Es ist zu spät!

Auch wenn es ehrenhaft ist und zeigt, dass nicht alle MitgliederInnen der Bürgerinnenbewegung in dem Deutschtaumel mitschwimmen. Die Neubesetzung des Stasi-Gebäudes Ruschestraße Berlin/Ost kommt zu spät. Und die, die eine Mitschuld haben an der Verschleierung und Vernichtung und Verschleppung von Stasi-Akten, sind gleichzeitig die Opfer und zum Teil WiederbesetzerInnen. Wer hat beim ersten Sturm der Stasi-Zentrale [15.01.1990] zur Mäßigung aufgerufen, wer hat sich als Hilfspolizei zur Verfügung gestellt? Wer hat die aufgebrachte Menge wieder aus den Gebäuden gelockt, wer hat verhindert, dass die Akten aus dem Fenster flogen und der ganze Scheiß in Flammen aufging? - Der Runde Tisch und dessen AnhängerInnen.

Wer einmal den Volkszorn kanalisiert hat in "demokratischen" Spielereien, braucht sich nicht über die jetzige Situation zu wundern. Es ist schon makaber, dass die Besetzerinnen des Stasigebäudes vom 4.9. die Offenlegung der Stasispitzel in der Volkskammer verlangen, andererseits ein Mitglied des Neuen Forum diese Liste in der Volkskammer mitbearbeitet hat und "demokratisch" seine Schnauze hält. Auch zeigt die Forderung, die Akten zu Händen der Länderparlamente zu übergeben, wieder einmal die Fehleinschätzung des Kapitalsystems und der bürgerlichen Demokratie. Der Affentanz der jetzigen Volkskammer wird in den Länderparlamenten weitergehen. Ein leichtes wird es sein, Bestimmungen zu finden oder bestehende zu nutzen, die eine spätere Übergabe an die Verfassungsschutz-Zentrale ermöglichen.

Es nützt auch nichts, die Stasiakten zu fordern, ohne auf das auf uns zukommende, schlauer arbeitende System des Verfassungsschutzes und die Repressionsparagraphen im kommenden deutschen Reich aufmerksam zu machen und den Kampf dagegen zu beginnen.

Ich kann mich an keine Solidaritätserklärung der BürgerInnenbewegung in der DDR in den letzten Wochen und Monaten erinnern, in der die Freilassung der politischen Gefangenen in der BRD gefordert wird. Wie entscheidend ist der alte Regen, wenn wir in der Jauche stehen? Lenkt es nicht von den sozialen Kämpfen und dem auf uns zukommenden Repressionsstaat ab?

Es muss nicht! Wenn die Zerschlagung der Stasi die Grundlage zum Widerstand gegen das neue Spitzel- und Unterdrückungssystem wird. Dies muss aber so deutlich gesagt und dementsprechend gehandelt werden! Auch hat die "demokratische" Arbeit der Auflösungskomitees die Verschleppung wichtiger Stasiakten in die BRD nicht verhindert. So finden die Verantwortlichen in der BRD die Neu-Besetzung der Stasizentrale auch nur "sehr lustig".

Eine Selbstkritik, sich auf scheindemokratische Strukturen, wie die der Auflösungskomitees, eingelassen zu haben, müsste eine Konsequenz der Bürgerinnenbewegungen sein. Auch, dass wesentliche Entwicklungen in der Gesellschaft nicht deutlich mitbestimmt worden sind und keine Alternativen aufgezeigt wurden und somit das Nichtinteresse der Bevölkerung an den Bürgerinnenbewegungen nur allzu verständlich ist.

kähte k(...)

aus: telegraph, Nr. 14, 19.09.1990, Unterdrückte Nachrichten, Kommentare, Termine, Herausgeber: Umweltbibliothek Berlin