Für Selbstbestimmung und Demokratie
Gemeinsame Erklärung von Polen und von Deutschen aus der DDR
(gekürzt)
Im Jahre 1989, 50 Jahre nach dem Beginn des 2. Weltkrieges, begannen die Länder Mitteleuropas, das verhängnisvolle Erbe fremder und eigener autoritärer Unterdrückung abzuschütteln. In Polen kam es nach den Vereinbarungen am Runden Tisch zu ersten teilweise freien Wahlen und zur Bildung einer nichtkommunistisch geführten Regierung. In der DDR hat eine starke Volksbewegung die Herrschaft der SED-Führung demontiert. Mit der Öffnung der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten ist die Politik der fast dreißigjährigen Abgrenzung, beruhend auf der Spaltung des Kontinents, endgültig gescheitert. (...)
I. Das totalitäre nationalsozialistische Regime kam 1933 mit Unterstützung oder stillschweigender Billigung einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung an die Macht und behauptete diese Macht durch lähmenden Terror und das Fieber des Erfolgs. Seine Gewalt richtete sich nicht nur gegen die innere Opposition. Polen war das erste Opfer, das der aggressiven nationalsozialistischen Eroberungspolitik politischen, militärischen und zivilen Widerstand entgegensetzte. Nach der Niederwerfung Polens und der Aufteilung des Landes entsprechend den Vereinbarungen des Hitler-Stalin-Paktes mit dem Geheimen Zusatzprotokoll wurde ein brutales Terrorregime errichtet. Hitler verfolgte das Ziel der "Vernichtung Polens" und der "Beseitigung der lebendigen Kräfte". Sechs Millionen Bürger des polnischen Staates - darunter drei Millionen polnische Juden - wurden getötet. Millionen andere verloren ihre nächsten Angehörigen, ihre Gesundheit oder ihre Heimat. Die Erinnerung daran ist bis heute lebendig.
Wiedergutmachung, die sich irgend ausrechnen lässt, kann dieses Maß an Schuld nicht tilgen. Die Kenntnis davon, wie zielstrebig und gründlich die Politik der Unterjochung und Verachtung in die Tat umgesetzt wurde, darf nicht der Gedächtnislosigkeit anheim fallen; sie sollte jeden Deutschen zu Trauer und Scham anhalten.
Die während des Krieges erregte Welle der Feindschaft und des Hasses schlug an seinem Ende und nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches als Vergeltung zurück. Millionen Deutsche wurden ausgesiedelt und verloren ihre Heimat - oft unter unmenschlichen Bedingungen; wer blieb und Deutscher bleiben wollte, wurde diskriminiert.
Das dem Hitler-Stalin-Pakt zugrunde liegende Prinzip imperialer Machtpolitik blieb auch nach dem Krieg in Kraft. Es bildete die Grundlage für die Spaltung Europas in gegensätzliche politische, militärische und wirtschaftliche Blöcke.
II. Nach dem Krieg schien es, als würden die Beziehungen von Polen und Deutschen auf unabsehbare Zeit von Hass und Feindschaft bestimmt sein. Die Oder-Neiße-Grenze, in Jalta und Potsdam beschlossen, brachte vielen Deutschen erst den Preis des verlorenen Angriffskrieges zu Bewusstsein. Der Verlust schmerzte, er konnte nicht diskussionslos hingenommen werden. Aber nicht aufhörende Spekulationen über die Dauerhaftigkeit der neuen polnischen Westgrenze schürten auf polnischer Seite neues Misstrauen.
Die Regierung der DDR hat die polnische Westgrenze 1950 anerkannt. Ein auf menschlicher Begegnung und freier öffentlicher Debatte beruhender Prozess der Aussöhnung beider Völker hat diesen staatsrechtlichen Akt indessen nicht begleitet. Ansätze dazu auf beiden Seiten wurden behindert, indem sie den innen- und außenpolitischen Interessen der regierenden Staatsparteien untergeordnet wurden. Autoritäre Strukturen standen einem authentischen Dialog zwischen den Gesellschaften im Wege, sie verhinderten nicht das Wiederaufleben alt-neuer Vorurteile voneinander und nutzten diese sogar für ihre machtpolitischen Ziele aus.
In dieser Situation setzten die Denkschrift der EKD Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn vom Oktober 1965 und der Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen katholischen Bischöfe vom November 1965 erste Zeichen eines redlichen, glaubwürdigen Verständigungswillens zwischen Deutschen und Polen. Es waren mutige und weitsichtige Taten, die eine vorurteilsfreie Sicht auf die ältere und jüngste Geschichte befördert sowie Wege in eine gemeinsame Zukunft geöffnet haben. (...) Das sollte uns auch heute daran erinnern, dass der Beitrag der Kirchen für die Gestaltung der polnisch-deutschen Nachbarschaft unersetzbar ist.
III. Heute ist die DDR von einem Demokratisierungsprozess erfasst, der in Polen schon früher - vorangetrieben durch die Gewerkschafts- und Bürgerbewegung "Solidarność" - politische Gestalt angenommen hat. Die Veränderungen in Polen haben wir in der DDR mit aufmerksamer Sympathie und Hoffnungen für uns selbst begleitet. Wir wünschen ein souveränes, demokratisches, wirtschaftlich starkes Polen, von dem fördernde Impulse für das Streben der europäischen, insbesondere osteuropäischen Völker nach Selbstbestimmung und Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden ausgehen mögen.
Die Gesellschaft der DDR erzwang auf friedliche Weise bedeutende Systemveränderungen im Staat. Die Intentionen dieser Veränderungen sind augenfällig. Es geht um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und das Recht auf Selbstbestimmung, um die Grundlagen für die weitere Entwicklung einer Gesellschaft, die auf dem freien Bürgerwillen beruht.
Die Bewohner der DDR haben wie alle Europäer das Recht, über ihr gesellschaftliches Schicksal und auch die Zukunft ihres Staates selbst zu entscheiden. Alle demokratischen Optionen sind in dieser Frage rechtlich und moralisch begründet. Allein von den Deutschen in der DDR wird es abhängen, ob sie sich für die Erhaltung der vollen staatlichen Souveränität, für eine partnerschaftliche Vertragsgemeinschaft oder für die Vereinigung im Rahmen eines staatlichen Organismus entscheiden. Eine jede dieser Optionen kann nur im Rahmen europäischer Zusammenarbeit, auf friedlichem Wege und unter Berücksichtigung der Interessen aller KSZE-Staaten, insbesondere der unmittelbaren Nachbarn des deutschen Volkes, realisiert werden. Die Grenze an Oder und Lausitzer Neiße darf weder in Frage gestellt werden noch Objekt von Handlungen sein, die beabsichtigen, sie zu verändern oder anzutasten. Diese Grenze sollte, wie alle anderen Grenzen des Kontinents, die Menschen verbinden, nicht aber Polen und Deutsche trennen.
In der komplizierten Phase des Übergangs von autoritären zu demokratischen Strukturen treten systembedingte Schwierigkeiten zutage, die zwischen Polen und der DDR als Ungleichgewicht des Marktes drastisch zutage treten. Die Krankheit des Systems begünstigt ungesunde spekulative Energien. Administrative Gegenmaßnahmen begnügen sich mit dem Kurieren an Symptomen und führen zur Diskriminierung von Ausländern. Mit Bedauern stellen wir fest, dass sie besonders Polen betrafen und antipolnische Ressentiments wieder belebten. Ohne diese Erscheinung zu überschätzen, muss ihr entschieden entgegengewirkt werden. Auf beiden Seiten der Grenze ungleich erfahrene Schwierigkeiten des Lebens dürfen unsere gemeinsame Überzeugung vom Wert einer offenen Gesellschaft und einer demokratischen Ordnung für die Annäherung der Völker nicht schwächen. (...)
IV. Für das Streben nach einem geeinten Europa, das Ost und West miteinander verbindet, hat die Qualität der deutsch-polnischen Nachbarschaft eine besondere Bedeutung. Die Achtung der Menschenrechte in allen ihren Aspekten ist die entscheidende Garantie für Freiheit und Frieden. Der Wandel in Mittel- und Osteuropa bietet heute die historische Chance, diesem Ziel näher zu kommen. Er ist eine Herausforderung an unsere politische Phantasie, moralische Verantwortung und kulturelle Gestaltungskraft.
In diesem Wandel sollten wir uns des gemeinsamen europäischen Erbes wieder bewusst werden, seien wir nun Polen oder Deutsche, vor oder nach 1945 geboren, Christen oder Nichtchristen. Uns zu jenen grundlegenden Werten bekennend, die in der Vergangenheit die humane Substanz von Kultur und Zivilisation auf unserem Kontinent geprägt haben, wollen wir für demokratische Erneuerung eintreten, die das Recht aller Menschen und Völker auf ein Leben in Würde sichert.
Unterzeichner: Stephan Bickhardt, Bärbel Bohley, Ibrahim Böhme, Hans-Jürgen Fischbeck, Stephan Hilsberg, Ludwig Mehlhorn, Jens Reich, Edelbert Richter, Wolfgang Ullmann, Wolfgang Templin, Konrad Weiß und andere. - Michal Czajkowski, Kazimierz Dziewanowski, Jozefa Hennelowa, Krzysztof Kozlowski, Adam Krzeminski, Mieczyslaw Pszon, Stanislaw Stomma, Jan Jozef Szczepanski, Andrzey Szczypiorski, Jerzy Turowicz, Jan Walter, Stefan Wilkanowicz, Kazimierz Woycicki und andere.
aus: TAZ Nr. 3030 vom 10.02.1990