Wie viel Staat darf es denn sein?
Gespräch mit Uta Röth über die Situation der Frauen in der DDR und ihre Perspektiven in einem gesamtdeutschen Staat
Frage: Wenn es in der Bundesrepublik um die Frage geht, was aus 40 Jahren DDR erhaltenswert ist, dann steht sehr oft das Frauenthema im Mittelpunkt, zum Beispiel im Hinblick auf die Kinderbetreuung oder die Berufstätigkeit von Frauen. Wie sehen Sie die Situation der Frauen? Hat die DDR hier eine Vorbildfunktion?
Antwort: Die Situation der Frauen ist sicherlich so ambivalent wie das Gesellschaftssystem der DDR insgesamt, dessen Vorteile zugleich auch seine Nachteile sind. In Anknüpfung an die progressiven Vorstellungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung war die DDR bemüht, Frauen ins Erwerbsleben zu integrieren und sie zu qualifizieren. Gleichzeitig war die Gesellschaft traditionell an der typischen Frauenrolle orientiert, Frauen waren weiterhin für die Familie, für Haushalt und Kindererziehung zuständig. Dies wurde mit der Notwendigkeit begründet, dass gerade nach 1945 die Frauen als Arbeitskraft gebraucht wurden und natürlich auch als Reproduzentinnen der Gesellschaft.
Dieser Widerspruch fand auch in der Ideologie seinen Niederschlag. Ich denke an die ganze Problematik der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft, die sehr typisch diese Ambivalenz zum Ausdruck brachte und eigentlich an dem traditionellen Frauenleitbild festhielt. Alles, was mit Familie zusammenhängt, war vorrangig Aufgabe der Frau. Hierin liegt die Ursache für die nach hinten gewandte Orientierung in der Frauenpolitik der DDR.
Mit der Festschreibung traditioneller Rollenbilder wurde zugleich auch die Funktion der Familie betont. Entspricht das noch den Realitäten in der DDR? Gibt es, zugespitzt formuliert, überhaupt noch Familien in ihrer traditionellen Form?
Es gibt in der DDR prozentual wesentlich mehr Familien als in der Bundesrepublik. Ungefähr 20 bis 30 Prozent der Paare im Alter zwischen 20 und 35 Jahren leben in Lebensgemeinschaften, die sie aber immer mehr als eine Vorstufe für die dann doch wieder ehelich sanktionierte Lebensform wählen.
Auch der Anteil an sogenannten Singles ist bei uns wesentlich geringer als in der Bundesrepublik, auch wenn sich das langsam ändert. Der Anteil der allein lebenden Männer ist in den letzten Jahren bereits gestiegen, was natürlich auch ein Ausdruck für eine typische Industriegesellschaft ist. Noch einmal zurück zu den Frauen. Ich meine, ein Beschäftigungsgrad von 91 Prozent verdeutlicht schon, dass sowohl in der Volkswirtschaft als auch im Leben der Frauen Berufstätigkeit überhaupt nicht mehr wegzudenken ist. Das ist etwas, was uns gegenüber den bundesdeutschen Frauen auszeichnet. Berufstätigkeit ist in der DDR zu einem eigenen Wert in der Lebensbiographie geworden, und zwar die kontinuierliche Berufstätigkeit. In der DDR unterbrechen Frauen ihre Berufstätigkeit nur für die Inanspruchnahme des Babyjahres, eine ausschließlich familienorientierte Phase gibt es bei uns nicht. Während des gesamten Erwerbslebens besteht deshalb generell die Problematik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, so dass hierfür viele gesellschaftliche Regelungen geschaffen wurden - und zwar von oben, ohne die Frauen zu fragen.
Auch das ist typisch für das Verhältnis zwischen Staat und Individuum, bei dem der einzelne im Grunde seine Interessen nicht artikulieren konnte und bei dem nur wenig Raum für individuelle Gestaltung gelassen wurde. Letztlich gab es nur das biographische Einheitsmuster von Bildung, Berufsbildung, Heirat und dann die Phase der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ohne dass die Frauen ihre Berufstätigkeit unterbrechen konnten. Dennoch halte ich die staatliche Verantwortung und Finanzierung der Kinderbetreuung für fortschrittlich, auch wenn die Kinderbetreuungseinrichtungen (Kinderkrippe, Kinderhort, Kindergarten) in ihrem Erziehungskonzept sicherlich verbesserungswürdig sind.
Sie beklagen die fehlenden individuellen Gestaltungsräume. Lässt sich, wie in der DDR praktiziert, die Kindererziehung überhaupt als gesellschaftliche Aufgabe organisieren?
Ich denke schon. Dennoch hat in der DDR auch das auf die Kinder zugetroffen, was für die Gesellschaft insgesamt typisch war, dass nämlich die Individualität des einzelnen missachtet wurde. Demzufolge wurde auch in den Erziehungskonzepten der Individualität des einzelnen Kindes zu wenig Raum gelassen.
Zweitens heißt gesellschaftlich ja nicht ausschließlich gesellschaftlich. Das betrifft insbesondere die zeitliche Dimension. Auch in der DDR beklagen die meisten Mütter und Väter, dass sie für ihre Kinder zu wenig Zeit haben - ähnlich wie in der Bundesrepublik, wo die Arbeitszeitstrukturen nicht den Familien- und Kinderbedürfnissen angepasst sind. Die Phrase, dass bei uns der Mensch im Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Handelns steht, hatte mit der Realität wenig zu tun. Im Mittelpunkt stand stattdessen auch in der DDR die ökonomische Entwicklung, nur dass die Effektivität nicht so hoch war.
Der Unabhängige Frauenverband will erreichen, dass dieser Interessenkonflikt Kind/Familie/Gesellschaft in Zukunft nicht mehr ausschließlich zu Lasten von Frauen und Kindern gelöst wird. Wir fordern deshalb zum Beispiel eine generelle Arbeitszeitverkürzung.
Lässt sich dieses Problem mit technischen Mitteln, wie es auch eine Arbeitszeitverkürzung letztendlich ist, bereits lösen? Oder muss sich dafür nicht auch etwas in den Köpfen ändern?
Natürlich. Das liegt vor allem an den Prioritäten, die Frauen und Männer in ihrem Leben setzen. Es kann doch nicht sein, dass sich jemand alle drei Jahre einen neuen BMW leistet und irgendwelchem Konsum hinterherläuft und alles andere demgegenüber nur einen geringen Stellenwert genießt.
Das Bild, das Sie von der Situation der Frauen in der DDR gezeichnet haben, ist nicht sehr positiv. Hinzu kommt, dass der hohe Anteil von Frauen im Erwerbsleben sehr schnell zurückgehen wird, weil die Frauen wahrscheinlich die meisten Opfer bei der Anpassung an die Marktwirtschaft bringen müssen. Wie kann man diesen Prozess beeinflussen, damit die Frauen nicht von vornherein auf der Verliererseite stehen?
Die Regierungserklärung von de Maizière bietet hierfür zunächst einmal positive Anknüpfungspunkte. Er hat die Forderung des Runden Tischs aufgegriffen, dass Frauen weiterhin im Berufs- und Erwerbsleben zu fördern sind, dass Schutzmaßnahmen für Frauen mit Kindern und spezielle Förderungsmaßnahmen für den beruflichen Aufstieg von Frauen entwickelt werden müssen.
Entscheidend wird aber sein, wie die einzelnen Unternehmen, die sich marktwirtschaftlichen Konkurrenzprinzipien zu unterwerfen haben, damit umgehen. Und da sind wir bei einer ganz eklatanten Frage: Wie viel Staat darf es denn sein, damit es der Marktwirtschaft nicht an den Kragen geht. Da wird sich die Katze in den Schwanz beißen, weil die Forderungen, die vom Runden Tisch entwickelt wurden, von den Unternehmen natürlich nur in geringem Maße eingehalten werden. Die Frage wird sein, wie viel Staatsmittel zur Verfügung gestellt werden können, um zum Beispiel gesellschaftliche Kinderbetreuungseinrichtungen zu finanzieren, und um die bisher in betrieblicher Verantwortung geführten Einrichtungen durch den Staat zu übernehmen. Und es geht darum, ob es sich Unternehmer gefallen lassen werden, dass sie – wie bisher - Frauen mit Kindern, die alleinstehend sind, nicht entlassen dürfen, und ob sie Frauen wieder in das Erwerbsleben zurücklassen, wenn die Aufwendungen, die sie für den Einsatz der weiblichen Arbeitskraft verwenden müssen, größer sind als für eine männliche Arbeitskraft.
Die Antworten hierauf hängen davon ab, welches Staatsverständnis wir haben werden, und ob Frauen sich unter diesen neuen Bedingungen dem Arbeitsmarkt werden stellen können. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass unsere Industrie durch die Währungsunion bedroht ist, dass vor allem Konsumgüter, die vorrangig von Frauen produziert werden, sich auf dem Markt nicht halten können. Damit werden vor allem Frauenarbeitsplätze beseitigt. Hinzu kommt, dass Frauen bei den Wiedereinstiegschancen benachteiligt sind, weil fehlende Rahmenbedingungen ihre Flexibilität und Mobilität verringern. Andererseits glaube ich nicht, dass sich die Frauen ohne weiteres aus der Berufstätigkeit herausdrängen lassen. Ihr Selbstverständnis ist maßgeblich durch die Erwerbsarbeit geprägt. Sie wollen berufstätig sein; sie haben die Erfahrung gemacht, dass ihnen die Arbeit eine gewisse ökonomische Unabhängigkeit sichert und eine eigene Lebensperspektive ermöglicht. Ich vermute, dass Frauen deshalb eher auf die Angebote der Unternehmen bezüglich Teilzeitarbeit zurückgreifen werden, aber sie werden sich nicht generell aus dem Erwerbsleben drängen lassen.
Ein anderes Moment, das hinzukommt, ist der Konsum, den die Bevölkerung in der DDR so wunderbar am bundesdeutschen Leben findet. Diesen wird man sich aber nur leisten können, wenn beide erwerbstätig sind. Dass es nicht so einfach sein wird, die Frauen an den Herd zurückzudrängen, hat auch die Zeit vor dem 18. März gezeigt, in der das Frauenthema zum Wahlkampfthema geworden ist, was niemand am Anfang vermutet hatte. Auch die Tatsache, dass wir jetzt eine Volkskammerpräsidentin haben, und dass etliche Parteien gezwungen waren, Frauen in ihre Regierungsmannschaften zu entsenden, ist eigentlich ein Indiz, dass man an den Frauen im öffentlichen Leben nicht vorbeigehen kann.
Wie sind die Fraueninteressen in der DDR organisiert? Gibt es hier eine Zusammenarbeit über unterschiedliche politische Ziele hinweg?
Die Frauen sind eigentlich recht diffus organisiert. Die ursprüngliche Idee der unabhängigen Frauenverbände, alle Frauen unabhängig von ihrer Parteiorientierung, ihrer Weltanschauung, ihrem Alter oder ihrer Sozialstruktur unter einem Dach zu vereinen, lässt sich zur Zeit nur schwer umsetzen. Den Frauen fehlt einfach die Erfahrung bei der Formulierung und Durchsetzung gemeinsamer Interessen. Dennoch solidarisieren sich alle Frauen, wenn sie von Kindergarten- oder von Hortschließungen betroffen sind. Ich denke, dass hierin auch eine Chance liegt. Und ich hoffe, dass auch die Gewerkschaften ihrer Verantwortung für die Frauen gerecht werden, auch wenn ich - wie vor kurzem bei einem Lehrgang mit bundesdeutschen Gewerkschaftsfunktionären - bereits negative Erfahrungen gemacht haben: Was mir da an typisch männlichen patriarchalischen Vorstellungen entgegen schwappte, war das reinste Mittelalter. Ich weiß nicht, wie diese Männer Interessen von Arbeitnehmerinnen vertreten wollen, wenn sie derart konservative Auffassungen von der Rolle der Frau in der Bundesrepublik haben.
Der Unabhängige Frauenverband hat sich auch an der Volkskammerwahl beteiligt - mit einem nicht sehr durchschlagenden Ergebnis. Gibt es in der DDR überhaupt eine Chance, Fraueninteressen politisch zu organisieren, sie als eigenes Wählerpotential zu nutzen?
Die Frauen haben sich bei uns traditionell entschieden und am typischen Parteienspektrum der Bundesrepublik orientiert. In dem Sinne ist der Unabhängige Frauenverband für die Durchschnittsfrau - ohne das negativ zu sehen - etwas Anrüchiges, das sind eben Emanzen, das sind Feministinnen. Sie gehen zwar mit vielen unserer Forderungen konform, aber mit dem Verband als solchem identifizieren sie sich nicht. Sie benutzen uns allerdings sehr häufig als Anlaufpartner, wenn sie Schutz und Beratung suchen oder Konfliktbewältigung erfahren wollen. Trotzdem sind sie nicht bereit, uns als politische Interessenvertretung zu wählen. Das ist sicherlich ein bisschen problematisch.
Wie lässt sich das Wählerpotential der Frauen dennoch nutzen, damit sie letzten Endes nicht beim Einigungsprozess auf der Strecke bleiben?
Der Unabhängige Frauenverband gehört ja zu den Gruppierungen, die sich gewünscht hätten, dass eine verfassungsgebende Versammlung zustande kommt. Diese historische Chance, eine aktive Gleichstellungspolitik von Männern und Frauen festzuschreiben, ist zunächst einmal vertan. Wir hatten ein Gleichstellungsministerium für Männer und Frauen gefordert, auch das ist nicht zustande gekommen. Statt dessen gibt es jetzt ein „Ministerium für Frau und Familie" und das zeigt wieder das alte Verständnis von Frauenpolitik. Auf der anderen Seite hat de Maizière sich für die Einstellung von Gleichstellungsbeauftragten in der Verwaltung, in den Betrieben und Unternehmen eingesetzt. Und in vielen Orten gibt es bereits Frauenbeauftragte bei den kommunalen Behörden. Außerdem hoffe ich, dass wir die bislang leider diskreditierten Frauenförderungspläne wiederbeleben können, und vor allem sollten sich die Gewerkschaften dafür einsetzen, dass Frauen in den Betriebsräten adäquat ihrem Anteil vertreten sind.
Der weibliche Organisationsgrad liegt bei den bundesdeutschen Gewerkschaften unter 25 Prozent . . .
. . . bei uns ist er adäquat dem der Männer. Frauen stellen die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder.
. . . ein Punkt, der für die Zukunftsdiskussion der Gewerkschaften noch sehr wichtig werden kann. Wie sehen Sie die Chancen, dass Frauen auch weiterhin gewerkschaftlich organisiert bleiben?
Sie sind zumindest ein Potential, auf das die Gewerkschaften nicht verzichten sollten. Hinzu kommt, dass die Frauen bei uns wesentlich höher qualifiziert sind als in der Bundesrepublik. Bei uns haben fast 88 Prozent aller Frauen einen Ausbildungsabschluss, auch wenn sicher etliche dabei sind, die einen Facharbeiterabschluss haben, aber letztlich keine Facharbeitertätigkeit ausüben. Das gute Ausbildungsniveau wirkte sich bisher auch positiv auf das Gewerkschaftsengagement aus: zumindest auf unterer Ebene waren Frauen sehr stark vertreten. Die Frage wird sein, inwieweit die Männer den Frauen in Zukunft innerhalb der Gewerkschaften Macht zubilligen werden. Gerade jetzt in der Umbruchphase wird sich zeigen, ob die Gewerkschaften in der Lage sind, die Interessen von Arbeitnehmerinnen durchzusetzen. Besondere Brisanz gewinnt diese Frage auch deshalb, weil die Berufstätigkeit von Frauen bei uns einen wesentlich höheren Stellenwert hat, und das wird auch für die Unternehmen sicher eine Herausforderung werden, wobei man natürlich auch nicht die Augen vor dem verlockenden Angebot verschließen darf, dass Frauen zu Hause bleiben dürfen oder verkürzt arbeiten können.
Zur schönen Häuslichkeit gehört allerdings auch die Infrastruktur.
Und vor allen Dingen werden die Frauen, wenn sie zu Hause sitzen, die Erfahrung machen, dass ihnen die Tristesse des Lebens entgegen schwebt. Nur dann ist es vielleicht zu spät, ins Berufsleben zurückzukehren. Deshalb müssen sich die Parteien und Gruppierungen jetzt für die Frauen stark machen, und ich hoffe auch die Gewerkschaften.
Durchsetzbar ist das wohl nur, wenn Frauen massiv darauf drängen. Schließt das auch die Auseinandersetzung - etwa um Arbeitsfragen - mit den Männern ein.
Wir wollen für die reale Emanzipation von Frauen und Männern kämpfen. Dafür brauchen wir auch die Einsicht und Erfahrung von Männern, dass Emanzipation auch ein Gewinn und nicht Verlust ist.
Dr. Uta Röth, geb. 1957 in Halle, Studium der Soziologie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften. Für den Unabhängigen Frauenverband war sie Vertreterin am Runden Tisch und dort Mitglied der Arbeitsgruppe Wirtschaft.
Das Gespräch führten Hans O. Hemmer und Stephan Hegger am 20. April 1990 in Berlin (Ost).
Dr. Uta Röth, geb. 1957 in Halle, Studium der Soziologie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften. Für den Unabhängigen Frauenverband war sie Vertreterin am Runden Tisch und dort Mitglied der Arbeitsgruppe Wirtschaft.
Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 5-6, 1990, Herausgeber: Bundesvorstand des DGB