Erklärung des Unabhängigen Frauenverbandes in Vorbereitung auf das Gespräch mit Ministerpräsident Modrow am 2.1.1990
Ausgangspunkt für die Schaffung eines "Runden Tisches" war die Sorge um unser in die Krise geratenes Land. Es bestand die dringende Notwendigkeit für die Koalitionsregierung Modrow mit den neu entstandenen politischen Bewegungen und Parteien in einen konstruktiven Dialog zu treten.
In der ersten Erklärung des Runden Tisches zum Selbstverständnis wurde von allen Seiten der Wille kundgetan, ihre Verantwortung als "Bestandteil der öffentlichen Kontrolle" wahrzunehmen. Ziel war es, bereits in der Phase der Vorbereitung einer neuen Verfassung und der damit im Zusammenhang stehenden Durchführung freier, gleicher und geheimer Wahlen zu einer Demokratisierung der Gesellschaft in allen ihren Ebenen und Sphären zu gelangen, mehr Durchschaubarkeit und eine breite Öffentlichkeit für die ablaufenden Prozesse zu schaffen und so die Bevölkerung zu motivieren, an der Erneuerung der Gesellschaft mitzuwirken.
Nunmehr, nach der 4. Tagung des Runden Tisches, sehen wir dieses Ziel auf das äußerste gefährdet. Wir stellen fest:
1. Die Koalitionsregierung stellt sich bisher nicht den Vertretern des Runden Tisches. Sie ist bei den Sitzungen nicht vertreten und hat trotz mehrfacher ausdrücklicher Aufforderung bisher die Bedingungen für eine wirksame öffentliche Kontrolle ihrer Tätigkeit nicht geschaffen. Es wurden z.B. weder die mehrfach angefragten Wirtschaftsdaten noch die Verhandlungspositionen mit Kohl und Mitterand offengelegt.
2. Die ökonomischen und politischen Aspekte der zweiten Grenzöffnung wurden weder vorher noch nachher mit den Vertretern des Runden Tisches erörtert, obwohl hierzu ausdrücklich Anfragen von Seiten der Neuen Gruppierungen gestellt wurden, insbesondere im Zusammenhang mit dem Auftreten von Stellvertreterin Luft.
3. Obwohl bisher keine Strategien zur Internationalisierung der Volkswirtschaft der DDR erarbeitet und zur öffentlichen Diskussion gestellt wurden, finden bereits Verhandlungen mit wesentlichen Kapitalgebern statt, es sind Gesetze zur Regelung von Kapitaltransfer zum Investitionsschutz und zu Joint Ventures in Arbeit, ohne dass der Runde Tisch davon dezidiert in Kenntnis gesetzt bzw. in die Erarbeitung einbezogen wurde.
4. Die Öffentlichkeit ist de facto von den Verhandlungen am Runden Tisch ausgeschlossen, weil das Staatsfernsehen der DDR und der Rundfunk nach eigenem Ermessen der Redakteure davon berichtet. Gegendarstellungen und Kommentare, Kritiken der Neuen Gruppierungen werden von den Medien nach wie vor unterdrückt. Die Regierung hat bisher nichts unternommen, um diesen Zustand zu beenden.
Wir konstatieren: der Dialog zwischen Koalitionsregierung und Neuen Gruppierungen findet nicht statt. Damit wird verhindert, dass am Runden Tisch konstruktiv gearbeitet werden kann. Die Neuen Gruppierungen büßen zunehmend das Vertrauen der Bevölkerung ein, weil es ihnen nicht gelingt, über die Maßnahmen und Strategien der Regierung die öffentliche Kontrolle herzustellen. Aber auch die Koalitionsregierung muss mit einem weiteren Vertrauensverlust in der Bevölkerung rechnen, weil sie keine erkennbaren Maßnahmen zur Demokratisierung des Landes eingeleitet hat, sie vielmehr die alten Formen der Machtausübung weiter praktiziert.
Wenn die Koalitionsregierung nicht bereit ist, sich der öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen, muss ihr das Misstrauen ausgesprochen werden.
Wir fordern daher die Koalitionsregierung auf, umgehend Maßnahmen zur Demokratisierung der Gesellschaft zu ergreifen, der Bevölkerung das Recht auf umfassende Information und Offenlegung von Reformstrategien und -konzepten zu sicher und den Neuen Gruppierungen angemessene und gleichberechtigte Wirkungsmöglichkeiten zuzugestehen.
Wir fordern die Regierung des weiteren dazu auf, dafür zu sorgen, dass die Arbeitsfähigkeit des Runden Tisches gewährleistet wird, indem sie
1. selbst am Runden Tisch mit kompetenten Vertretern teilnimmt
2. Vertreter der Neuen Gruppierungen als Beobachter mit dem Recht - Anfrage an den Sitzungen der Regierung teilnehmen lässt
3. die Vertreter der Neuen Gruppierungen mit beschränkten parlamentarischen Funktionen ausstattet, so dass sie mit Rederecht an den Sitzungen der Volkskammer und ihrer Ausschüsse teilnehmen können und dabei das Recht zur Expertenbenennung und öffentlichen Expertenanhörung wahrnehmen können
4. volle Öffentlichkeit für die Tagungen des Runden Tisches zu schaffen und den Neuen Gruppierungen freie Plätze in den Medien einräumt, d.h. regelmäßige Seiten in den Printmedien, regelmäßige Sendezeiten in Rundfunk und fernsehen in eigener Redaktion gesichert.
Folgende Sachfragen und Themen sollten ab sofort am Runden Tisch Priorität gewinnen:
1. Diskussion über die Verfassung
Der Runde Tisch sollte sich auf die Verständigung über die Struktur und gesellschaftliche Verfassung der DDR konzentrieren. Alle zur Zeit in eklektischer Weise diskutierten Gesetze berühren Grundfragen der zukünftigen Verfassung. Sollen sie nicht nach ihrer Verabschiedung in Kürze revidiert werden, so müssen sie in ihrer Ganzheitlichkeit, in ihrem Zusammenhang mit der zukünftigen Verfassung erarbeitet und diskutiert werden. Alle Teilgesetze stoßen an die derzeit existierende Verfassung, unterlaufen sie tendenziell und schreiben so eine neue Verfassung in bestimmten Bereichen fest, ohne dass es dafür zu einer grundsätzlichen Entscheidung gekommen wäre.
Daher sollten alle am Runden Tisch sitzenden Gruppierungen und Parteien dazu aufgefordert werden, sich öffentlich über ihre Vorstellungen zu einer künftigen Verfassung zu äußern, d.h. insbesondere über die zukünftige Verwaltungsstruktur des Landes, über die Formen der Gewaltenteilung, über die Stellung des Individuums zum Eigentum, über die Wirtschaftsverfassung und Formen der Wirtschaftsdemokratie.
Sie sollten sich des weiteren darüber verständigen, auf welchem Wege die Gesellschaft zu einer demokratischen, von der Bevölkerung in ihrer Mehrheit getragenen Verfassung kommen will.
Ein Plebiszit über die Verfassung vor den Wahlen birgt den Nachteil in sich, dass diese Verfassung allein von einem Expertengremium ausgearbeitet werden würde und in der Kürze der Zeit keine angemessene, d.h. öffentliche und sachkompetente Diskussion zustande käme.
Ein anderer möglicher Weg bestünde darin, zuerst Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung durchzuführen, die legitimiert wäre, eine Verfassung auszuarbeiten und umfassend öffentlich zu diskutieren. Die sich um Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung bemühenden Gruppierungen, Parteien und Einzelpersonen müssten sich im Wahlkampf dezidiert zur Verfassung äußern. Dieser weg hätte den Nachteil, die andauernde tendenzielle Regierungsunfähigkeit noch über einen längeren Zeitraum fortzuschreiben.
2. Diskussion über Strategien zur Wirtschaftsreform
Voraussetzung, um zu einem Paket von Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise zu gelangen, ist die Offenlegung der Wirtschaftsdaten.
Das betrifft:
- die Deviseneinnahmen und -ausgaben des Staatshaushaltes
- die Bilanzen jedes größeren Kombinates (Gewinne, Verluste, Guthaben, aktiver und passiver Saldo, Schadstoffausstoß usw. - Daten, die auch jedem Konzern regelmäßig abverlangt werden)
- die Produkt- und Rationalisierungsstrategien größerer Wirtschaftseinheiten
- die Bilanz der gesamten Volkswirtschaft
Im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer Wirtschaftsreform sollte darüber diskutiert werden, wie man zu einer vernünftigen Strategie der Wirtschaftsanalytik kommen kann, um eine Bewertung des produktiven Vermögens der Volkswirtschaft vornehmen zu können. Die Gründung eines unabhängigen Wirtschaftsinstituts (regierungsunabhängige Experten, Gutachter, Berater) erweist sich als notwendig, um den Anschluss an die Wissenschaft herzustellen.
Das vermutlich wichtigste Problem ist jedoch die Frage, wie kann man solche Sofortmaßnahmen in der Wirtschaft ergreifen, ohne dass durch diese Maßnahmen schon irreversible Wege festgeschrieben werden, sondern umgekehrt sozial abgesicherte Wege zu einer umfassenden Wirtschafts- und Sozialreform eröffnet werden?
Folgende fragen müssen in diesem Zusammenhang strategisch diskutiert werden:
1. Wie soll die Integration in den Weltmarkt vollzogen werden?
- Problem der Preis-Einkommensstruktur
- Problem der Währung
- Problem des Arbeitskräftemarktes
- Problem des Kapitalmarktes
2. Welche Wirtschaftsverfassung brauchen wir dazu?
- Problem der Kompetenzen staatlicher Wirtschaftsorgane
- Problem der Ökologie
- Problem der Betriebsverfassung (Leitung/Gewerkschaften)
3. Welche Wirtschaftsstruktur sollen wir anstreben?
- Strategie zur Energiepolitik (Atomkraft oder alternative Energien)
- Abbau Ressourcenverschwender, unrentabler und unökologischer Strukturbereiche (nationale Autoindustrie)
- Abbau von Verschwendungspotentialen in Industrie und Hauswirtschaft (Wohnung, Wasser, Energie, Zeit)
- Reorganisation der Landwirtschaft
- Aufbau neuer Industriezweige (Umwelttechnologie)
- Stärkung der Wissenschaft als Produktivkraft
- Stärkung der sogenannten unproduktiven Bereiche (Dienstleistungen, Rekonstruktion, Infrastruktur)
4. Welche Sozialpolitik sollen wir verfolgen?
- Umschulung und Wiedereingliederung bei Massenfreisetzung von Arbeitskräften
- Aufbau eines Sozialnetzes (Sonderbedingungen für nicht- oder mindererwerbsfähige Minderheiten, Programm für Nichterwerbsarbeit usw.)
- sozial verträgliche Einkommens- und Subventionsstrategien
- ökologisch verträgliche, sozial alternative Konsumstrategien