Damit kein neues Unrecht entsteht
Von den Basisgruppen und den Selbsthilfeorganisationen ist im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit hier im Lande die Rede. Wir sprachen darüber mit Beate B(...), Historikerin und Mitbegründerin des linken Dokumentationszentrums.
die andere: Vielleicht kannst du uns erst einmal die verschiedenen Gruppen vorstellen.
B(...): Die einzige hauptamtliche Gruppe, die zur Zeit arbeitet, ist die Arbeitsgruppe "Opfer des Stalinismus" am Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie besitzt das Monopol auf Akten und verhindert den Zugang der Selbsthilfeorganisationen. Dann gibt es den "Bund der stalinistisch Verfolgten (BSV)", der sich auch generell der gesellschaftlich Benachteiligten annimmt. Die "Initiativgruppe Gerechtigkeit und Menschenrechte" hat ihren Schwerpunkt bei der Betreuung der Opfer der 50er Jahre. Die Initiative Frieden und Menschenrechte, AG "Opfer politischer Prozesse", ist eine reine Selbsthilfegruppe. Ein sehr kompliziertes Gebiet bearbeitet die "Interessengemeinschaft unrechtmäßig Verurteilter von den sowjetischen Militärtribunalen", da diese Urteile z.B. nicht von einem Rehabilitierungsgesetz betroffen werden. Dort müssen zwischenstaatliche Lösungen gefunden werden.
Die AG "Unabhängige Historiker" leistet vor allem Hilfe bei Publikationen. Außerdem gibt es eine "Informationsstelle für Verfolgte des Stalinismus". Den "Verband der politisch Verfolgten in der DDR" leitet ein ehemaliger Jurist, der ebenfalls Repressalien ausgesetzt war.
Die "Vereinigung der Verfolgten des stalinistischen Terrors" machte jüngst von sich reden, als sie forderte, Honecker und andere haftunfähige ehemalige Politbüromitglieder trotzdem hinter Schloss und Riegel zu setzen, weil nach ihrer eigenen Haftunfähigkeit damals auch niemand gefragt hätte.
Außerdem gibt es natürlich noch das Linke Dokumentationszentrum, bei dem ich mitarbeite.
die andere: Es scheinen sich unterschiedliche Ansätze herauszubilden. Welche Arbeitsrichtungen zeigen sich für dich?
B(...): Im wesentlichen gibt es zwei Hauptrichtungen: Ersteinmal gibt es die Betroffenverbände, die sich jetzt zu einem Dachverband zusammenschließen wollen und dann die so genannten Aufarbeitungsgruppen, die sich zum Teil auch enger zusammenschließen, wie das Linke Dokumentationszentrum und die Initiativgruppe "Gerechtigkeit und Menschenrechte". Gemeinsam werden wir dann den schönen Namen "Dokumentationszentrum - zur Aufarbeitung der Schicksale zu Unrecht Verfolgter" tragen.
die andere: Welche Aufgaben werden dann unter dem neuen Titel von euch zu bewältigen sein?
B(...): Eigentlich sind es drei Aufgaben. Der Kern unserer Arbeit ist die Erkenntnis, dass ein Rehabilitierungsgesetz, auch wenn die Betroffenengruppen daran nicht beteiligt sind, nicht ausreicht, um erlittenes Unrecht wieder gutzumachen. Persönlicher Kontakt ist notwendig, eine Beratungsstelle für alle, die aus politischen, religiösen und rassischen Gründen verfolgt waren. Es ist zweitens von großer Bedeutung, Oppositionsgeschichte aufzuarbeiten, eine Geschichte von unten gewissermaßen, wie es auch die Geschichtswerkstättenbewegung - in der Bundesrepublik inzwischen schon verbreitet - betreibt. Darüber hinaus geht es darum, Materialien, Erlebnisberichte, Dokumente zu archivieren. Vor allem aber ist es wichtig, zu recherchieren, beispielsweise für Betroffene, die einen Antrag auf Rehabilitierung stellen. Aber auch für Angehörige, die etwas über das Schicksal ihrer Verwandten erfahren wollen. Dafür haben wir eine internationale Vernetzung begonnen mit der Gruppe "Memorial" in der Sowjetunion, dem Komitee für historische Gerechtigkeit in Ungarn, mit dem Solidarność-Ost-Archiv in Polen. Oft waren die Lager international besetzt, und viele Spuren verlieren sich jenseits der eigenen Landesgrenze. Gemeinsam ist es auch leichter z.B. Druck auf das KGB-Archiv und andere sowjetische Archive auf Herausgabe der Akten auszuüben. Für alle arbeitenden Gruppen ist der Zugang zu Archiv notwendig. Und die Zeit drängt, denn wie unser Innenminister Diestel meinte, hat er kein Interesse an der politischen Aufarbeitung der DDR Vergangenheit. Und wer weiß, wo dann die Akten landen!
Genau darum geht es uns nämlich, neben Einzelschicksalen die Strukturen und Machtmechanismen für Unrecht offen zulegen.
die andere: Und Öffentlichkeitsarbeit?
B(...): Ja, das ist unser dritter wichtiger Punkt. Und das machen wir ja gerade mit dem Gespräch und mit eurem Bericht. Durch Medienarbeit wollen wir die Leute sensibilisieren und ein gesellschaftliches Bewusstsein für das Problem schaffen. Nur so kann ja verhindert werden, dass sich solche Verbrechen wiederholen. Wir stellen uns auch vor, sachkundige Beratung für den Geschichtsunterricht zu liefern. Auch wenn es um Denkmäler und Ausstellungen geht, finden wir es sinnvoll, die Aktivitäten zu koordinieren. Allerdings benötigen wir für unsere Aufgaben unbedingt vier Planstellen. Man kann nur hoffen, dass der Innenminister mit seiner Haltung zur Geschichte nicht die gesamte Regierung repräsentiert.
die andere: Wie kann man euch erreichen?
B(...): Unter unserem schönen neuen Namen zu Händen des Unabhängigen Kontakttelefons im Haus der Demokratie, Friedrichstraße 165, Berlin, 1080.
(Das Gespräch führte
Marion Seelig)
aus: Die Andere Zeitung, Nr. 16, 10.05.1990, Unabhängige Wochenzeitung, Herausgeber: Klaus Wolfram