Der Anspruch auf die ungeschminkte Wahrheit
Stellungnahme von Komponisten und Musikwissenschaftlern
Nationalpreisträger Prof. Georg Katzer, Vizepräsident des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR, hat uns eine am Wochenende verfasste Stellungnahme zur Erklärung des SED-Politbüros vom 11. Oktober zugeleitet, die auch von folgende n Mitgliedern des Verbandes unterzeichnet wurde: Prof. Paul-Heinz Dittrich, NPT, Christfried Schmidt, Dr. sc. Mathias Hansen, Annette Siegmund-Schultze, Prof. Reiner Bredemeyer, NPT, Dr. Ute Bredemeyer, Reinhard Lakomy, NPT, Lothar Voigtländer, Lutz Glandien, Dr. Ute Siegmund-Schultze, Heike Hoffmann, Prof. Dr. sc. Frank Schneider, Dr. Gerhard Müller, Prof. Siegfried Matthus, NPT, Eckart Schwinger, Prof. Ruth Zechlin, NPT, und Günther Fischer, NPT.
In der Erklärung, die wir leicht gekürzt wiedergeben, heißt es:
"Mit Befriedigung habe ich zur Kenntnis genommen, dass das Politbüro der SED sich endlich zur Situation in unserem Land geäußert hat. In der Erklärung sind einige Probleme angesprochen, deren Losung von der Mehrzahl unserer Bürger mit Ungeduld erwartet wird. Für sie durften jene Passagen des Textes von besonderem Interesse sein, die sich mit der weiteren Entwicklung unseres Landes beschäftigen. Einige der dort gemachten Versprechungen sind an materielle Bedingungen gebunden: besseres Warenangebot, gesunde Umwelt. Wie dies zu erreichen sei bei gleichzeitig immer dringender notwendig werdenden Investitionen in Industrie und Infrastruktur, auch Gesundheitswesen, Volksbildung und Kultur, ist eine Frage, die riesengroß vor uns steht.
Ich fände es richtig, unserer Bevölkerung zu sagen, wie die wirtschaftliche Lage tatsächlich ist, dass es nicht möglich sein wird, die gesteckten Ziele kurzfristig zu erreichen. Es wird m. E. auch nicht ohne unpopuläre Maßnahmen abgehen, wie z. B. eine Neuordnung der Subventionspolitik. Die Menschen haben einen Anspruch auf die ungeschminkte Wahrheit.
Es gibt in der Erklärung auch andere Versprechen, die nicht so sehr an materielle Voraussetzungen geknüpft sind, deren Einlösung erst die Leistungsbereitschaft der Bürger hervorrufen würde, die nun verstärkt gebraucht wird. Das Papier spricht von lebensverbundenen Medien, Reiseerleichterungen und demokratischem Miteinander. Dieses demokratische Miteinander, das man in der Vergangenheit nur allzu oft vermisst hat, muss die garantierte Form des Umgangs des Bürgers mit dem Staat sein. Garantiert durch das Gesetz und notfalls einklagbar. Daraus ergibt sich für mich die Forderung nach einer vom Partei- und Staatsapparat unabhängigen Instanz, die gegen jedermann und gegen jede Institution des Staates das Recht, nein, die Pflicht und auch die Macht hat, vorzugehen, wenn die Evidenz von Willkür, Kompetenzüberschreitung, Korruption, Amtsanmaßung, ungesetzlichem Verhalten gegeben ist. Nicht minder wichtig als die Herstellung des demokratischen Miteinander sind die lebensverbundenen Medien. In unseren Zeitungen beschwört man in den letzten Tagen immer wieder die offene Aussprache."
Im Zusammenhang mit den Medien kritisiert die Stellungnahme eine pauschale, diffamierende Berichterstattung und Kommentierung über Demonstrationen. Die demonstrierenden Bürger wollten an sozialistischer Entwicklung mit ihren Vorstellungen teilhaben, aber fatalerweise seien sie durch die Blockade der Medien auf die Straße geradezu geleitet worden als den letzten möglichen Ort von Öffentlichkeit. Berichterstattung in unseren Medien würde den gewaltlosen Demonstranten wie den Ordnungskräften Schutz bieten vor verzerrender Darstellung.
"Als letztes zu den Reisemöglichkeiten. Im Prinzip ist natürlich jede Erleichterung zu begrüßen. Großzügige Regelungen, wie sie von den Bürgern erwartet werden, müssen begleitet sein von Zeichen tiefgreifender Demokratisierung. Sollten keine Signale der Hoffnung gesetzt werden, dann wird es bei den furchtbaren Massenabwanderungen bleiben mit katastrophischen Folgen für die Wirtschaft und vor allem für die Moral dieser Gesellschaft.
Die Offenheit, mit der ich die Probleme aus meiner Sicht darstelle, verdankt sich meinem Engagement für dieses Land."
aus: Neue Zeit, Jahrgang 45, Ausgabe 246, 19.10.1989, Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands