An die Westlinke

Gegen Weggucken und Abstandhalten bei einem nahen Problem

G A S T K O M M E N T A R

Ich fühle mit euch, das Boot ist voll. Und der Schrei nach Anerkennung ist schließlich nichts anderes als der Schrei: "Nicht noch mehr, alles besetzt!" und ein Schlag mit dem Paddel auf die Köpfe der Herankraulenden. Nur hilft das nicht. Inzwischen kraulen solche Massen heran, dass nicht einmal die Westfülle an Paddeln ausreichen würde, sie abzuhalten.

Nein, es geht nicht um Blut und Hymne, den meisten Menschen in der DDR geht es nicht darum. Es geht um die überfällige DDR-Reform. Die aber kommt nicht dadurch in Gang, dass die Westlinke - was immer das heute heißen mag und wer immer sich dazu zählt - einem erzreaktionären SED-Klüngel die Absolution erteilt, um so ihren eigenen Kalten-Kriegs-Vätern einen Tritt in den Hintern zu versetzen. Eine Reform - und nichts sonst vermag den DDR-Exodus zu stoppen - kommt nur über eine breite und politisch wirksame Unterstützung aller reformwilligen Kräfte jenseits der Mauer zustande. Die aber steht bisher aus - gerade von euch hier.

Die Hoffnung, der DDR-Bürger möge sich selbst aus seinem Stalinismus wickeln, geht heute weniger auf denn je. Die DDR ist weder Polen noch Ungarn noch die Sowjetunion. Sie hat ein Handicap: ein zweites Deutschland zum Flüchten und Abschieben. Das deutsch-deutsche Müllgeschäft ist nicht einseitig. Die SED hat im jahrzehntelang nicht nur ihre Neonazis über die Mauer gekippt, sondern ebenso lange auch ihre linken Widerhaken. Sie hat den Widerstand der DDR vierzig Jahre lang ausgedünnt und ihren Staatssicherheitsapparat vierzig Jahre lang preußisch perfektioniert - ein lähmendes Missverhältnis.

Es gibt nur eine Reihenfolge für eine echte Lösung: erst die Reform, dann die Anerkennung.

Freya Klier, Autorin und Regisseurin, seit Januar 1988 in West-Berlin

die tageszeitung, 14.05.1989