Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Pfingsten 1988 stellten wir in unserem Brief "Neues Handeln" Überlegungen vor, die sich uns als Konsequenz aus dem Synodalantrag "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" ergaben. Es war und ist unser Anliegen, zur Überwindung der durch Praxis und Prinzip innerer und äußerer Abgrenzung bewirkten Stagnation der sozialistischen Entwicklung unseres Landes beizutragen und die positiven Impulse der Demokratisierungsbemühungen in einigen sozialistischen Ländern Osteuropas aufzunehmen. Unsere Anregung, dass Friedens- und Umweltgruppen der Gemeinden aus ihrer Mitte Kandidaten für die Kommunalwahl am 7. Mai 1989 vorschlagen sollten, zielt darauf ab, die gesetzlichen Möglichkeiten zu nutzen, um einen Schritt zur Überwindung der inneren Abgrenzung des staatlichen Machtsystems gegen eigenständige Verantwortung der Bürger zu tun. Wir wissen uns einig mit vielen Menschen unseres Landes - Christen und Nichtchristen -, dass die Mitwirkung unabhängiger Abgeordneter in den örtlichen Volksvertretungen darauf gerichtet sein sollte:

- dass die großen Probleme der Versorgung (besonders mit Frischwaren), der Umweltvergiftung, des baulichen Verfalls, der Sozial- und Gesundheitsfürsorge, des Umgangs mit Ausländern, des Alkoholismus etc., vor denen wir allerorts stehen, offen gelegt und angegangen werden;

- dass Fälle von Behördenwillkür, Korruption und Begünstigung aufgedeckt und verfolgt werden;

- dass ein offener und öffentlicher gesellschaftlicher Dialog über Ziel und Weg unserer Gesellschaft möglich wird;

- dass sich eigenständige Interessengruppen und Bürgerinitiativen bilden und ihre Anliegen öffentlich bekunden und vertreten;

- dass die Ausschüsse der örtlichen Volksvertreter mehr Initiativen gegenüber den Räten entwickeln und mehr eigene Beschlussvorlagen erarbeiten.

In seiner Rede auf der 7. Tagung des ZK der SED forderte Erich Honecker den VKSK, den DTSB und die Freiwillige Feuerwehr auf, sich mit eigenen Kandidatenvorschlägen an die Mandatsträger, das heißt die Parteien, den FDGB, die FDJ, den DFD, den Kulturbund, den Konsum oder die VdgB zu wenden ('ND' vom 2.12.88). Sollte nicht, was für Kleingärtner, Sportler und Feuerwehrleute gilt, auch für Friedens- und Umweltgruppen gelten?

Was ist zu tun?

Noch im Januar sollten sich diejenigen, die zur Kandidatur bereit sind, beim örtlich zuständigen Gemeinde-, Stadt- oder Stadtbezirksrat eine Bescheinigung über ihre Wählbarkeit gemäß § 15 des Wahlgesetzes (GBI. 1 Nr. 22, 1976) einholen. Unmittelbar nach dem Wahlaufruf der Nationalen Front am 26. Januar 1989 sollten sich die interessierten Gruppen mit ihrem Kandidatenvorschlag an eine der oben genannten Mandatsträger wenden und ihn begründen. Zwischen dem 8. Februar und dem 8. März erfolgt die Prüfung der Kandidaten. Wichtig ist dann die Teilnahme an öffentlichen Tagungen der Ortsausschüsse der Nationalen Front, bei denen gemäß § 18 des Wahlgesetzes die Kandidaten vorgestellt und über ihre Reihenfolge entschieden werden soll. Sie sollen zwischen dem 9. und 30. März stattfinden. Zu beachten sind auch die Hinweise, die in der Rede von Werner Kirchhoff auf dem 7. Plenum des ZK der SED ('ND' vom 5.12.88) über die Wahlvorbereitungen gegeben werden. Jeder Wähler, auch wenn er nicht an der Aufstellung zusätzlicher Kandidaten teilnimmt, sollte sich über das Wahlgesetz informieren und über seine Reformwürdigkeit nachdenken sowie Wahlveranstaltungen besuchen.

Lassen Sie uns gemeinsam an der uns mit vielen Nichtchristen verbindenden Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde in der DDR festhalten. Indem wie wider alle Resignation für diese Hoffnung aktiv einstehen, stärken wir die Bemühungen unserer Mitbürger um Verantwortung und Emanzipation.

Berlin, den 8. Januar 1989

Initiativgruppe "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung": Michael Bartoszak, Stephan Bickhardt, Martin Böttger, Heinz-Josef Durstewitz, Wolfgang Apfeld, Rainer Flügge, Ludwig Mehlhorn, Rainer Roepke, Wolfgang Ullmann

Für den Friedenskreis der Bartholomäus-Gemeinde: Hans-Jürgen Fischbeck, Sibylle Gläser, Reinhard Lampe, Rene Maltusch, Anna Witte

Für den Friedensgebetskreis der Golgatha-Gemeinde: Peter Hilsberg, Birgit Körner, Rainer Körner, Reiner Rühle, Volker Schumann

Für die Projektgruppe Ökologie - Menschenrechte der Arche Berlin-Brandenburg: Claus Brennahl, Norbert Burczyk, Sieglinde Hicke, Caterina Hartung

TAZ-BERLIN Nr. 2716 vom 24.01.1989

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