Ina Merkel Dezember 1989

Ohne Frauen ist kein Staat zu machen

Einige Frauen-Fragen an ein alternatives Gesellschaftskonzept
oder:
Manifest für eine autonome Frauenbewegung

Die Frauenfrage sei gelöst, behaupten die Einen, sie sei jetzt nicht das vorrangige Problem sagen die Anderen, sie muss jetzt endlich auf die Tagesordnung, sagen die Dritten. Aber was ist das überhaupt - die Frauenfrage?

Wir Frauen müssen heute konstatieren: Der Umbruch der DDR-Gesellschaft wurde von den Massen auf der Straße eingeleitet. Frauen waren als Vorkämpferinnen und als Mitstreiterinnen, als Betroffene des Massenexodus und als Opfer der Obergriffe überall dabei. Aber bei der Ausarbeitung zukünftiger Gesellschaftsstrategien zur Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft bleiben Frauen schon wieder außen vor.

"Neue Männer braucht das Land", lautete eine der in den letzten Wochen immer wiederkehrenden Losungen. Braucht es nicht auch neue Frauen? Der erste Mann des Landes, Modrow, hat sich eine Frau an seine Seite geholt - ein neuer Anfang?

Diese Gesellschaft befindet sich in einer tiefen Krise. Nach wie vor verlassen die BürgerInnen ihr Land zu Tausenden. Die führende Partei ist moralisch bankrott. Die Auflösung des Sozialismus als Gesellschaftssystem scheint unmittelbar bevorzustehen. Auf der anderen Seite leckt man sich schon die Lippen. Können wir uns in einer solch komplizierten Situation überhaupt eine Frauenfrage leisten?

Wir müssen dieser scheinbar zwanghaft ablaufenden Entwicklung ein alternatives Gesellschaftsmodell entgegensetzen. Aber wer wird noch darauf hören, wenn wir für einen erneuerten Sozialismus plädieren? Und dennoch: Dieses Land muss zu einer Gesellschaft entwickelbar werden, in der die Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen das eigentliche Ziel sind, oder es wird dieses Land nicht mehr geben. Ein Gesellschaft, in der Arbeit und Konsum, Politik und Lebensumwelt gestaltbar werden, gestaltbar durch sich selbst bestimmende und selbstverwaltende Subjekte. Das schließt eine optimale Entwicklung der Wirtschaft ein, aber so, dass sie nicht länger die lebensweltlichen Bedürfnisse und Interessen der Individuen dominiert, sondern für die Individuelle Entwicklung freie gesellschaftliche Räume, frei verfügbare Zeiten und eine funktionale Gegenständlichkeit schafft. Das schließt politische Macht nicht aus, wohl aber die Unterordnung der Individuen unter diese Macht. Das heißt: Wirtschaft und Politik müssen sich grundsätzlich neue Mechanismen und Strukturen schaffen, die die Durchsetzung sozial-progressiver Ziele garantieren. Das heißt: der Entwicklungsprozess der Gesellschaft muss für die Subjekte gestaltbar gehalten werden, er muss in Permanenz erneuerbar und lernfähig sein.

Sicher ist: wir brauchen eine Wirtschaftsreform und die Reform des politischen Systems. Aber die zu erwartenden Umbrüche in der Lebensweise, in den Bedürfnissen und in der sozialen Lage dürfen nicht wieder als Folgeprobleme nach hinten geschoben werden. Wir müssen dringend auf ein alternatives Konzept von Lebensweise bestehen und wir sollten die Parteien und politischen Bewegungen danach fragen, welche neuen Lebensperspektiven diese oder jene Strategien eröffnen, damit auch unsere Erwartungen, unsere Frauen-Fragen in einem alternativen Gesellschaftskonzept politikfähig werden.

Wir müssen darauf bestehen, dass Frauenfragen keine gesellschaftlichen Randprobleme sind sondern existenzielle Grundfragen. Sie betreffen die Existenzweise der Gesellschaft, ihren reproduktiven Zusammenhang, ihre Entwicklungsmöglichkeiten und Ziele. Daher denke ich, wenn wir Frauen dafür sorgen wollen, dass unsere besonderen Interessen, die wir aufgrund unserer besonderen Lebenslage und unserer spezifischen Erfahrungen haben, in einem modernen Gesellschaftskonzept nicht nur irgendwie berücksichtigt werden, benötigen wir selbst eine gesamtgesellschaftliche Herangehensweise. Welche Problemfragen könnten für ein solches Konzept konstitutiv sein, was sind hier allgemeine und was besondere Frauen-Fragen?

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Diese Gesellschaft bewegte sich in den letzten Jahren zielgerichtet auf einen Abgrund zu. Es kam zu einer rapiden Verschlechterung der Lebensbedingungen der Menschen, ihrer sozialen Lage. Sehr deutlich äußert sich diese Bewegung u.a. in der Verschärfung der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Sie drückt sich aus In einer ständig steigenden Scheidungsrate und einem andauernden Geburtenrückgang. Sie erscheint im geringen Lebensstandard alleinerziehender Mütter, sie erweist sich in der schmählichen Vernachlässigung unserer älteren Frauen, derjenigen also, auf deren Rücken sich dieses Land nach 1945 aufrichtete. Sie zeigt sich aber auch da, wo sie bis heute keiner wahrhaben will: in dem starken Gefälle von männlichem und weiblichem Arbeitslohn, von männlichem und weiblichen Zugriff auf materielle und kulturelle Lebensbedingungen, auf Entscheidungsbefugnisse und politische Macht. Frauen haben zugleich die Mängel der Versorgung, der Infrastruktur und des Dienstleistungssystems durch ihre Mehrarbeit kompensieren müssen. Frauen sind zunehmend männlicher Aggressivität hilflos ausgeliefert. Die Sexualisierung des weiblichen Körpers ist schon wieder gesellschaftsfähig.

Letztendlich aber werden unsere Kinder die wirklichen Opfer dieser verfehlten Entwicklung sein. Ihnen werden die Altlasten versäumten Umweltschutzes, ausgepowerter Natur und jahrzehntelanger Misswirtschaft aufgebürdet. Sie leiden unter der Nervosität und Gefühllosigkeit bis zum letzten angestrengter Mütter und Väter. Sie sind die Leidtragenden eines anachronistischen Bildungssystems.

Das sind einige der gravierenden sozio-kulturellen Folgen des staatlich-administrativen, bürokratischen Sozialismus. Die Selbstherrlichkeit einer männlich dominierten Führung hat dieses Land an den Rand des Abgrunds geführt. Männer sind für die Politik der letzten Jahrzehnte hauptverantwortlich und vor allen Männer haben diese Politik als politische Leiter, Direktoren und Betriebsleiter mitgetragen, obwohl sie es hätten besser wissen müssen. Auch Frauen sind politisch mitverantwortlich für die entstandene Lage, aber sie befanden sich in allen gesellschaftlichen Bereichen in einer untergeordneten Position.

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Heute sehen wir uns mit der Tatsache konfrontiert, dass für viele unserer MitbürgerInnen die soziale und kulturelle Identität mit einer sozialistischen Lebenswelt zu zerbrechen droht. Schon werden die Auswege im "Land der Väter" gesucht. Wir aber sollten uns an dieser Stelle fragen, ob wir zu solchen Wieder/Vereinigungskonzepten eine reale und lebenswerte, eine sozialistische Alternative entwickeln können. Welche Zukunft können wir in einer solchen sozial katastrophalen Lage den Menschen bieten, welche Lebensperspektiven wollen wir Ihnen eröffnen, damit es sich für sie lohnt, hierzubleiben.

Wollen wir uns etwa mit den Herren in Bonn wiedervereinigen, die Diktatur des Politbüros durch die Diktatur des Bundeskanzleramts ersetzen? Wiedervereinigung hieße in der Frauenfrage drei Schritte zurück - es hieße überspitzt gesagt: Frauen zurück an den Herd. Es hieße: wieder kämpfen um das Recht auf Arbeit, kämpfen um einen Platz für den Kindergarten, um die Schulspeisung. Es hieße, vieles mühsam Errungene aufzugeben, statt es auf eine neue qualitative Stufe zu heben.

Die Frauen haben kein Vaterland zu verlieren sondern eine Welt zu gewinnen. Wir sollten gerade jetzt die Chance ergreifen, in einem erneuerten Sozialismus die Vielfalt unserer Lebensformen, unsere individuelle Verschiedenartigkeit, unsere Bedürfnisse und Ansprüche zur Geltung zu bringen. Bringen wir unsere Frauenbewegung auf die Höhe der Zeit. Schließen wir uns den linken Kräften in Europa an. Setzen wir uns für eine multikulturelle Gesellschaft ein, in der jedeR die seinen nationalen, kulturellen und sozialen Besonderheiten entsprechende Lebensstile ausprägen kann. Sorgen wir dafür, dass in unserem Land niemand wegen seiner Herkunft, seiner Nationalität, wegen seiner Behinderung oder einfach seiner Andersartigkeit ausgegrenzt wird. Schaffen wir vielmehr die Bedingungen für die Entwicklung solidarischer Beziehungen - zwischen Männern und Frauen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Alten und Jungen, zwischen Gesunden und Kranken.

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Ist ein Konzept der Entwicklung zu einer Konsum- und Leistungsgesellschaft nach westlichen Vorbild - aber ohne eine erfahrene und starke Gewerkschafts- und Frauenbewegung - dafür hilfreich? Was versprechen sich Frauen von einer Wirtschaftsreform? Welche Alternativen sind für Frauen interessant, welche Gesellschaftsmodelle sollten sie favorisieren?

Die Völker der Erde stehen heute vor existenziellen globalen Problemen. Umweltzerstörung, Kriegsgefahr und lebensbedrohliche Lage in der Dritten Welt sind die Folgen der hemmungslos expandierenden männlich dominierten Industriegesellschaften. Die folgenreiche Logik einer auf der Beherrschung der Natur und der Unterdrückung großer Bevölkerungsgruppen (darunter besonders der Frauen) beruhenden Entwicklung muss durchbrochen werden, wenn die Menschheit sich nicht am Ende selbst vernichten soll. Frauen sind vielleicht unmittelbarer betroffen von dieser Logik und sie haben als Mütter eine besondere Verantwortung für die Sicherung einer menschlichen Zukunft.

Die Folgen fortgesetzter Zerstörung der Umwelt sind heute schon spürbar. Wir Frauen bringen unsere Kinder in eine gefährdete Welt und wir haben Angst vor ihrer Zukunft. Wir durchleiden mit ihnen die verpestete Luft, den ständigen Husten, die Allergien. Wir fragen uns, ob wir sie weiterhin mit unserer bleivergifteten Muttermilch nähren dürfen. Schon heute bekommen wir in vielen Gebieten der DDR das Trinkwasser für die Babynahrung in Flaschen geliefert. Wir Mütter sollten aufs höchste beunruhigt sein über den Verfall der Natur und der Städte, über den Verlust von Kulturgeschichte und Landschaft. Denn wenn es so wie bisher weitergeht, werden unsere Kinder bald nicht mehr wissen, was ein Schmetterling ist, wir werden mit ihnen in Sommer an Wassern sitzen, in denen sie nicht baden können. Wir werden nicht wagen, mit ihnen Pilze zu sammeln oder Beeren zu pflücken.

Wir Frauen sollten uns deshalb für ein Wirtschaftskonzept einsetzen, dass in der ökologischen Reorganisation der Gesellschaft, d.h. der Wirtschafts- und der Lebensweise, den entscheidenden Ansatz für die Bewältigung der Krise sieht.

Ein solches Konzept darf aber nicht dazu führen, dass unsere Lebensweise und Kultur weiterhin von Mangel diktiert wird, es darf nicht zu einer weiteren Reduktion konsumtiver Standards kommen, sondern wir setzen uns ein für die Entwicklung und Befriedigung vielfältiger Bedürfnisse.

Wie soll das aber zusammengehen - eine ökologisch vernünftige Produktion und Entwicklung der Bedürfnisvielfalt? Das kann nur gut gehen, wenn es uns gelingt, überzeugende kulturelle Alternativen zu bisherigen Formen der Konsumtion, Ernährung und Bedürfnisbefriedigung zu entwickeln. Das könnte bedeuten, sich für eine vernünftige Ernährungsweise einzusetzen - mit weniger Fleisch und mehr Obst und Gemüse. Umgestaltung der Lebensweise bedeutet auch mehr frei verfügbare Zeit für jeden und Schaffung sinnvoller gesellschaftlicher Alternativen zur privateigentümlichen Anhäufung von Reichtümern.

Braucht jede Frau ein Auto? Nein, denn nur wenige können sich eines leisten, es ständig pflegen und reparieren und deshalb wären viele Frauen zufrieden, wenn sie für Urlaubsreisen und freie Tage unkompliziert eines mieten könnten oder wenn der Nahverkehr genügend attraktive Sonderangebote für Wochenend- und Ferienreisen bereitstellen würde. Frauen würden auch auf die eigene Datsche verzichten, wenn es komfortable Feriendörfer gäbe, mit Vollverpflegung und Freizeitangeboten vom Sport bis zur Gartenarbeit, in die man auch gemeinsam mit Bekannten und Freunden fahren kann, in denen man jederzeit einen Platz bekommt und die man vielleicht auch gemeinschaftlich verwaltet.

Frauen haben ein elementares Interesse an langlebigen und dennoch veränderbaren Wohnungseinrichtungen und an funktionierenden Dienstleistungen.

Wir sollten dazu beitragen, dass attraktive und gemeinnützige Alternativen zur privateigentümlichen Konsumtion entwickelt werden. Setzen wir auf Stadt- und Verkehrsentwicklung statt auf die Erweiterung des Individualverkehrs, auf gemeinnützige Infrastrukturen, auf praktikable Dienstleistungen, auf Öffentlichkeit und Kommunikation anstelle des weiteren Rückzugs in die Privatsphäre.

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Unsere wackeren VorkämpferInnen bildeten sich lange ein, die Emanzipation der Frau sei vollzogen, wenn die Ausbeutung beseitigt und die ökonomische Unabhängigkeit durch eigene Arbeit gesichert seien. Sie meinten, die Frauen wollten nur nicht an die Macht in Staate und in der Wirtschaft, weil sie sich nicht für fähig hielten und durch ihre Kinder und die Doppelbelastung davon abgehalten würden. Ihr Leben lang bekämpften sie die Vorstellung, dass es auch im Sozialismus eine spezifische Form der Frauenunterdrückung gäbe, aus der die Männer ihren Vorteil ziehen könnten, obwohl ihnen jede Statistik deren schädliche Folgen vor Augen führte. Sie erfanden immer neue Geschenke an die arbeitsamen Frauen und versetzten Ihnen damit hinterrücks den Dolchstoß. Heute ist es nicht nur soweit, dass jedeR Leiterln es tunlichst vermeidet, eine halbwegs anspruchsvolle Stelle mit den Störfall Frau zu besetzen. Frauen müssen sich darüberhinaus den Vorwurf gefallen lassen, sie leisteten zu wenig und bekämen zu viel Unterstützung.

Was aber bedeutet für Frauen die Durchsetzung des sogenannten Leistungsprinzips? Solange der Leistungsbegriff von männlicher Arbeit abgeleitet wird und nicht das Verhältnis von aufgewendeter Zeit und erzielten Ergebnis misst, also allgemeine Maßstäbe zur Anwendung bringt, wird mit den Leistungsprinzip die ungerechtfertigte Abwertung weiblicher Arbeit fortgeschrieben. Das heißt weibliche Arbeit in Industrie und Landwirtschaft, in Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen wird solange unterbezahlt und negativ bewertet, wie diese Gesellschaft nicht neue Kriterien für Leistung entwickelt. Warum erhält eine Krankenschwester weniger Lohn als der Fahrer eines LKWs? Weil sie weniger leistet? Wohl kaum, sondern weil sie etwas anderes leistet, etwas, von dem die Gesellschaft nichts zu haben meint. Wo sie scheinbar nur investiert ohne etwas zu erwirtschaften.

Aber, wird hier jemand einwerfen, was ist mit den Frauen, die ständig wegen ihrer kranken Kinder fehlen, sollen sie weiterhin Ausgleichszahlungen für nicht erbrachte Leistungen erhalten? Wird durch sie nicht der gesamte Arbeitsablauf gestört, bringen sie nicht permanent die Frauenarbeit in Verruf? Gegenfrage: warum betreuen in der Mehrzahl die Mütter ihre kranken Kinder? Weil die Väter das größere Geld verdienen, weil sie angeblich die wichtigere, unentbehrlichere Arbeit tun, weil ihre Chefs sagen, dass das nicht infrage käme. Zweite Gegenfrage: was ist daran so Verwerfliches, dass sich Eltern um ihre Kinder kümmern? Sollten wir nicht vielmehr unsere Kinder als kostbarstes Gut behüten und umsorgen und es denen danken, die sie großziehen und umsorgen? Und sind drittens wirklich die kranken Kinder der entscheidende Störfall in unserer sehr störanfälligen Wirtschaft? Letzte Gegenfrage: was tun wir dafür, dass unsere Kinder gesund bleiben? Lassen wir sie am Morgen ausschlafen oder reißen wir sie von frühester Kindheit an vor dem Morgengrauen aus ihren Betten? Wieviel Zuwendung haben wir in einer Arbeitswoche für sie übrig, um ihren seelischen und psychischen Zustand zu erkennen und zu stärken? Können wir sie jederzeit mit genügend Vitamine gesund ernähren? Wie schützen wir sie vor gereizten und überlasteten Erzieherinnen, vor nörgelnden und unausgeschlafenen Spielkameraden? Und schützen wir sie auch vor uns selbst, vor der ewigen Unzufriedenheit überanstrengter Mütter, vor der Hetze durch die abendlich überfüllte Kaufhalle, vor den hastigen Ins-Bett-Bringen?

Frauen sollten sich deshalb nicht nur für eine Überprüfung der Leistungskriterien engagieren, sie sollten nicht nur die abstrakte Angleichung der Löhne anstreben, sondern sich auch für eine materielle Aufwertung der Erziehungsarbeit einsetzen: Herabsetzung des Rentenalters, Heraufsetzung des Urlaubs für Eltern, Umwandlung des Kindergeldes in ein Erziehungsgeld.

Wir wollen nicht länger die bescheidenen und arbeitsamen, unterbezahlten und für dumm verkauften Helferinnen und Mitarbeiterinnen sein, denen man jährlich zum 8. März ein mageres Dankeschön sagt. Wir plädieren für eine gerechte Verteilung der Arbeit und der Leistungen. Dazu brauchen wir grundlegende strukturelle Veränderungen in der geschlechts-spezifischen Arbeitsteilung, diese sind jedoch nur durch die gezielte Quotierung erreichbar: Quotierung für Frauen in Hochleistungsbereichen, in Leitungen und bei attraktiven Stellungen. Quotierung aber auch für Männer, um ihnen den Zugang zu den über ein erträgliches Maß feminisierten Berufsgruppen in der Volksbildung, in den Dienstleistungen und im Gesundheitswesen zu erleichtern. Quotierung bedeutet nicht nur, eine quantitative Erhöhung des Frauenanteils in bestimmten Berufsgruppen oder Positionen anzustreben, sondern verlangt die gezielte Werbung von Frauen für bestimmte Positionen in Verbindung mit konkreten Fördermaßnahmen. Leitungspositionen dürfen nicht extreme Zusatzbelastung bringen, sondern sollten für Frauen durch ein Mehr an freier Zeit zugänglich gemacht werden. Frauenberufe sollten nicht nur materiell entschieden aufgewertet werden, sondern auch zu flexibleren Zeitstrukturen führen.

Aber wer will schon eine Quothilde sein, lauten die ersten bescheiden-zurückhaltenden Anfragen von Frauen, die um ihr Prestige fürchten an einer Stelle, wo sie noch keines zu verlieren haben. Wir sollten keine Angst haben um die Fähigkeiten von Frauen. Allzuoft sind uns die mittelmäßigen Männer in die Quere gekommen, haben unsinnige Entscheidungen über uns hinweg getroffen, waren unbelehrbar und haben unseren praktikablen Rat gemieden. Wenn sich allerdings die aufsteigenden Frauen dieselben Ellenbogenmanieren aneignen, wenn sie in gleicher Weise machtbesessen und selbstherrlich über andere hinwegregieren, wenn sie nicht zugleich demokratische Formen der Selbstverwaltung und Entscheidungsfindung praktizieren, dann allerdings werden sie größere Schäden und Fehler kaum vermeiden können.

In der Quotierung liegt die große Chance, zu wirklichen Strukturveränderungen und zu einer neuen Qualität von Politik zu gelangen, zu frauenfreundlichen Politikformen, geprägt von Rationalität, Zeitsinn und praktischer Vernunft. Und haben wir nicht positive Erfahrungen mit Quotierungsregeln in dieser Gesellschaft gemacht - wenn sie nicht in den letzten Jahrzehnten unsinnigerweise überstrapaziert worden wären - nämlich mit der Quotierung von Arbeiter- und Bauernkinder zum Studium und für den beruflichen oder politischen Aufstieg? Die heutigen mittfünfziger Professoren, Direktoren, Kombinatsleiter und Politiker haben ihre Karriere eben diesen Regeln zu verdanken. Da sollten wir Frauen uns bei allen Bedenken nicht selbst wieder hintanstellen.

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Radikale Quotierung, d.h. sofortige Halbierung der Besetzung aller gesellschaftlich relevanten Positionen, ist die Voraussetzung für eine wirkliche Demokratisierung. Quotierung und Demokratisierung gehören bei der Erneuerung der politischen Kultur untrennbar zusammen. Diese Frauenfrage ist heute zwar für alle Parteien und politischen Bewegungen ein offenes Problem, aber sie ist noch immer nicht öffentlich. Deshalb brauchen wir eine eigene politische Organisation, eine Sammlungsbewegung, die dafür sorgt, dass Frauenfragen Öffentlichkeit gewinnen und so politikfähig werden.

Erst wenn die Frauen ihrem Anteil an der Menschheit entsprechend repräsentiert sind, können sie sich über ihre Interessen als soziale Randgruppe erheben und sich in gleicher Weise wie Männer den gesellschaftlich übergreifenden Fragen zuwenden. Eben weil Frauen keine soziale Minderheit sind, sondern die Hälfte der Menschheit, müssen sie bei allen Menschheitsfragen ihr Votum einbringen können. Eine Frauenbewegung aber, die ohne ein gesamtgesellschaftliches Konzept sich nur auf die Durchsetzung weiblicher Partialinteressen orientiert, wird sich an Ende selbst marginalisieren.

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Wir Frauen sollten deshalb für eine vierfache Gewaltenteilung eintreten: d.h. die klassische Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung, Regierung und Rechtssprechung muss durch die vierte Gewalt: eine demokratische Öffentlichkeit erweitert werden. Wir plädieren daher sowohl für die Schaffung einer breiten Frauenöffentlichkeit in Form von eigenen Publikationen, einer eigenen Tageszeitung, eigenen Sendern und Fernsehstudios aber auch Frauenkulturzentren, Frauencafés, unabhängigen Frauenforschungsinstitute usw. wie auch für die Schaffung vielfältiger demokratischer Vertretungsorgane für die Probleme von Konsumtions- und Lebensweise, von Bildung und Erziehung, von Lohn und Preispolitik. Wir brauchen Verbraucherorganisationen, die über die ökologische Verträglichkeit der Produkte entscheiden, wir brauchen autonome Elternvertretungen, die auf die Bildungsinhalte und pädagogischen Strategien Einfluss nehmen können. Und wir brauchen - und das ist wahrscheinlich am dringlichsten - auf der anderen Seite eine Vielzahl von Selbsthilfegruppen und Basisinitiativen, die unmittelbar im Territorium wirken.

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Unser sofortiges Interesse aber, und darauf zielt das Sofortprogramm, gilt den werktätigen Frauen. Konfrontiert mit den Rationalisierungs- und Effektivirrungsstrategien in Wirtschaft und Verwaltung sehen wir die akute Gefahr, dass die unmittelbaren Interessen der werktätigen Frauen in der Arbeit selbst unterminiert werden. Wir sehen die Gefahr, dass Frauen massenhaft aus ihrem gewohnten Arbeitsumfeld herausgelöst werden, ohne dass es hinreichende Konzepte zur Umschulung oder anderweitigen angemessenen Umsetzung in andere Arbeitsbereiche gibt. Um diese Interessen sofort zur Geltung zu bringen und zu verhindern, dass Frauen mit diesen Problemen isoliert und alleingelassen individuell zurande kommen müssen; schlagen wir euch vor, sofort Betriebsräte zu wählen, die das Vertrauen der gesamten Belegschaft genießen und die mit umfassenden Befugnissen zur Einsichtnahme in geplante Veränderungen, mit dem Vetorecht zur Verzögerung vorgesehen der gravierender Eingriffe ausgestattet werden.

Das Sofortprogramm umfasst darüberhinaus kurzfristige Maßnahmen zum Aufbau eines umfassenden sozialen Netzwerks, das den Sinn solidarischer Gemeinschaftlichkeit verpflichtet ist und darauf orientiert, soziale Härten unmittelbar abzufedern.

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Um diese Sofortmaßnahmen und auch ein strategisch orientiertes Programm politisch durchsetzbar zu machen, brauchen wir eine aktive und handlungsfähige demokratische Frauenbewegung.

Eine solche Sammlungsbewegung sollte sich zunächst in ihren Organisationsstrukturen offenhalten, Verschiedenes probieren, immer wieder Neues erfinden, damit sich nicht allzuschnell hinterrücks die gewohnten patriarchalischen Politikmuster wieder einschleichen. In ihrem Grundcharakter sollte sie zutiefst basisdemokratische Formen anstreben, jeder Basisgruppe ihre Eigenständigkeit belassen und die Vollversammlung oder den Kongress als verbindliches Gremium anstreben. Die Kriterien zur Zulassung von Gruppen zur Sammlungsbewegung sollten immer wieder neu beraten werden, so auch die Frage, ob gemischte bzw. autonome Männergruppen in einer Frauenbewegung einen Platz haben können.

Die pluralistische Meinungsvielfalt gründet sicher in einem Minimalkonsens, der jeweils zu den Kongressen neu bestimmt werden muss. Aus diesen Minimalkonsens könnten konzertierte politische Aktionen abgeleitet werden, wie z.B. Wahlprüfsteine für Parteien und politische Bewegungen, Wahlbündnisse mit anderen Organisationen, Aufrufe zu Massendemonstrationen und anderen Formen des Protestes, Hilfs- und Solidaritätsaktionen u.a.m.

Die Kongresse könnten einen Rat der Sprecherinnen wählen, in den die Meinungsvielfalt möglichst gewahrt bleiben sollte. Dieser Rat könnte eine Art Arbeitsgremium sein, das zwischen den Kongressen Arbeitsgruppen oder Ausschüsse zu bestimmten Problemfragen betreibt, Hearings zu Gesetzesvorlagen organisiert, selbst Gesetzesvorlagen ausarbeitet und die parlamentarische Vertretung der Sammlungsbewegung sichert. Um die Professionalität der Sprecherinnen zu sichern, sollten sie für die jeweilige Wahlperiode aus den Mitgliedsbeiträgen feste Diäten erhalten. Hier ist zu überlegen, ob man anstelle der personengebundenen Kandidatinnenwahl besser Listenplätze sichert und Rotationsprinzipien für die parlamentarische Vertretung einführt.

Auf den Kongressen sollten konkrete Aktionsprogramme beraten und beschlossen werden, wobei es günstig wäre, sich auch über strategische und programmatische Zielvorstellungen zu verständigen. Sprecherinnen und Aktionsprogramm sollten im Einzelwahlverfahren (auch für jeden Programmpunkt) durch einfache Mehrheit bestätigt werden. Auf keinen Fall sollte die Beugung der Basisgruppen unter Mehrheitsbeschlüsse angestrebt werden.

Die heutige Gründungsversammlung sollte bereits versuchen, einen provisorischen Rat der Sprecherinnen zu wählen, um die Repräsentanz bei Modrow am Runden Tisch unmittelbar zu sichern. Dafür wäre es gut, wenn sich diese Versammlung außer dem Sofortprogramm auf einen Minimalkonsens einigen könnte. Ich schlage vor einzutreten:

1. für einen modernen Sozialismus auf deutschem Boden in einem gemeinsamen europäischen Haus

2. für eine ökologische Reorganisation der Wirtschaft

3. für Demokratie, Selbstverwaltung und Öffentlichkeit

4. für eine multikulturelle Gesellschaft

5. für ein solidarisches Miteinander aller sozialen Gruppen

aus: Demokratiebewegung - wie weiter?, Dezember 1989-Januar 1990, Demokratiebewegung in der DDR, Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, DGB-Bundesvorstand, Abt. gewerkschaftliche Bildung, ohne Ort und Datum

Später sagte sie über ihr Manifest "Ohne Frauen ist kein Staat zu machen": "Nach vielen Jahren lese ich Sätze, die ich wohl damals geschrieben haben muss, und erkenne sie kaum als meine Gedanken wieder. Dieses Manifest ist ein Zufallsprodukt gewesen, entstanden in einer Nacht, aus der Wut heraus geschrieben, weil ich mich mit meinen Ideen bei einem Vorbereitungstreffen für das große Frauentreffen nicht durchsetzen konnte."

Und:

"Die Überschrift lautet: 'Ohne Frauen ist kein Staat zu machen.' Wenn ich mich recht erinnere, ist das geklaut. Und zwar von der damaligen CDU-Familienministerin Ursula Lehr, einer Entwicklungspsychologin, die in den sechziger Jahren zu Berufstätigkeit und Mutterschaft geforscht und durchaus fortschrittliche Ansichten vertreten hatte und mit deren Schriften ich mich in meiner Dissertation befasst hatte."

Ina Merkel in Eva Schäfer, Bärbel Klässner, Helga Adler, Astrid Landero (Hrsg.) Frauenaufbruch '89, Was wir wollten - Was wir wurden

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