"Für eine Entmilitarisierung Deutschlands"

"Vom Eise befreit" - Auszüge aus dem Friedensmemorandum zum Berliner Ostermarsch 1990 für ein Deutschland ohne Militär

DOKUMENTATION

(...) Zwischen den beiden deutschen Staaten verläuft nach wie vor die Grenze, an der sich die beiden Militärbündnisse Nato und Warschauer Vertrag am stärksten gerüstet gegenüberstehen. Mit einer Vereinigung der beiden Staaten macht dies keinen Sinn mehr. Auf beiden Seiten befinden sich die Bündnissysteme in einer tiefen Legitimationskrise. Die schwindende Illusion über das Militär als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln bietet eine historische Chance: die Entmilitarisierung Deutschlands.

Dabei besteht eine Ungleichzeitigkeit zwischen den beiden deutschen Staaten. Die Entwicklung in der DDR läuft deutlich schneller als in der BRD auf eine Entmilitarisierung zu. Die Nationale Volksarmee (NVA) als Ausdruck der stalinistischen Unterdrückung und Disziplinierung hat kaum noch Akzeptanz in der Bevölkerung, ein nicht unerheblicher Teil des Militärs denkt selbst über seine Auflösung nach - ein in der Welt einmaliger Vorgang. (...)

Doch es sind berechtigte Zweifel angebracht, ob die gegenwärtige Kritik an der NVA wirklich so weit trägt. Schon mehren sich die Stimmen, die der NVA eine neue, "defensive" Orientierung geben wollen - aber gegen wen? Schon melden sich die berufsständischen Interessen der Soldaten, die der Armee ein neue militärische Rechtfertigung geben wollen. Schon ist die Rede von einer Vereinigung von Bundeswehr und NVA. (...)

Auch der Westen stellt sich auf die Entwicklung in der DDR ein. Die NVA kann man nur begrenzt brauchen, aber die radikale Kritik am Militär bedroht die militärische Machtpolitik als solche.

So schlagen die westlichen Vorschläge einige Kapriolen: Eine vollständige Entmilitarisierung des Territoriums der DDR bei gleichzeitiger Zugehörigkeit eines vereinigten Deutschlands zur Nato, wie es von der Bundesregierung gefordert wird, ist selbst in der Logik der Militärs Unsinn

"Vorneverteidigung" wo und gegen wen?

Diese Vorschläge sind Statthalter für eine Zukunft, auf die man sich jetzt noch nicht öffentlich festlegen will: Eine Zusammenarbeit zwischen Teilen der Bundeswehr, die nicht direkt der Nato unterstellt sind, und Resten der NVA ist offen für eine Remilitarisierung, wenn die Nato erst einmal durch die gegenwärtigen Untiefen gefunden hat. Da hilft es auch nicht, mit der Rede von dem zunehmend politischen Charakter der Militärbündnisse die weitere Aufrüstung der Nato zu verschleiern. Die Militärbündnisse bleiben bestehen, indem weiterhin am Feind aus dem Osten festgehalten wird der Sowjetunion. Sie aus einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem, in dem die Bündnisse überwunden werden müssen, herauszuhalten, heißt, die weitere Aufrüstung zu rechtfertigen.

Die Kampagnen für die Entmilitarisierung in beiden Teilen Deutschlands müssen sich ergänzen. Die Entmilitarisierung der DDR stellt die Aufrüstung des Westens in Frage und stärkt damit die Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Gegen die Politik der Nato muss die Friedensbewegung in der BRD Abrüstung durchsetzen, damit die Ansätze zu einer Entmilitarisierung der DDR bewahrt werden können. Sie kann dabei an ihre Forderungen und ihre große öffentliche Wirksamkeit der letzten Jahre anknüpfen. Die Kampagne "Bundesrepublik ohne Armee" (BoA) bietet den Raum für eine neue Zuspitzung, mit der das "Undenkbare" denkbar gemacht werden kann.

Es ist notwendig und möglich, Abrüstungsschritte einseitig zu vollziehen und dabei den Konflikt mit der Politik und den Strukturen der Nato zu suchen. Wenn Abrüstung nur gegen die herrschende Politik der Nato durchsetzbar ist, und wenn die Nato ohne den deutschen Eckpfeiler keinen Sinn mehr macht, dann wird im Zuge einer solchen Politik der Abrüstung die Notwendigkeit einer Überwindung der Blöcke in einer gesamteuropäischen Friedensordnung deutlich.

Berlin als Zentrum der deutsch-deutschen Annäherung eignet sich auch als Ausgangspunkt für eine derartige weitgehende Entmilitarisierung Deutschlands. Im Westteil der Stadt existiert kein deutsches Militär und keine Wehrpflicht (dafür werden Totalverweigerer durch spd/al ausgeliefert. sezza), [1] werden keine Waffen produziert, und auch die alliierten Truppen verfügen nicht über Massenvernichtungsmittel. Nehmen wir uns das zum Vorbild, indem die ganze Stadt und ihr Umland entmilitarisiert werden!

Mit dem "Ende der Nachkriegszeit" hat das alliierte Militär in West-Berlin endgültig keinen Sinn mehr - reduzieren wir die alliierte Präsenz auf ihre politische Funktion, solange es noch keine gesamteuropäische Friedensordnung gibt! Walter Momper hat den Vorschlag gemacht, bei einer Vereinigung den "entmilitarisierten" Zustand West-Berlins auf das Territorium der DDR auszudehnen und dies durch die Alliierten zu kontrollieren. Laden wir neben den Alliierten auch andere Staaten ein, eine Entmilitarisierung Deutschlands im Rahmen eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems zu kontrollieren, damit nach einer Aufhebung der Rechte der Siegermächte eine Remilitarisierung im Rahmen der Nato oder einer "bewaffneten Neutralität" unmöglich wird! (...)

Nutzen wir die große historische Chance, die der demokratische Aufbruch in der DDR und Osteuropa mit sich bringt.

Albert Statz, Hilde Schramm (AL-Fraktion im Abgeordnetenhaus), Niels Petring (DFG/VK), Sabine Erdmann, Manfred Herrmann, Volker Lehmann (AL, Bereich Frieden und deutsche Politik), Harald Wolf (AL/GA), Eva Michels (Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Berlin/West), Marianne und Ulrich Staedtefeld (Appell der 89), Holger Wetuschat (Initiative Friedensforum), Thomas Basin (Demokratie Jetzt), Uwe Lehmann (Initiative Frieden und Menschenrechte), Friedrich Heilmann, Christine Weiske (Grüne Partei), Petra Morawe (Neues Forum, Friedenskreis Pankow), Marion Seelig (Vereinigte Linke), Werner Liedtke (Aktion Sühnezeichen, DDR).

Eine Diskussion über das Memorandum findet statt am Dienstag, den 24. April 1990 im Haus der Demokratie, Wilhelm-Pieck-Saal, Friedrichstr. 165, Berlin (DDR).

aus: taz-Berlin Nr. 3083 vom 14.04.1990


[1] mit "sezza" ist eine Anmerkung des taz-Setzers dieser Dokumentation gekennzeichnet. Eine Zeit lang war es bei den Setzern/Setzerinnen der taz üblich, Artikel mit eigenen Kommentaren zu versehen. Der große Saal im Haus der Demokratie hieß eine Zeit lang weiterhin Wilhelm-Pieck-Saal, wie zu Zeiten als die SED dort noch zuhause war. Er wurde dann in Robert Havemann-Saal umbenannt.


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