"Die Frauenbewegung braucht großen politischen Anspruch"
Der neue DDR-Frauendachverband schickt zwei Vertreterinnen an Modrows Runden Tisch / Ina Merkel, Kulturwissenschaftlerin, ist eine der Sprecherinnen
taz: Ina, du sollst an Ministerpräsident Modrows Rundem Tisch die Frauen vertreten. Habt ihr schon eine Einladung bekommen?
Ina Merkel: Nein, aber wir gehen davon aus, dass alle oppositionellen Gruppen eingeladen sind. Ansonsten stehen wir beim Ministerrat vor der Tür und machen Druck.
Frauen müssen dort gehört werden; sie bringen die Interessen der Hälfte der Republik ein. Uns ist es bisher nicht gelungen, die Frauenfrage zum Beispiel in der Presse zu etablieren. Wir können also nur Öffentlichkeit gewinnen über eine politische Bewegung.
Welche Forderungen werdet ihr am Runden Tisch einbringen? Wo liegen eure Schwerpunkte?
Aus dem Aktionsprogramm, das am Sonntag verabschiedet wurde, ist ja ersichtlich, wie groß unser Katalog ist. Wir werden uns aber auf einige Punkte konzentrieren. Es gibt ganz dringliche Fragen, die sofort geklärt werden müssen. In den Verwaltungen werden Arbeitsplätze bereits reduziert, werden Frauen umgesetzt. Seit Jahren findet ein Rationalisierungsprozess in den Betrieben statt, von dem in erster Linie Frauen betroffen sind. Dem muss ganz schnell ein Riegel vorgeschoben werden, damit Frauen sich nicht massenhaft auf der Straße wiederfinden oder in Niedriglohngruppen umgesetzt werden. Da muss sofort eine Sicherung eingebaut werden.
Was schlagt ihr als Sicherung vor?
Zum einen, dass sofort Betriebsräte in den Betrieben gebildet werden, in denen die Frauen entsprechend ihres Anteils an den Belegschaften vertreten sind. Die Gewerkschaften haben sich desavouiert, die Leute treten aus.
Weitere Schwerpunkte eures Sofortmaßnahmenprogramms?
Dazu gehört eine unabhängige Frauentageszeitung - damit wir diese Probleme öffentlich machen und politisch Druck ausüben können.
Wie reagieren denn die oppositionellen Gruppen auf die Gründung eures Dachverbandes? Auf der Versammlung wurde ziemlich laut kritisiert, dass auch die Opposition die Interessen von Frauen nicht wahrnimmt.
Ich kenne nur das Neue Forum und die Vereinigte Linke. Dort gibt es ziemlich viele starke Frauen, die sich auch schon zu Frauengruppen zusammengeschlossen haben. Auch innerhalb der SED gibt es Bestrebungen, eine Frauenfraktion aufzumachen. Wir haben ja in unserem Gründungsaufruf geschrieben, dass die Bewegung nicht nur für alle autonomen Gruppen offen steht, sondern sich auch für die Frauenfraktionen aller Parteien und Organisationen öffnen will. Eine Gruppe, die wir bisher aber kaum drin haben, sind die Frauenkommissionen der Gewerkschaften. Unser Hauptaugenmerk muss jetzt aber darauf liegen, die werktätigen Frauen in diese Arbeit miteinzubeziehen. Denn die sogenannten frauenbewegten Kreise setzen sich bisher fast nur aus der Intelligenz zusammen.
Wie kann der Dachverband dieses breite Spektrum von Frauen zusammenfassen und vertreten? Wie wollt ihr verhindern, dass er nicht zu einem abgehobenen Gremium wird, das Papiere produziert und öffentlich auftritt, von unten aber nicht richtig getragen wird?
Das ist eine Gefahr, die alle neuen Gruppierungen betrifft. Das größte Problem liegt darin, dass es bisher keine funktionierende Medienöffentlichkeit und auch keine geeigneten Räume für Versammlungen gibt. Auf einer solchen Grundlage kann man kaum Strukturen schaffen, die immer wieder die Basis erreichen. Wir wollen uns daher zunächst nicht auf feste Strukturen festlegen. Wir bilden einen Koordinierungsrat, wir fordern alle Gruppen auf, sich zu den Grundfragen zu äußern, die wir in dem Manifest für eine autonome Frauenbewegung vorgestellt haben.
Sind sie bereit, dies mitzutragen?
Die Frauen sind aufgefordert, sich in den Betrieben oder sonst wo in Gruppen zusammenzuschließen und zu formulieren, was sie gerne möchten. Im nächsten Vierteljahr soll erst mal gesammelt werden. Danach soll es einen Gründungskongress geben, auf dem alle Basisgruppen wieder nur für eine bestimmte Zeit einen Koordinierungsrat und Sprecherinnen benennen, die die Politik nach oben hin vertreten sollen. Ansonsten gibt es eine große Unklarheit darüber, wie man sich formieren soll. Wir können das jetzt nur ausprobieren.
Stichwort Manifest: Du bist ja dessen Autorin. Welches sind die zentralen Forderungen?
Zusammengefasst sind es fünf Punkte, ein Minimalkonsens aller autonomen Frauengruppen. Erstens: Eintreten für einen modernen Sozialismus auf deutschem Boden in einem gemeinsamen europäischen Haus. Zweitens: Für eine ökologische Reorganisation der Wirtschaft; eine Wirtschaft, die sich zuerst auf ökologische Fragestellungen orientiert und nicht darauf, wie sie ganz schnell konsumtive Bedürfnisse befriedigen kann. Dritten: Für Demokratie, Selbstverwaltung und Öffentlichkeit, für die Viergewaltenteilung. Viertens: Für eine multikulturelle Gesellschaft. Das heißt einerseits die Öffnung der DDR international. Multikulturell meint aber auch, dass die verschiedenen Lebensstile zur Geltung kommen können und dass nicht länger nur eine Lebensform, nämlich die Familie, favorisiert wird. Fünftens: Für ein solidarisches Miteinander aller sozialer Gruppen.
Das klingt zunächst überhaupt nicht wie ein Frauenprogramm. Aber meines Erachtens muss eine Frauenbewegung einen großen politischen Anspruch haben, einen langen Atem, mit einer Gesellschaftsperspektive für Frauen, denn sonst sind wir damit beschäftigt, wieder nur soziale Abfederungsprogramme zu erfinden, um die sozialen Folgen ökonomisch verfehlter Politik auszugleichen. So ein Gesellschaftsprogramm ist eine langfristige Maßnahme. Zu den mittelfristigen gehört - ganz wichtig - die Quotierung, um Frauen in allen demokratischen Vertretungsorganen drin zu haben.
Glaubt ihr, dass ihr die Quote durchsetzt?
Wir müssen. Dafür werden wir die Frauen auf die Straße holen. Die Frage ist, ob man von Anfang an die 50-Prozent-Quote fordern soll oder nicht. Ich denke, ja. Zum Kompromiss wird es dann immer noch kommen.
Garantieren denn mehr Frauen automatisch, dass die Interessen von Frauen erkannt und dann auch vertreten werden? Wo sind die neuen Frauen? Es gab genug alte, Beispiel DFD-Fraktion in der Volkskammer, die kein bisschen Frauenpolitik gemacht haben.
Ich glaube nicht an die Unabhängigkeit von Personen. Leute in politischen Funktionen können immer nur handeln, wenn sie von einer bestimmten Gruppe legitimiert sind. Deswegen ist eine demokratische Frauenbewegung so wichtig, die sich permanent einmischt, weil sie dann Politiker und Politikerinnen unter Zwang setzt, ihre Interessen zu vertreten. Wir müssen viele Frauenforen veranstalten, Wahlprüfsteine entwickeln für Kandidatinnen.
Was qualifiziert dich dazu, als Sprecherin für die Frauen aufzutreten?
Bezüglich Frauenpolitik habe ich überhaupt keine Vergangenheit. Ich habe eine Dissertation zum Thema geschlechtspezifische Vergesellschaftung geschrieben und mich seit 1982 mit Frauenproblemen in der Forschung beschäftigt. Aber als Frau bin ich von der Situation betroffen. Ich war auch aktiv in der SED, und unter diesen Aktivitäten haben meine Kinder immer gelitten. Und ich weiß nicht, warum Frauen diesen Konflikt auf Dauer immer austragen müssen. Warum die Gesellschaft kein Interesse daran hat, Frauen die Entscheidung zu ersparen zwischen Familie, Kindern oder einer politischen Funktion.
Bist du noch in der SED?
Noch, ja.
Bist du Feministin?
Das ist eine komplizierte Frage. Denn Feminismus ist in den sozialistischen Ländern ein nichtbesetzter Begriff. Er wurde erst durch die westeuropäische Frauenbewegung geprägt. Wir sind heute an einem neuen historischen Punkt in der Frauenbewegung, insbesondere in der DDR. Weil wir Forderungen erreicht haben, wie zum Beispiel die ökonomische Unabhängigkeit vom Mann. Wir setzen jetzt andere Fragen auf die Tagesordnung: Wie können wir uns selbst entwickeln, ohne dass unsere Kinder dabei zu kurz kommen?
Interview: Ulrike Helwerth
aus: taz Nr. 2980 vom 06.12.1989
[Mit Modrows Runden Tisch ist der Zentrale Runde Tisch in Berlin gemeint.]