Die Mahnwache geht weiter

Am 4. September 90 besetzten Bürgerrechtler Büroräume des Ostberliner Stasiarchivs in der Ruschestraße.

Zeitgleich begann vor dem Haupttor eine Mahnwache.

Besetzer und Mahnwache stehen in solidarischem Zusammenhang auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Zielsetzung.

Wir fordern:

- keine Zugriffsmöglichkeiten für Geheimdienste und Verfassungsschutz auf die Stasiakten

- Aushändigung der personenbezogenen Akten an die Betroffenen (4 Mio. DDR-Bürger/2 Mio. BRD-Bürger)

- Zugangskontrolle zu den anderen Akten durch unabhängige Bürgerkomitees unter Aufsicht von Sonderausschüssen der einzelnen Länderparlamente.

Bislang haben wir erreicht, dass eine diesbezügliche Absichtserklärung nachträglich in den Einigungsvertrag aufgenommen wurde.

Dies ist unzureichend, da

- die Absichtserklärung vom gesamtdeutschen Parlament mit einfacher Mehrheit gestrichen oder verändert werden kann

- In "Sonderfällen" der Verfassungsschutz Zugang zu den Stasiakten und dies zur Routine werden kann

- der direkte Zugang für Betroffene und Opfer nicht möglich ist

- Rechte Dritter geltend gemacht werden, aber nicht definiert sind (Rücksicht auf Stasimitarbeiter?!)

DIE MAHNWACHE WIRD WEITER BESTEHEN!

- Wir wollen mahnen, dass der Kampf für Bürgerrechte auch über den 3. Oktober hinaus bitter nötig ist

- Wir wollen daran erinnern, dass Bürgerrechte nicht durch Freundlichkeit von Politikern, sondern durch Druck von der Straße durchgesetzt werden, wie im Herbst 89.

Mit der deutschen Einheit richtet sich unsere Mahnwache gegen BND und Verfassungsschutz.

Als der Staat DDR aufflog, flogen automatisch auch die wesentlichen Strukturen der Stasi auf.

Die Verbrechen der westdeutschen Geheimdienste sind nicht offen gelegt.

Wir richten uns ausdrücklich auch an Westberliner und westdeutsche Bürger, unseren Einsatz zu unterstützen.

Wirkliche Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit. Kein Parlament kann Geheimdienste wirklich kontrollieren, weshalb sie zutiefst undemokratisch sind.

Mahnwache Berlin, Ruschestraße
Berlin, 22. September 1990

aus: Die Andere, Nr. 37, 04.10.1990, Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Unabhängige Wochenzeitung, Herausgeber: Klaus Wolfram