verbund."

Aus dem Inhalt des ersten Gewerkschaftsgesetzes der DDR:

TARIFAUTONOMIE: Die Gewerkschaften sind berechtigt, über alle die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen betreffende Fragen Verträge und Vereinbarungen abzuschließen. Die Tarifautonomie ist gewährleistet.

UNABHÄNGIGKEIT: Gewerkschaftsvertreter können in den Betrieben jederzeit ungehindert zur Wahrnehmung ihrer Rechte wirken. Sie haben das Recht der Einsichtnahme in betriebliche Unterlagen, soweit dies der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen dient.

MITBESTIMMUNG: Die Gewerkschalten haben das Recht der Gesetzesinitiative. Die Erarbeitung von Gesetzen zu den Arbeits- und Lebensbedingungen durch staatliche Organe hat unter gewerkschaftlicher Mitwirkung zu erfolgen. Die gewerkschaftlichen Grundorganisationen haben das Recht auf Mitbestimmung in allen betrieblichen Fragen, die die Arbeits- und Lebensbedingungen betreffen. Die BGL schließen mit den Betriebsleitern nach vorheriger Beratung in den Arbeitskollektiven Betriebskollektivverträge und andere Vereinbarungen ab, über deren Erfüllung die Betriebsleiter rechenschaftspflichtig sind.

ARBEITSKONFLIKTE: Zur Beilegung kollektiver Arbeitskonflikte ist von den Tarifpartnern ein Schlichtungsverfahren zu vereinbaren.

STREIKRECHT: Die Gewerkschaften haben das Recht auf Streik. Ein Streik ist erst nach erfolgtem Schlichtungsverfahren zulässig. Die Regierung kann einen Streik aus Gründen des Gemeinwohls aussetzen. Jegliche Form der Aussperrung ist verboten. Schadenersatz ist bei Arbeitskämpfen ausgeschlossen.

RECHTE IM BETRIEB: Betriebliche Gewerkschaftsvertreter genießen bei ihrer Tätigkeit Schutz vor jeder Benachteiligung. Sie sind von beruflicher Tätigkeit freizustellen, soweit das nach der Größe des Betriebes zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich ist.

Durch die neue Fassung des Art. 44 ist das Streikrecht der Gewerkschaften auch verfassungsmäßig gewährleistet und jegliche Form der Aussperrung verboten.

Die Volkskammer verabschiedete auch das Gesetz über die Wahlen zu den Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen am 6. Mai 1990. Es unterscheidet sich in wesentlichen Punkten vom Volkskammerwahlgesetz. So hat bei diesen Wahlen jeder Wähler für jede zu wählende Volksvertretung drei Stimmen. Die Volkskammer beschloss für die genannten Volksvertretungen die Beendigung der Wahlperiode am 5. Mai. Das gilt auch für die Stadtverordnetenversammlung von Berlin. Volkskammerpräsident Günther Maleuda wertete die Ausarbeitung der beiden Wahlgesetze als einen würdigen Beitrag zur Demokratisierung unseres Landes.

Danach behandelte die Volkskammer Änderungen am LPG-Gesetz, das Gesetz über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform und die beiden von der DBD eingebrachten Gesetze über die Übertragung volkseigener landwirtschaftlicher Nutzflächen in das Eigentum von LPG bzw. über die Unterstützung von Genossenschaften der Landwirtschaft, die durch staatliche Reglementierung mit hohen Krediten belastet sind. Diese Gesetze dienen der Stärkung bäuerlichen Besitzes, der Anpassung der LPG an die Anforderungen einer sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft und der Schaffung von Chancengleichheit.

Das dann beschlossene Steueränderungsgesetz betrifft Einkommen-, Körperschafts- und Vermögenssteuer und bewirkt Steuersenkungen von jährlich 990 Millionen Mark, u. a. für Handwerks-, Handels- und Gewerbebetriebe. Die Volkskammer veränderte das Gesetz über die Staatsbank und beschloss das Gewerbegesetz. Über die Gesetze zur Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen und über Unternehmensbeteiligungen sowie zum Verkauf volkseigener Gebäude wird auf Grund zahlreicher Änderungsvorschläge erst heute [07.03.] abgestimmt.

Die Volkskammer billigte den Bericht des Zeitweiligen Ausschusses zur Überprüfung von Amtsmissbrauch und Korruption, über dessen Tätigkeit ND regelmäßig berichtet hatte. Zum Schluss appellierte der Präsident, im Interesse der Kinder der DDR, ihnen alle für sie geschaffenen Werte und Einrichtungen zu erhalten.

Neues Deutschland, Sozialistische Tageszeitung, Nr. 56 B-Ausgabe, 45. Jahrgang, Mi. 07.03.1990


Berlin. Mit der Vielzahl von 16 Gesetzen und Beschlüssen befasst sich die 18. Tagung der Volkskammer, die gestern Nachmittag zu ihrer voraussichtlich letzten Tagung der Legislaturperiode in Berlin zusammenkam. Auf der Tagesordnung stehen eine Reihe von weiterführenden rechtlichen Fixierungen auf dem Weg zu sozialer Marktwirtschaft, so das Gewerkschaftsgesetz, das Gewerbegesetz, das Gesetz über e Staatsbank und der Beschluss über Grundlinien einer Sozialcharta.

Am ersten Beratungstag wurde neben einer damit zusammenhängenden Verfassungsänderung die vorgelegte fünfte Fassung des Gewerkschaftsgesetzes mit dazu von den Fraktionen der CDU, der NDPD und der FDJ eingebrachten Änderungen bei sechs Gegenstimmen und 53 Enthaltungen verabschiedet.

Dr. Gottfried Klepel (CDU) hatte dazu betont, unsere Partei trete für starke Gewerkschaften ein, da nur sie in der Lage sind, soziale Interessen in der angestrebten sozialen Marktwirtschaft zu vertreten. Er schlug im Namen der Fraktion u. a. vor, ein Schlichtungsgesetz zu schaffen, das Gründe für einen Streik auf gesetzlicher Grundlage fixiert und Aspekte einer Streikaussetzung aus Gründen des Gemeinwohls berücksichtigt. Die Ungültigkeit eines Gewerkschaftsgesetzes für Religionsgemeinschaften und ihre caritativen Einrichtungen wurde bestätigt, wobei die Form entsprechender Vereinbarungen zwischen beiden Seiten weitergeführt werden sollte. Weitere Gesetze wie das erwähnte Schlichtungsgesetz, ein Betriebsverfassungsgesetz und ein Unternehmergesetz müssten angestrebte komplexe Interessenvertretung der Werktätigen garantieren. Schließlich sollte ein Gesetz über die Rechte der Gewerkschaften - so die CDU-Fraktion ausdrücklich - auch eine Vielfalt unabhängiger demokratischer Gewerkschaften ermöglichen.

Am Ende des ersten Beratungstages lag der abschließende Bericht des zeitweiligen Ausschusses zur Überprüfung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption und der persönlichen Bereicherung vor.

Auf wesentliche Parallelen zur Verabschiedung des Gesetzes über die Wahlen zur Volkskammer machte Dr. Paul Eberle unter Tagesordnungspunkt 3 aufmerksam. Auch beim Gesetz über die Wahlen zu den Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen, das zur 2. Lesung vorlag, sei die Oberste Volksvertretung im Zugzwang. Auch dieses Gesetz sei „einmalig" zu verwenden, nicht frei von Kompromissen und Unzulänglichkeiten und schließlich der optimale Konsens zwischen dem Zeitweiligen Volkskammerausschuss und den Vertretern des Runden Tisches. In der relativ kurzen Zeit, die zur öffentlichen Diskussion zur Verfügung stand, hätten sich etwa 4 000 Bürger zu Wort gemeldet

Wesentliche Änderungen des vorliegenden Entwurfes gegenüber der ersten Fassung resultierten aus dem Fakt, dass nunmehr auch die Wahlen zu den Kreistagen am 6. Mai anstehen. Auch die Berliner Stadtverordnetenversammlung wird zu wählen sein, was jedoch keine Änderung im Gesetzestext nach sich zieht.

Um auf Kreisebene möglichst große Nähe von Wählern und zu Wählenden zu gewährleisten, entschied man sich zu einem Wahlsystem, das Elemente von Verhältnis- und Personenwahlrecht kombiniert Darüber wird in nächster Zeit ausführlich zu unterrichten sein.

Der Entwurf wurde - heutzutage geradezu ungewöhnlich - einstimmig zum Gesetz erhoben. Bestätigt wurde neben anderen Anträgen auch der, dass Wahlkommission sowie Präsidium auch für die Wahlen am 6. Mai tätig sein werden.

Für die Bauern unseres Landes wesentliche Gesetze bzw. Gesetzesänderungen standen mit den Tagesordnungspunkten 4 bis 7 zur Debatte: Änderung und Ergänzung des LPG-Gesetzes, Gesetz über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform, Gesetz über die Überführung volkseigener landwirtschaftlicher Nutzflächen in das Eigentum von LPG sowie das Gesetz über die Unterstützung von Genossenschaften der Landwirtschaft, die durch staatliche Regelungen mit hohen Krediten belastet sind.

Wesentliche Folgerungen aus den einstimmig bzw. mit großer Mehrheit verabschiedeten Vorlagen: Stabile Voraussetzungen für die Chancengleichheit aller LPG und GPG unter den zu erwartenden Bedingungen sozialer Marktwirtschaft und zuverlässiger Schutz landwirtschaftlicher Nutzfläche als Existenzgrundlage der Bauern.

Mit einer Gegenstimme und zwölf Enthaltungen nahm die Volkskammer am Nachmittag das Gesetz zur Änderung der Rechtsvorschriften über die Einkommens-, Körperschafts- und Vermögenssteuer an,

(Der erste Beratungstag dauerte bei Redaktionsschluss noch an.)
Von unseren Berichterstattern Carola Schütze und Friedrich Eismann

Neue Zeit, Zeitung für Deutschland- christlich, demokratisch, sozial, Nr. 56 Ausgabe B, 46. Jahrgang, Mi. 07.03.1990


Berlin. - Axel Knack Irgendwie hatte man den Eindruck, dass die Luft raus ist aus dem obersten Haus. Die Parlamentarier schienen es müde. Gesetzesvorlagen zu sezieren, wo doch niemand weiß, wie lange sie, erst einmal verabschiedet, noch Gesetzeskraft haben werden.

Dabei standen mit dem Gewerkschaftsgesetz, dem Kommunalwahlgesetz, anderen zur Sicherung genossenschaftlichen Eigentums sowie zur Gewerbefreiheit Texte zur Abstimmung, die teilweise für kontroverse Debatten und die Darlegung unterschiedlicher Stand- punkte einzelner Fraktionen gut gewesen wären. Doch der erste Tag der letzten Plenardebatte in der jetzigen Legislaturperiode verlief überraschend ruhig.

Beschlossen wurde bei sechs Gegenstimmen und immerhin 53 Enthaltungen, vornehmlich aus den bürgerlichen Fraktionen, nach zweiter Lesung das Gewerkschaftsgesetz. Danach wird gesichert, dass Gewerkschaften als Interessenvertreter von Werktätigen in Grundorganisationen von Betrieben und Einrichtungen aller Eigentumsformen tätig sein können. Nach erfolglosen Schlichtungsverfahren wird ihnen das Recht auf Streik zugebilligt und jegliche Form der Aussperrung verboten.

Dieser einzigen Abstimmung mit nennenswerten Gegenstimmen und Enthaltungen ging eine kurze Debatte voraus, bei der darauf verwiesen wurde, dass der Streik nur als tatsächlich letztes Kampfmittel gewerkschaftlicher Interessenvertretung angewendet werden sollte. Eine neuerliche, mit diesem Gesetz in Verbindung stehende Verfassungsänderung machte sich erforderlich und passierte schnell die gesetzgeberische Hürde. Mit dieser Änderung dürfte die DDR- Verfassung nunmehr einem Flickenkleid gleichen.

Einhelligkeit unter den Abgeordneten herrschte dagegen bei der Annahme des Kommunalwahlgesetzes. Für die am 6. Mai zu wählenden Kreistage, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen sieht es ein kombiniertes Wahlrecht aus Verhältnis- und Personenwahl vor.

Auch hier wird es keine Prozent- Sperrklausel geben. Dieses Wahlgesetz sieht weder Sonderwahllokale noch Briefwahl vor. Modifiziert wurde auch das Ausländerwahlrecht. Sowohl passives als auch aktives Wahlrecht wird ausländischen Bürgern nun erst eingeräumt, wenn sie mindestens zwei Jahre im Lande leben. Entgegen der ersten Entwurfsvorlage wird am 6. Mai nun auch die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt. In den Gesetzestext sind viele Bürgervorschläge eingegangen, insgesamt seien trotz der kurzen öffentlichen Beratung dem zuständigen Ausschuss rund 4 000 Hinweise zugegangen.

Ebenfalls ohne große Debatte wurden vier Gesetze verabschiedet, die der Anpassung der landwirtschaftlichen Produzenten an die Anforderungen einer sozial und ökonomisch orientierten Marktwirtschaft dienen. Neben Änderungen und Ergänzungen des LPG-Gesetzes sind das ein Gesetz über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform, zur Überführung von volkseigenem Land in LPG-Eigentum und eines über die Unterstützung von Genossenschaften, die durch staatliche Reglementierungen mit hohen Krediten belastet sind.

Zur Förderung von Handwerk und Gewerbe passierte das Parlament ein Steueränderungsgesetz, mit dem unternehmerische Initiative und Leistungsbereitschaft gefördert werden soll. Danach wird künftig auch eine einheitliche Besteuerung von freiberuflich Tätigen erfolgen.

Völlig ohne nochmalige Erörterung im Plenum verabschiedeten die Parlamentarier ein neues Gesetz über die Staatsbank der DDR. Die Unterstellung unter dem Ministerrat wird danach aufgehoben, entwickelt werden soll sie zu einer Zentralbank. Ein ebenfalls angenommenes Gewerbegesetz geht vom Grundsatz der Gewerbefreiheit aus. Es berechtigt Gewerbetreibende aller Eigentumsformen, eine beliebige Anzahl von Mitarbeitern zu beschäftigen.

An zwei Gesetzesvorlagen schieden sich jedoch die Geister in der Volkskammer. Sowohl eines über den Verkauf volkseigener Gebäude als auch ein mögliches künftiges Gesetz zur Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen waren umstritten. Sie werden in der heutigen [07.03.] Fortsetzung der Plenardebatte weiter diskutiert.

Schriftlich lag gestern den Abgeordneten ein Bericht des zeitweiligen Volkskammerausschusses zur Überprüfung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption und der persönlichen Bereicherung vor. In dreimonatiger intensiver Arbeit seien bei 36 Anhörungen 19 beschuldigte Personen und 25 Zeugen befragt worden. In zahlreichen Fällen empfahl der Ausschuss, Ermittlungsverfahren einzuleiten. Der Bericht wurde ohne Aussprache zur Kenntnis genommen. Das Hohe Haus stimmte dem Antrag des Ausschusses auf Auflösung zu und dankte den Mitgliedern für ihre Arbeit.

Zum Abschluss des ersten Beratungstages erstattete Parlamentspräsident Maleuda einen Bericht zur Situation der Kinder im Lande. Darin wandte er sich unter dem Beifall der Abgeordneten gegen Verkauf, Auflösung oder kommerzielle Nutzung von Kindereinrichtungen wie Ferienlager und Heime.

Berliner Zeitung, Nr. 56, 46. Jahrgang, Mi. 07.03.1990

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