Bestimmt der Stein das Bewusstsein?
Erklärung der Umwelt-Bibliothek Berlin zu den Vorfällen während der Antifa-Demonstration gegen die Nazihäuser in der Ostberliner Weitlingstraße
Wir gehören zu den Unterzeichnerinnen und Teilnehmerinnen der Demonstration gegen die Berliner Zentrale der "Nationalen Alternative" in der Weitlingstraße. Wir schämen uns und wir sind zornig. Mit der Demonstration wurde nicht das erreicht, was wir wollten, sondern das genaue Gegenteil. Und dass Schlimmste: ohne Sinn und Verstand und ohne irgendeinen Grund wurden eine Reihe von Menschen zum Teil schwer verletzt.
Es ging uns bei der Demonstration darum, einen weiten Konsens von Berliner Bevölkerung, Gruppen, Organisationen und Parteien gegen die mittlerweile fast täglichen Überfälle auf Passantinnen und Häuser zu zeigen, die nachweislich aus der NA-Zentrale in der Weitlingstraße gesteuert werden. Leider konnten wir schon im Aufruf zu dieser Demonstration diese notwendige Breite nicht erreichen. Wir richten das als Vorwurf an die Leute vom Bündnis 90, denen offenbar die Auftritte in der Volkskammer wesentlichster Lebensinhalt und Basisarbeit Nebensache geworden ist. Kein einziger von den Prominenten des Bündnisses war erschienen und eine Mobilisierung der AnhängerInnen hat offenbar gar nicht stattgefunden. Bedrückt hat uns, dass darüber hinaus kaum Leute aus der Berliner Bevölkerung erschienen waren. Offenbar ist die allgemeine Situation so traumatisch, dass kaum jemand mehr Mut und Lust findet, für allgemeine Belange einzutreten.
Die Demonstration bestand also im Wesentlichen aus denen, die im Westen und mehr noch im Osten Opfer von Naziangriffen wurden, BewohnerInnen von besetzten Häusern, Leute, die wegen ihres ungewöhnlichen Aussehens zusammengeschlagen wurden, aber auch normale StraßenpassantInnen, denen das gleiche aus irgendeinem Grund widerfuhr. Diese Demonstrationsteilnehmerinnen hatten zwei Erfahrungen: Sie kannten die hemmungslose Brutalität der Nazis und sie wussten, dass sich die Polizei bei Überfällen auf besetzte Häuser, wem überhaupt, nur zögernd und sparsam einstellt. Demgegenüber wurden die Nazihäuser in der Weitlingstraße von 2.500 Polizisten vor den Demonstrantinnen geschützt. Entsprechend war die allgemeine Stimmung von Empörung und Haas bestimmt.
Wir waren nicht besonders begeistert, als wir sahen, dass ein Teil der Demonstranten seit Beginn mit Schlagstöcken aus Holz und Stahl und mit Gaspistolen ausgerüstet war. Wir haben angenommen, dass das sinnvoll sein könnte, falls die Polizei uns nicht vor einem Naziangriff schützen kann oder die Polizei ohne Begründung die Demonstration angreift (wie es letztens in Westberlin bei einer Behinderten-Demonstration geschah).
Es geschah aber das völlige Gegenteil. Die Polizei hielt sich zurück, obwohl sie von schlagstockschwingenden Demonstrationsteilnehmern provoziert wurde. Als z.B. ein Polizist harte Drohungen mit einem Schimpfwort beantwortete, wurde das genutzt, um ihn tätlich anzugreifen. Pflastersteine wurden ohne Grund geworfen, aus Gaspistolen auf die Polizei geschossen. Die Eskalation endete dann in der bekannten Schlacht.
Es ist zwar richtig, dass der Großteil der Demonstrantinnen sich nicht an diesen Aktionen beteiligte. Wir haben aber auch nicht genug getan, um uns von dieser knüppelschwingenden "Leibgarde" zu befreien. Soweit allerdings DemonstrantInnen diese Aktivisten zurückzuhalten suchten, wurden sie ebenfalls mit dem Knüppel bedroht, geschlagen oder auch nur als Weichling oder Spitzel beschimpft.
Wir glauben, dass diese Art von Militanz nichts mehr mit den Inhalten einer linken Bewegung zu tun hat. Die Veränderung einer Gesellschaft ist leider nicht ganz ohne Gewalt möglich. Es handelt sich dabei aber immer, wie in der DDR seit Oktober zu sehen war, um eine Verteidigung der Bevölkerung gegen die Herrschenden, um Notwehr. Gewalt und Unterdrückung bedingen sich in einer patriarchalischen Gesellschaft gegenseitig. Sie beginnen mit der Unterdrückung von Frauen und anderen Mitmenschen und enden bei der organisierten militärischen und politischen Unterdrückung der Bevölkerung.
Wir wollen eine Gesellschaft, in der Gewalt und Unterdrückung beendet sind. Der Kampf um diese Gesellschaft kann nicht von einem militarisierten "bewusstesten Vortrupp" von "Berufsrevolutionären" geführt werden. Eine Bewegung, die eine solche "Avantgarde" akzeptiert, wird zum Schluss von ihr vergewaltigt werden, wie das so oft in der Vergangenheit geschehen ist. Wir wollen nicht von bewaffneten Berufsrevolutionären geschützt werden. Wir schützen uns selbst, nicht mit militärischen Mitteln, sondern mit der oft verhöhnten Kraft der Schwachen, mit der wir schon einmal ein Regime besiegt haben. Wir denken mit dem Kopf und fühlen mit dem Bauch, nicht umgekehrt.
Es geht uns nach wie vor um die Auflösung der NA-Zentrale in der Weitlingstraße und das Verbot der NA. Das kann aber nur ein Anfang sein. Es geht nicht nur darum, dass sich die BürgerInnen endlich wieder auf der Straße sicher fühlen können. Weit wichtiger ist ein systematisches Programm zur gesellschaftlichen Sozialisation von Zehntausenden dissozialisierter Jugendlicher, die im Moment nur von Nazis "betreut" werden. Diese unselbständigen und autoritätsgläubigen Jugendlichen sind das schwere Erbe, das uns das Erziehungssystem des alten Regimes hinterlassen hat. Was in deren Köpfen an Unrat wuchs, kamt nicht mit militärischer Gewalt beseitigt werden, sondern nur mit zäher, geduldiger Arbeit. Ein wesentliches und bisher völlig fehlendes Fundament der Arbeit der Antifa-Gruppen muss deshalb Informationsarbeit in Schulen, Jugend- und Trebegängerzentren und anderen Orten sein, an denen Jugendliche erreichbar sind, die Erstellung von Material für interessierte Lehrer und Sozialarbeiter, alle möglichen Formen von Öffentlichkeitsarbeit.
Ein Diskussionsprozess über das Verhalten bei Demonstrationen muss dringend geführt werden. Dabei wird man/frau sich von Leuten trennen müssen, die gleichgültig in der Wahl ihrer Mittel sind. Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel: Die angewandten Mittel müssen dem Ziel entsprechen.
Umwelt-Bibliothek Berlin
aus: telegraph, Nr. 12, 12.07.1990, Herausgeber: Umweltbibliothek Berlin