Offener Brief von Medizinern an 'neue Regierung der DDR'

Berlin (ADN). Einen Offenen Brief haben führende Medizinwissenschaftler und Gesundheitspolitiker an die "neue Regierung der DDR" gerichtet.

"Aus unserer ärztlichen Verantwortung und in tiefer Sorge um die außerordentlich ernste Situation im Gesundheitswesen unserer Heimat wenden wir uns mit diesem Offenen Brief an die neue Regierung der DDR. Wir fühlen uns auch deshalb dazu verpflichtet, weil in der Rede von Genossen Egon Krenz vor der 10. Tagung des ZK der SED diese für die Menschen unseres Landes so lebensentscheidende Problematik ungenügend berücksichtigt wurde", heißt es in dem Schreiben.

"Unser uneingeschränkter Respekt eilt allen, die - oft über die Grenzen des Zumutbaren hinaus - sich in dieser Situation um die ihnen anvertrauten Menschen kümmern. Wir hoffen, dass nicht noch mehr Mitarbeiter des Gesundheitswesens unser Land verlassen. Dieses würde zu einer dramatischen Zuspitzung der Situation führen."

"Dringende Aufgaben zur Veränderung der Lage sind aus unserer Sicht: Alle Gesundheitseinrichtungen der DDR müssen umgehend einheitlich geführt werden und für die Betreuung aller Menschen offenstehen. Wir fordern die Beseitigung der Kluft zwischen den physischen und psychischen Leistungen der Mitarbeiter des Gesundheitswesens und deren unzureichende moralische, soziale und materielle Wertung. Dazu gehören eine Neubestimmung der Stellung des Gesundheitswesens in unserer Gesellschaft, eine leistungsgerechte Entlohnung und den Aufgaben entsprechende Voraussetzung in Kliniken, Instituten/Ambulatorien und Praxen sowie die Verbesserung der Lebensbedingungen der Mitarbeiter.

Das Gesundheitswesen benötigt einen deutlich höheren Anteil des Nationaleinkommens der DDR.

Für die Zukunftssicherung der Medizin ist eine Neubestimmung von Inhalt, Form und Bedingungen für Studium, Weiter- und Fortbildung unerlässlich. Dazu gehört eine Entschlackung des Studiums von allen Inhalten, die dem Auftrag der Medizin und des Arztes in einem erneuerten Sozialismus entgegenstehen."

"Es müssen neue materielle und strukturelle Bedingungen geschaffen werden, um das vorhandene geistige Potential der medizinischen Wissenschaft der DDR voll wirksam werden zu lassen, als Voraussetzung für die moderne Entwicklung der gesundheitlichen Betreuung.

Dies sind Lebensfragen für die Zukunft der Medizin in der DDR. Dazu ist Sachkompetenz der Leiter auf allen Ebenen des Gesundheitswesens zu sichern. Die Schaffung von Garantien zur Ausübung einer hohen Eigenverantwortung durch die Leiter für das geistige und materielle Potential ihrer Einrichtungen ist hierfür unabdingbare Voraussetzung.

Wir erwarten von der neuen Regierung eine umgehende Behandlung der bedrückenden Situation und ein Programm zur Überwindung der Lage. Wir werden dazu Vorschläge unterbreiten."

Der Brief trägt die Unterschriften der Professoren Rüdiger von Baehr, Heinz David, Jürgen Großer, Horst Klinkmann, Günter Pasternak, Bodo Schönheit und Niels Sönnichsen.

aus: Neues Deutschland, 44. Jahrgang, Ausgabe 266, 11.11.1989. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.