Wie wollen wir leben?

Konzeptionen für einen modernen Sozialismus Interview mit Dr. Rainer Land

An der Sektion Philosophie der Berliner Humboldt-Universität hat eine Projektgruppe junger Wissenschaftler eine Studie zu einer modernen Sozialismuskonzeption erarbeitet. Das Außergewöhnliche an dieser Studie ist, dass sie Möglichkeiten und notwendige Entwicklungsrichtungen und -felder für alle Gesellschaftsbereiche umreißt und zur Diskussion stellt. Diese Spezifik hat zur schnellen Verbreitung der wenigen Exemplare "nach dem Kopierverfahren" bis in die Republik hinein und weit über Wissenschaftskreise hinaus geführt. "Sonntag" stellt in einer Interview-Folge die wesentlichen Problemfelder und Lösungsrichtungen vor.
[Das Interview erschien in zwei Teilen]

Wir brauchen tragfähige Konzeptionen. Ihre Studie ist ein erstes Diskussionsangebot. Wir haben uns allzulange mit der Analyse von Erfolgen aufgehalten. Beginnen sollten wir mit einer rückhaltlosen Analyse unserer Wirtschaftspolitik. Deshalb gleich als erste Frage: Ist Ihre Studie an Daten aus der Wirtschaft orientiert?

Kennziffern unserer wirtschaftlichen Lage wie zum Beispiel unsere Devisen-Einnahmen- und -Ausgaben sind noch nicht offen gelegt, und viele andere Wirtschaftsdaten liegen nach wie vor in den Geheimschubladen. Soweit es möglich ist, haben wir versucht, Materialien zu benutzen, aus dem Statistischen Jahrbuch und Unterlagen unserer Kollegen. Man kann sich natürlich nicht nur aus Daten ein richtiges Bild machen. Man muss schon ein theoretisches Konzept haben. Wir haben in der Studie gefragt, warum kommt es zu einem ständigen Rückgang der Effektivität trotz der Schlüsseltechnologien. Die Basisinnovationen, zum Beispiel die Mikroelektronik werden in der Breite gar nicht wirksam. Das wird in der Studie auch mit Zahlen nachgewiesen. Wir versuchen, ein Modell zu erarbeiten, mit dem die derzeitige Umbruchsituation erklärt werden kann.

Welches sind denn nun die wichtigsten Kennziffern, die über den tatsächlichen Zustand unserer Wirtschaft Aufschluss geben, die unsere Wirtschaftskrise erklären?

Im Allgemeinen wird ja immer auf die Arbeitsproduktivität und die Nettoproduktionen verwiesen. Das sind natürlich auch wichtige Kennziffern, aber die reichen allein nicht. In der DDR ist die Steigerung der Arbeitsproduktivität erkauft worden durch eine gleichzeitige Senkung der Wirksamkeit von Maschinen und Anlagen, was sich ökonomisch Grundfondsquote nennt. Ein zweiter Punkt wäre, dass wir eine bestimmte Akkumulationsrateangeben, die schon viel zu niedrig ist, die bei uns aber gleichzeitig mit einer qualitativ immer schlechter werdenden Reproduktion der vorhandenen Fonds verbunden ist. Die einfache Reproduktion ist gar nicht mehr gesichert, was sich zum Beispiel an den verschiedenen Infrastrukturen der Städte zeigt. - Und ein dritter Bereich wäre die Außenhandelsrentabilität. Für unsere Produkte bekommen wir auf dem Weltmarkt immer weniger.

Wenn man unserem Statistischen Jahrbuch glauben könnte, müssten wir eines der innovativsten Länder sein. Darin wird ein hoher Anteil an neuen Produkten im Verhältnis zur Gesamtproduktion ausgewiesen. Inzwischen hat sich aber herumgesprochen, dass der Produktivitätsschub in der Mikroelektronik ausgeblieben ist, obwohl wir soviel investiert haben. Wie ist das zu erklären?

Wir haben in unserer Studie festgestellt, dass das an dem Verhältnis von Basis- und Folgeinnovationen liegt. Viele gehen davon aus, wenn man Basisinnovationen hat, müssten automatisch auch bestimmte Wirkungen in der Wirtschaft auftreten. Computer und Roboter kosten zuerst mal nur Geld. Wenn sie einen Effekt bringen sollen, müssen sie angewendet werden, und zwar so, dass dabei mehr rauskommt als in dem Prozess, den sie ablösen. Also, wenn ich eine Sparkasse auf Computer umstelle, muss die Effektivität der Sparkasse höher sein als vorher. Wir haben die Schlüsseltechnologien, aber die Effekte gehen nicht rauf, sondern runter. Die großen Projekte, wie zum Beispiel der Viermegabit-Speicher-Chip sind hauptsächlich Prestigeobjekte, die also für den Effektivitätszuwachs der Wirtschaft nichts bringen und auch so bald nichts bringen werden. Die haben zunächst mal nur ungeheure Kosten verursacht.

Wir haben in der Studie geschrieben, dass man die großen Basisinnovationen natürlich zentral organisieren kann. Man kann einen Beschluss fassen, das Geld zur Verfügung stellen und eine Fabrik für Mikro-Chips bauen. Was man aber zentral nicht organisieren kann ist, dass diese Mikro-Chips millionenfach effektiv angewendet werden. Das geht nur, wenn alle Betriebe, Kollektive und einzelne Ingenieure daran interessiert werden, solchen Effektivitätszuwachs zu realisieren. Man braucht also eine dezentrale Entscheidungs- und Innovationsstruktur, wenn man aus Schlüsseltechnologie Effekte holen will. Und das haben wir nicht.

Wir haben in der Studie gezeigt, dass man eine innovative Wirtschaft nur dann haben kann, wenn man zugleich soziale Systeme und Strukturen schafft, durch die ein ständiger qualitativer Wandel der sozialen Bedürfnisse und Interessen der Menschen möglich ist, weil nur dadurch Innovationen ein Feld finden, in dem sie sich ausbreiten können und angenommen werden von der Bevölkerung. Bisher sind die Erwartungen immer noch die: Wachstum in den traditionell gegebenen Strukturen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass viele der mit Innovation verbundenen Veränderungen den Werktätigen keine neuen Arbeitsinhalte gebracht haben, die sie annehmen können. Dafür haben wir noch keine positiven Konzepte. Also Konzeptionen, die begründen, wie man die Innovativität von Wirtschaft benutzt, um gleichzeitig das Interesse an der Arbeit voranzubringen, die Inhalte der Arbeit verändert. Das andere wäre die Konsumtion. Wenn man Innovation im Konsumgüterbereich voranbringen will, dann muss man auch einen Prozess in der Gesellschaft in Gang setzen, der die Konsumtionsbedürfnisse der Menschen verändert. Das haben wir auch nicht. Wir schreiben bisher Bedürfnisstrukturen fort, das zeigen wir auch in der Studie. Bedürfnisstrukturen beispielsweise, die ein immer weiteres Wachstum im Bereich von Nahrung und Genuss vorsehen. Da heben die Mediziner schon die Hände, weil sie das für unsinnig halten. Und zugleich haben wir eine ganz unterentwickelte Konsumgüterproduktion und Innovativität im Bereich industrieller Konsumgüter.

Sie weisen in Ihrer Studie die sinkende Innovationskraft unserer Wirtschaft nach. Im Hochtechnologie-Bereich müssen wir immer mehr Ressourcen aufwenden, um Wertschöpfung auf dem Weltmarkt zu erzielen. Die Folge ist: Wir müssen immer mehr exportieren, um dringend benötigte Ausrüstungen, technische Konsumgüter, Roh- und Werkstoffe importieren zu können. Das ist ja unter anderem auch ein Grund für die Verschlechterung der Versorgungslage, die Zunahme der Mangelwirtschaft. Haben wir uns nicht einfach übernommen?

Die Richtung, in der wir unsere Wirtschaftspolitik vorangetrieben haben, war sicherlich Anfang der siebziger Jahre ganz vernünftig. Was wir nicht gemacht haben, ist, den Strukturwandel einzuleiten, der Ende der siebziger Jahre auf dem Weltmarkt eingesetzt hat. Insofern haben wir uns tatsächlich übernommen. Wir haben versucht, an einer Wirtschaftspolitik festzuhalten, die unsere Reserven erschöpft hat. Seit Mitte der siebziger Jahre setzte in der Welt ein Strukturwandel ein, das heißt, die Richtung, in der die wissenschaftlich-technische Revolution vorangetrieben wurde, veränderte sich. Viele entwickelte kapitalistische Länder setzen gar nicht mehr auf ein Wachstum, zum Beispiel wird nicht mehr auf mehr Arbeitsteilung orientiert, sondern auf die Qualität der Arbeit. Es werden mehr Spielräume für die Tätigkeit geschaffen.

Also das Konzept der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik war nicht unvernünftig. Es ging davon aus, dass die Individuen den Erfordernissen der Produktivkraftentwicklung untergeordnet wurden. Das Wirtschaftswachstum sollte den Menschen dienen. Allerdings die Vorstellung, in welche Richtung das gehen soll, war an Quantität orientiert, also höhere Löhne, mehr Sozialleistungen und so weiter, und so fort: Die sozialistischen Länder hatten sich einem Strukturwandel lange Zeit verschlossen. Man hätte viel früher auf einen qualitativen Wachstumstyp orientieren müssen. Wir hätten uns auch auf einige wenige Gebiete beschränken müssen. Wir haben eine viel zu breite Produktionspalette, ein viel zu breites Innovationsspektrum. Wir hätten uns anders in den Weltmarkt integrieren sollen, um in bestimmten Bereichen Spitze zu produzieren, zu gewinnen. Welches Gebiet das sein sollte, darüber gibt es heute viele Diskussionen.

In der Bundesrepublik Deutschland hat es zum Beispiel einen Abbau des Energieverbrauchs gegeben. Die Kraftfahrzeuge verbrauchen dort viel weniger Benzin als unsere durch entsprechende Innovation ist das realisiert worden. Auch das Konsumtionsverhalten der BRD-Bürger ist in vieler Hinsicht vernünftiger. Im Konsumtionsbereich ist dieser Strukturwandel in einer veränderten Preisstruktur deutlich geworden. Deshalb ist dort das Interesse der Konsumenten selbst, sich anders zu verhalten, also weniger Energie zu verbrauchen, weniger kostspielige Ressourcen zu verausgaben Dafür haben sie entsprechende Möglichkeiten, mehr hochwertige industrielle Konsumgüter zu kaufen. Während bei uns noch eine traditionelle, unmodern Struktur besteht.

Ein weiterer Bereich dieses Strukturwandels wäre die demokratische Umgestaltung des politischen Systems. Es müssten viel mehr Möglichkeiten bestehen, Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren. Die Entscheidung über die Richtung von Wirtschaft, Konsumtion und Lebensweise kann nicht mehr einfach durch das Fortschreiben gegebener Tendenzen in einer Zentrale getroffen werden. Also übernommen haben wir uns in dem Sinne, dass wir ein an sich richtiges sozialistisches Prinzip mit überlebten Strukturen, mit überlebten Vorstellungen von Wirtschafts- und Lebensweise realisieren wollten. Das hat nicht funktioniert. Das hat uns in die Stagnation und in eine tiefe Krise gebracht.

Und wie ist es nun mit der Sozialpolitik? Kann man sagen, dass sie destabilisierend auf die Wirtschaft gewirkt hat, also die Krise verschärft hat?

Die Sozialpolitik hat deshalb die Krise verschärft, weil sie ja auch Bestandteil einer expansiven Wirtschaftspolitik ist. Also auf ein Mehr an Ressourcenverausgabung, ein Mehr an quantitativem Wachstum der Konsumtion gesetzt hat. Immer mehr Ressourcen wurden verschleudert und dabei kam keine Lebensqualität raus. Zum Beispiel hat unsere Einkommens- und Subventionspolitik dazu geführt, dass viel vergeudet wurde. Wir bauen immer mehr Wohnungen, andererseits werden viele Wohnungen nicht effektiv genutzt, und die Qualität der Altbaugebiete nimmt immer mehr ab. Die ersten Neubaugebiete sind inzwischen auch schon verschlissen. Nahrungsmittel werden vergeudet. Durch unseren Energie- und Wasserverbrauch werden wir schon in den nächsten Jahren erhebliche Schwierigkeiten haben, um den großen Städten genügend Wasser und Energie bereitzustellen.

Die Sozialpolitik war nicht durchgerechnet. Sie hat zu einem Arbeitskräftemangel geführt. Zugleich ist in einigen Bereichen der Industrie 30 Prozent Nichtauslastung der Arbeitszeit zu verzeichnen. In der Verwaltung wird vielzuviel unnütze Arbeit getan. Und die Dienstleistungen können nicht gesichert werden, weil dort nicht genügend Leute zur Verfügung stehen. Einerseits Verschwendung von Arbeitskräften und andererseits Mangel an Arbeitskräften hat mit einer falschen Struktur der Sozialpolitik zu tun.

Unsere Sozialpolitik war ja unter anderem auch als Hebel für Leistungsmotivation gedacht. Warum hat sie nicht leistungsfördernd gewirkt?

Die Sozialpolitik ist zu einer Geschenkpolitik entartet. Solche von oben verordneten Geschenke werden von den Leuten nicht als etwas Eigenes angenommen und motivieren nicht. Wenn heute rund dreiunddreißig Prozent und bei Fortschreibung der bisherigen Tendenzen bis zum Jahr 2000 bis zu fünfzig Prozent der Einkommen nicht über den Lohn, sondern über Subventionen verteilt werden, dann kann das natürlich für das Leistungsverhalten nicht wirksam werden. Über zentralen Staatshaushalt verteilte Subventionen für Fahrscheine, Mieten anderes werden gar nicht als durch die eigene Arbeit erzeugte Werte erlebt. Wir schlagen in unserer Studie eine an Verbindung von Wirtschafts- und Sozialpolitik vor, die auf qualitative Entwicklung der Lebensweise orientiert. Eine neue Art von Wohnungs- und Infrastrukturpolitik und eine andere Art von Konsumtion. Wir teilen natürlich die Grundüberzeugung, dass im Sozialismus Wirtschaftsentwicklung nicht Selbstzweck sein kann und Effekte für die Menschen bringen muss. Aber die Effekte müssen in eine andere Richtung gehen. Dabei halten wir eine ökologische Reorganisation der Arbeit und Lebensweise für ein grundlegendes Bedürfnis der Menschen. Es dürfen keine Entscheidungen mehr getroffen werden, die die ökologischen Fragen nicht berücksichtigen. Wir wissen, dass dazu noch eine intensive öffentliche Auseinandersetzung nötig ist, denn viele Menschen verbinden mit einem hohen Lebensstandard in erste Linie ein Mehr an Konsumtion. Wenn eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik machen will, muss man mit punktuellen Maßnahmen aufhören, um nur für den Moment Abhilfe zu schaffen. So, wie man es jeden Tag in der Zeitung lesen kann. Wir müssen eine gründliche und umfassende Diskussion darüber einleiten, wie wir überhaupt in Zukunft leben wollen.

Sinngemäß haben wir in unserer Studie die Fragen des Atomphysikers und Trägers des alternativen Nobelpreises Hans Peter Dürr aufgenommen: Was wollen wir eigentlich? Wie wollen wir künftig leben? Wie wollen wir mit unseren knapper werdenden Ressource umgehen? Was wollen wir machen und was künftig lassen? Wie wollen wir unsere Interessenkonflikte so austragen, dass alle Entwicklungsmöglichkeiten für sich finden?

Alternativen zur Krise

In unserem ersten Interview kamen wir zu dem Ergebnis, dass nur ein grundlegender Umbau des politischen Systems, der Wirtschafts- und Leberweise unserer Gesellschaft - wie auch der Weltwirtschaft insgesamt - unserer Gesellschaft eine Zukunft gewährleistet. Tiefgreifende Wirtschaftsreformen sind aber nicht ungefährlich, wie die Entwicklungen in anderen sozialistischen Ländern signalisieren!

Ein solches Szenarium wäre wirklich erschreckend: Leergefegte Läden, dafür ein wachsender Schwarzmarkt mit galoppierender Inflation, Streikwellen ... All das wäre schlimm. In solch einer Situation Wirtschafts- und Gesellschaftsreform zu machen ist fast unmöglich, wie die Erfahrungen anderer Länder zeigen, jedenfalls sehr schwer, und es ginge zu Lasten der Menschen. Wie tief und bedrohlich die latente, also auch nicht offen ausgebrochene, eskalierende Wirtschaftskrise ist, das kann keiner sagen. Schürer behauptet ja immer vor der Volkskammer, Wirtschaftsdaten bestimmter Art seien geheime Verschlusssache. Es ist für uns Gesellschaftswissenschaftler widerlich, unsere eigenen Wirtschaftsdaten den Westzeitungen entnehmen zu müssen - und wer weiß, ob sie stimmen. Um die Lage richtig einschätzen zu können, müssten diese Daten umfassend sein, die Struktur der Valuta-Einnahmen und -Ausgaben muss man kennen, die Ungleichgewichte unserer Wirtschaft im einzelnen. Aber nicht nur die Größe der latenten Disproportionen, Geldüberhänge, Schulden und so weiter sind ausschlaggebend. Ob aus einer latenten Krise eine eskalierende wird oder nicht, hängt wesentlich davon ab, wie die Leute sich dazu verhalten, auch die Betriebe, der Staat.

Die "Psychologie" als Auslöser der Krise?

Unsere Wirtschaftswissenschaft denkt viel zu sehr in "Mechanismen und Hebeln", diese sind aber doch nur Mittel, an denen die Individuen erkennen, wie die Lage ist. Steigt ein Preis zum Beispiel, besagt das entweder, dass die Kosten der Ware gestiegen sind oder sie knapper geworden ist - relativ zur Nachfrage. Normalerweise würde man mit einem geringeren Kauf dieser Ware reagieren, mit sparsamerem Verbrauch oder mit Ausweichen auf andere Produkte. Aber in einer Krisenlage kann das Gegenteil passieren: Nun wird sie gerade gekauft, weil alle denken, morgen gibt es sie überhaupt nicht mehr. Und dann bricht so etwas aus. Eine latente Krise wird erst zu einer offenen, wenn eine wichtige Bevölkerungsgruppe "aussteigt", das heißt, sich instabil verhält, weil sie nicht mehr an Stabilität des Wirtschaftsprozesses glaubt und sich nun noch schnell - auf Kosten der anderen - einen Teil der Konkursmasse zum Überleben sichern will. Deshalb ist es so wichtig, durch klare Positionen zur Wirtschaftsreform zu sagen: Es wird möglich sein, die Krise zu bewältigen ohne Zusammenbrüche. Es wird schnell durch Sofortmaßnahmen eine Stabilisierung der Versorgung erreicht. Es gibt keinen Grund, das Geld von den Konten zu holen und in die Kaufhäuser zu tragen.

Und wenn das Geld nun über die Grenzen in die BRD getragen wird?

Das ist auch nicht schön, aber wohl unvermeidlich, denn viele tauschen trotz des Kurses 1:10 und mehr. Für die Wirtschaftslage kommt es darauf an, wo dieses Geld landet. Kehrt es schnell wieder in die DDR zurück - etwa in den Taschen von Ausländern oder DDR-Bürgern, die bei uns all das kaufen, was billiger ist: Kinderkleidung, Lebensmittel und anderes -, dann passiert dasselbe, als wenn es gleich bei uns zum Kauf von Waren verwendet worden wäre. Bleibt es erst mal in der BRD, zum Beispiel bei der Bundesbank, dann haben wir eine Konzentration, die recht bedrohlich ist. Andererseits wie es für die BRD nicht gut, dieses Geld jetzt in die DDR zurückfließen zu lassen und einen Zusammenbruch der DDR-Währung zu riskieren.

Aber war nicht vor 30-40 Jahren schon einmal so eine Situation entstanden? Damals wäre doch ohne Währungsreform bei uns die BRD in der Lage gewesen, den Zusammenbruch der DDR-Währung herbeizuführen.

Das geschah aber in einer Situation des kalten Krieges, wo es darum ging, uns kaputtzumachen. Heute kann trotz allen Wiedervereinigungsgeredes in der BRD ein unzivilisierter Weg auch von Seiten der BRD nicht beschritten werden. Sogar die, die keine staatliche Souveränität der DDR in der Zukunft wollen, würden einen in die Hunderttausende gehenden Flüchtlingsstrom von DDR-Bürgern, wenn hier die Wirtschaft zusammenbricht, politisch nicht überstehen. Das lässt sich nicht vergleichen. Alle Wege - ich ziehe den einer Kooperation souveräner Staaten in einem europäischen Haus, wie Gorbatschow es nennt, vor, weil dabei sozialistische Entwicklung in gänzlich neuer Weise nun endlich Wirklichkeit werden könnte -, aber auch andere Wege sind zivilisiert nur begehbar, wenn es gelingt - gemeinsam mit der BRD -, eine eskalierende Wirtschaftskrise zu vermeiden.

Das ist möglich?

Da gibt es eine reale Chance, aber nur, wenn die Regierung klare Positionen zur Richtung deutlich macht, die sie wirtschaftspolitisch einschlagen will und dies eine Richtung ist, die die nunmehr offene Grenze als Tatsache akzeptiert, sich darauf einstellt, sie als Chance begreift, nicht als Objekt des Missfallens. Es gibt viele Reserven, die dann frei gemacht werden, wenn diejenigen, die über sie verfügen, wirklich wollen, einen gemeinsamen Konsens zur Vermeidung einer Krise schaffen: beispielsweise Arbeitszeitreserven, aber auch die "Pufferfähigkeit" der Betriebe. Lutz Marz, Produktionsdirektor des Kabelwerkes Adlershof, hat dazu einige Überlegungen angestellt. Jeder Betrieb ist in bestimmtem Maße flexibel, und jetzt soll ja auch durch die übergeordneten Staatsorgane weniger restriktiv geführt werden. Nun wäre es in der gegebenen Lage wichtig, dass diese Betriebe ihre Pufferfähigkeit so einsetzen, dass sie vorhandene und entstehende Probleme nicht verschärft an ihre Abnehmer weitergeben, sondern versuchen, stabilisierend zu wirken, Probleme abzumildern. Auch da spielt subjektives Verhalten eine Rolle: Will ich mich auf Kosten des anderen sanieren, um den Preis, dass alle, auch ich, schließlich unter Druck geraten, oder werden Lösungen gesucht, die anderen keine oder wenigstens geringere Probleme machen. Man kann Probleme in der Materialversorgung einfach an die eigenen Abnehmer weiterreichen, man kann auch versuchen, diese Probleme abzufangen. Ähnliches gilt für das Verhalten auf dem Verbrauchermarkt. Schließlich haben wir ungeheure Verschwendungspotentiale im Energiebereich, beim Wasserverbrauch ... Langfristig sind die nur durch grundlegende Wirtschaftsreformen zu erschließen. Aber auch hier könnte die Regierung mit einer Reihe von Maßnahmen stabilisierend wirken. Ein offener und öffentlicher Dialog über Verhaltensweisen von uns allen, die helfen, eine Krise zu vermeiden, solange die große Mehrheit der Bevölkerung dafür noch ein offenes Ohr hat, und dann schnelle Lösung einiger dringender Probleme, das wäre der Weg.

Denken Sie dabei an Unterstützung durch die BRD?

Ich denke dabei an dringende Regelungen, die mit der offenen Grenze zusammenhängen. Ich bin für diese offene Grenze und bin da ganz einig mit der Volksbewegung, die sie erkämpft hat, weil ich an eine Zukunft in Europa ohne eisernen Vorhang glaube, weil ich für weltoffene und multikulturelle Gesellschaften bin, mit spezifischen sozialökonomischen Grundstrukturen und eigener, auch nationaler Identität. Aber es wäre sträflich und dumm, nicht zu sehen, dass diese offene Grenze uns in einen neuen ökonomischen Zusammenhang stellt. Es gibt schon und wird noch wachsende Ströme von Waren, Geld und Arbeitskräften über diese offene Grenze geben, einfach durch die Menschen, die hin und her gehen und dabei diese Wirtschaftsgegenstände über die Grenze bewegen. Damit geht also praktisch ein Prozess der Internationalisierung unserer Wirtschaft vor sich, ob wir wollen oder nicht. Schaffen wir nun Regelungen, die diesen Internationalisierungsprozess gestalten, ihm Bahnen schaffen, die ihn in die von den Menschen gewollten Richtungen lenken, sozial und ökologisch positive Richtungen, dann hilft das gegen Krisenprozesse. Im anderen Fall bricht sich diese Bewegung ungestaltet eine Bahn: Schwarzarbeit, Schwarzmarkt, Schwarzkurs und Schattenwirtschaft. Unsere Verantwortung als Gesellschaftswissenschaftler ist, zu sagen, dass das passiert, wenn wir nichts weiter tun. Und Varianten zu zeigen, wie man diese Ströme über die Grenze so gestaltet, dass es für die Menschen annehmbar und insgesamt positiv ist und das Wegrutschen in die offene Krise vermieden wird.

Wie kann man solche ökonomischen Bewegungen gestalten?

Ich bin für eine zügige Verabschiedung einer Reihe von Regelungen zur Internationalisierung unserer Wirtschaft. Wir brauchen unter anderem ein Rahmengesetz, das offizielle Räume für die Arbeit von DDR-Bürgern im Ausland und Ausländern bei uns schafft, das eine Anpassung der sozialen Spezifika - etwa im Steuer-, Versicherungs- und Einkommensbereich - vorzieht. Auf dieser Basis kann man dann Abkommen mit den Nachbarn, mit interessierten Ländern schaffen, wie man das handhaben will, eventuell, noch einen gemeinsamen Fonds bilden, gemeinsame Projekte vereinbaren und auch ein Abkommen zur gemeinsamen Bekämpfung der Wege außerhalb des geschaffenen Raumes, also zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, vereinbaren. Aber Schwarzarbeit kann man nur bekämpfen, wenn man vorher die Räume bestimmt hat, in denen sich geregelte Arbeit im Ausland bewegt. Dann wird das auch von der Bevölkerung, zum Beispiel von den Gewerkschaftsmitgliedern, mitgetragen, und es kann sich eine öffentliche Meinung bilden, die dieses Vorgehen unterstützt. Schafft man Regelungen, die dem praktischen Tun der Menschen zuwider laufen und ihm keinen Raum geben, dann wird die öffentliche Meinung lauten: Diese Regelung ist schlecht. Und das Unterlaufen dieser Regelungen wird durch die Öffentlichkeit sanktioniert. Dann kann der Staat seine Gesetzblätter gleich in den Reißwolf stecken.

Bei unsrer Arbeitskräftesituation und den Einkommensunterschieden würden doch aber alle versuchen, drüben zu arbeiten und hier subventioniert zu leben.

Diese Gefälle muss man bei den Regelungen im Auge haben und entsprechende Gegengewichte schaffen. Viele werden dort arbeiten wollen, aber so viele freie Stellen gibt es dort nicht. Und die Gewerkschaft, ich glaube aber auch die Unternehmerverbände und die Regierung der BRD werden ein Interesse daran haben, dass keine Massen von DDR-Arbeitskräften als Schwarzarbeiter dort den sozialen und Einkommensstand unterlaufen und drücken. Und natürlich reicht ein Gesetz nur zur Arbeitskräfteregelung auch nicht aus. Ich habe am 15. November dem Vorsitzenden unserer Regierung, Hans Modrow, einen Brief geschrieben, weil ich Angst habe, die erforderlichen Regelungen würden weiter nur an Einzelfragen ansetzen. Erforderlich ist ein Gesamtkonzept zur Verbindung einer vollen Integration unserer Wirtschaft in die internationalen und europäischen Wirtschaftsräume - Internationalisierung der DDR-Wirtschaft - mit einer neuen sozialistischen Identität, die wir durch eine grundlegende Demokratisierung unserer Wirtschaft erreichen müssen. An die Stelle der Unterordnung der Betriebe und Kombinate und der Kommunen unter die Staatszentrale muss die Bindung all dieser - einschließlich der Zentrale - an die Individuen treten, an ihre, Bedürfnisse und die von unten geschaffenen oder zu schaffenden Assoziationen zur Interessenartikulation: Gewerkschaften, Ökologieinitiativen, Konsumenten- und Verbraucherorganisationen. Diese Interessen - und auch die der Gesellschaft und Wirtschaft selbst -, sollen nach unserer Vorstellung durch ein Wirtschafts- und Sozialrätesystem bei allen Betrieben und Kombinaten, bei allen Volksvertretungen repräsentiert werden und in einem öffentlichen Raum Wirtschaftsstrategiebildung kontrollieren und mitgestalten. Damit folgen wir sowieso den in Europa und der Welt - auch im modernen Kapitalismus ablaufenden Demokratisierungstendenzen wirtschaftlicher Entscheidungen, zum Beispiel durch die Interessenauseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Management in gesetzlich geregelter Weise. Das gehört zu einer modernen Kommunikationsgesellschaft. Wir gehen aber zugleich auch einen Schritt weiter. Sozialisierung, Vergesellschaftung der Wirtschaft heute bedeutet nach meiner Einsicht: weitgehende Demokratisierung der Strategiebildung, der Ausübung der Eigentümerfunktionen. Geht man so einen Weg, kann man sogleich rückhaltlos internationalisieren, ohne Angst, die eigene sozial und ökologisch progressive Ausrichtung der Wirtschaftsentwicklung sei nicht zu gewährleisten. Ich meine, erst dann wird sie es wirklich. Demokratisierung und Internationalisierung. Dann kann man auch in einigen großen Schritten bald zu einer konvertierbaren Währung kommen und viele Gründe, nicht hier arbeiten zu wollen, entfallen.

Das hört sich gut an, aber endet das nie beim Ausverkauf unserer Wirtschaft? Viele äußern solche Befürchtungen. Und wie soll ein solches Wirtschafts- und Sozialrätesystem funktionieren? Das sollte Thema unseres nächsten Interviews sein.

Im Prinzip ja. Aber ich schlage vor, erst Professor Rosi Will zu politischen Reformen sprechen zu lassen, denn die sind nötig, damit Wirtschaftsreformen überhaupt demokratisch erarbeitest und politisch legitimiert verwirklicht werden können.

Interview: Reinfried Musch,
Ilse Ziegenhagen

aus: Sonntag, Nr. 48 und 50, 1989, Herausgeber: Kulturbund der DDR

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