Auf der Straße nicht vertreten
Verdrängte und tabuisierte Probleme gab es in den vergangenen Jahrzehnten hierzulande zur Genüge. Nun endlich zur Sprache gebracht, scheint es oftmals, als wären die Schäden irreparabel, eine Umkehr nicht möglich. Im Unabhängigen Frauenverband gründeten sich in den zurückliegenden Wochen verschiedenste Arbeitskreise und Gruppen, von denen sich viele die Aufgabe gestellt haben, gerade solche Probleme in Angriff zu nehmen.
Am 14. Februar trafen sich nun Frauen aus Berlin, von denen die meisten bereits auf arbeitsreiche Jahrzehnte zurückblicken. Sie riefen den Arbeitskreis "Senioras" ins Leben. Eine fertige Konzeption lag noch nicht auf dem Tisch: Man wollte sich erst einmal kennen lernen und miteinander reden.
Die Initiatorin Jutta Janz hatte bereits im Januar zur Mitarbeit aufgerufen. "Wir sollten aufpassen, dass wir in 20 bis 30 Jahren nicht genauso leben müssen, wie die Alten heute", schrieb sie damals in der BZ. Ernüchternde Worte darüber, was in diesem Land oftmals Altsein bedeutet: Rentnerinnen fühlen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt, alleingelassen, abgeschoben. Geringe Unterstützung von staatlicher Seite, schlechte Bezahlung für Fürsorge und Pflege, die ungelöste Frage altersgerechten Wohnens machen aus dem Eintritt in das Rentenalter oftmals einen Sozialfall. Immer mehr von materiellen Interessen geprägte zwischenmenschliche Beziehungen wirken sich auch auf Familien aus; auf der Strecke bleiben da häufig die Alten.
Die Resonanz auf den Beitrag in der BZ [Berliner Zeitung] war groß. Briefe, Anrufe, Vorschläge, Hilfsangebote ließen ahnen, was ältere und alte Frauen an Wünschen, Hoffnungen, Ängsten, seelischem und materiellem Notstand in diesen Zeiten mit sich tragen. Die "Senioras" wollen von der neuen Regierung einfordern, was ihnen schon seit langem zusteht: einen sinnerfüllten, sicheren Lebensabend.
"Unser Arbeitskreis soll einen Rahmen für politische und soziale Aktivitäten ohne Bevormundung bilden", so Jutta Janz. Zu groß ist die Verbitterung über die so oft beschworene und doch in der Realität kaum vorhandene Solidarität und Lebenshilfe für die Alten.
Es ist unbestritten notwendig und wichtig, sich zuzuhören, Enttäuschungen und Ängste zu artikulieren, die Probleme des anderen kennenzulernen. Aber dabei kann man nicht stehen bleiben. Praktikable Lösungsvorschläge müssen gemacht werden, wie beispielsweise, zukünftig ein Ministerium für Altenpolitik zu bilden. Im Hinblick auf die Vorruhestandsregelung, eine zukunftsträchtige Idee, werden doch dann bedeutend mehr Rentnerinnen und Rentner in unserem Land leben.
Die "Senioras" stehen erst am Anfang ihrer Arbeit. Aber erste Probleme sind bereits auf die Runden Tische der Stadtbezirke gelegt, Kontakte zu Interessierten in anderen Städten geknüpft. Entscheidend wird sein, wie sich die Regierung nach dem 18. März [Volkskammerwahl] zum Problem "Leben im Alter" stellen wird. Auch daran sollten Wahlprogramme gemessen werden.
Kathrin Gerlof
aus: FÜR DICH, 12/90, 28. Jahrgang, Unabhängige Frauenzeitschrift