"Der Fall, der mich den Kopf gekostet hat"

Gespräch mit Dr. rar. Götz Berger

Einen beachtlichen Abschnitt der Geschichte der Rechtspflege in der DDR hat er mitgeschrieben, der Antifaschist und humanistische Altkommunist, wie er sich im Vorgespräch zu diesem Interview selbst bezeichnete: Dr. jur. Götz Berger, Jahrgang 1905, wohnhaft in Berlin-Pankow. Im ersten Band "Zur Rechtspflege der DDR 1945 bis 1949", der erschien, als er noch kein Geächteter war, findet sich sein Name mehrfach. Der zweite Band verschweigt ihn. Das Autorenkollektiv wurde geleitet von Hilde Benjamin, deren ehemaliger Sozius Dr. Berger in der gemeinsamen Rechtsanwaltspraxis im roten Wedding bis 1933 war, als ihm zum ersten Mal die Zulassung als Rechtsanwalt entzogen wurde, weil er für die Rote Hilfe tätig war. Am 1. Dezember 1976 wiederholte sich der makabre Vorgang. Im Gespräch mit Dr. Berger beleuchteten wir die Hintergründe dieser Entscheidung.

Herr Dr. Berger, Sie gehörten wie Professor Robert Havemann zu jenen aufrechten Altkommunisten, die sich für eine neue Gesellschaftsordnung mit menschlichem Antlitz seit frühester Jugend einsetzten. Wie kam es dazu, dass Sie vor 13 Jahren aus dem Berliner Rechtsanwaltskollegium ausscheiden mussten?

Das ist eine längere Geschichte. Seit dem 1. Februar 1958 war ich Mitglied des Kollegiums der Rechtsanwälte in Berlin und hatte mein Büro in der Zweigstelle Friedrichsfelde. Ich war aus der Justiz ausgeschieden, weil sich meine Ideale für den Aufbau eines demokratischen Rechtswesens so nicht erfüllt hatten.

Welche Fälle übernahmen Sie? Vorrangig politische?

Ich will Ihnen ganz offen sagen, meine Praxis ging nicht überwältigend gut, weil ich kein Auto besaß. Viele Mandanten haben wohl gedacht, wenn Dr. Berger keinen Waffen hat, dann muss das ja ein schöner Anwalt sein. So hatte ich in der Mehrzahl "Wald-und-Wiesen-Sachen", aber auch einige politische Fälle zu vertreten. Und da war einer darunter, der mich wahrscheinlich später den "Kopf gekostet" hat - zusammen mit dem Fall Havemann. 1968, nach dem Prager Frühling, habe ich einen der Söhne von Professor Havemann verteidigt, später auch den zweiten. Der Sachverhalt bestand darin, dass der 17jähnge Sohn auf einem Plakat, das zum Eintritt in die Volkspolizei warb, Zettelchen aufgeklebt hatte mit einem Zitat von Brecht, wonach der Staat kein Recht habe, Polizisten auf Lebenszeit anzustellen. In der Verteidigungsrede habe ich dann vorgetragen, dass nach Engels der Staat seine Funktion im Sozialismus immer mehr einzubüßen und Brecht diesen Gedanken aufgegriffen hat. Motiviert dadurch, wären die Söhne Havemanns davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Und nun habe ich weiter ausgeführt: Im übrigen neigen bewaffnete Organe innerhalb eines Staates sehr dazu, sich selbständig zu machen. Das hat leider auch die Sowjetunion erfahren müssen. Ich wies auf Berija hin, den Chef der sowjetischen Geheimpolizei GPU, der ein enger Vertrauter Stalins und doch ein Feind war und als solcher verurteilt werden musste.

Im Gerichtssaal war nur der Staatssicherheitsdienst als "Öffentlichkeit" vertreten. Als die Stasi-Leute den Namen Berija hörten, ging ein Murren durch die Reihen. Durch mein Plädoyer sahen sie sich schon alle unter Anklage gestellt. Sie hatten meine Ausführungen richtig verstanden. Seit diesem Zeitpunkt, haben sie alles getan, damit sich politische Häftlinge nicht an mich wandten.

Wie ging das vor sich ? Wann haben Sie davon Kenntnis bekommen?

Beispielsweise hatte ich aus der Haftanstalt einen Brief mit der Bitte um Verteidigung bekommen und zugesagt. Nach einigen Tagen erhielt ich von derselben Mandantin Post mit der Bitte, von ihrem Auftrag zur Vertretung doch Abstand zu nehmen, weil sie sich es anders überlegt hätte. Hinterher erfuhr ich von ihr, die Stasi-Leute hätten zu ihr gesagt, einen Anwalt zu nehmen, würde auf keinen Fall etwas nützen, weil er sowieso nichts zu sagen hatte. Es könnte ihr nur noch mehr schaden. Im übrigen wäre es herausgeworfenes Geld.

Können Sie, Herr Dr. Berger, an einem weiteren Beispiel verdeutlichen, wie die Sicherheitsorgane die Arbeit des Rechtsanwalts beeinflussten?

Ja, sehen Sie, hierzu habe ich sogar einen Beleg: das im Rowohlt-Verlag erschienene Buch des ehemaligen DDR-Schriftstellers Jürgen Fuchs "Vernehmungsprotokolle November 1976 bis September 1977". Fuchs hatte mich mit seiner Verteidigung beauftragt, aber ich konnte sie nicht mehr wahrnehmen. Es heißt dort, bei Vernehmungen hat der Verteidiger nichts zu suchen, das sei Jürgen Fuchs gesagt worden.

Wie ging es im einzelnen mit Ihrer Abberufung vor sich?

Es war an einem Nachmittag, ich kam gerade vom Friseur. Da wartete Staatssekretär Kern in meiner Wohnung auf mich: "Sie möchten sofort ins Justizministerium kommen. Der Wagen steht unten." Dort angekommen, sagte er mir: "Ich habe Ihnen im Namen des Ministers mitzuteilen, dass Sie mit sofortiger Wirkung aus dem Rechtsanwaltskollegium ausgeschlossen sind. Sie haben sich jeder anwaltlichen Tätigkeit zu enthalten. Morgen früh dürfen Sie Ihre persönlichen Sachen aus dem Büro mitnehmen, weiter nichts." Als ich dann fragte, was die Gründe für mein Berufsverbot sind, fiel er vollständig aus der Rolle und sagte: "Da fragst Du noch?! Du hast Dich an die Seite unserer Feinde gestellt, derer, die uns aufhängen möchten. Du hast Dich an die Seite von Biermann und Havemann gestellt!"

Zum damaligen Zeitpunkt war in der Öffentlichkeit nichts von Ihrem Eintreten für Biermann bekannt. Warum engagierten Sie sich so stark für den Liedermacher Biermann?

Für Biermann hatte ich mich in einem internen Schreiben an meine Partei, die SED, eingesetzt. Ich erklärte, weshalb ich die Ausbürgerung nicht für einwandfrei hielt. "Bitte, überdenkt das noch einmal", schrieb ich in dem Brief, den ich persönlich überbrachte. Bei den Älteren wurde doch dadurch die Erinnerung an die Nazizeit geweckt, z. B. dachte ich an die Ausbürgerung von Thomas Mann und andere durch den faschistischen deutschen Staat. Weiter schrieb ich sinngemäß: "Das bisherige Leben von Biermann zeugt davon, dass er kein Feind des Sozialismus ist, dass er sich nur gegen Auswüchse und jene Erscheinungen wendet, die uns allen schaden." - Merkwürdigerweise sind es die gleichen Erscheinungen, mit denen wir es bis heute zu tun haben: Bürokratismus sowie die Tendenz bei einigen, sich mit volkseigenem Material private Datschen zu bauen. - Ich erwähnte ferner, dass durch solche Erscheinungen manche Leute in die Resignation getrieben wurden und dadurch zu Feinden werden könnten.

Was hatte es mit der Verteidigung des international anerkannten Wissenschaftlers Professor Havemann auf sich?

Robert Havemann hatte dem Nachrichtenmagazin "Spiegel" ein Interview gegeben. Daraufhin wurde er eines Tages aus seiner Wohnung abgeholt und unter dem Vorwand eines Verhörs nach Fürstenwalde gebeten. Dort im Kreisgericht wurde ein beschleunigtes Verfahren von etwa einer halben Stunde durchgeführt. Später habe ich die halbe Seite Protokoll gelesen. Im Ergebnis des Verfahrens wurde auf Aufenthaltsbeschränkung erkannt.

Nun ist die Aufenthaltsbeschränkung in das Strafgesetzbuch aufgenommen worden, um gegen Asoziale und Prostituierte gerichtlich vorgehen zu können. Im Bahntunnel von Lichtenberg gab es damals derartige Erscheinungen. Mit dieser Aufenthaltsbeschränkung wurde ein Wissenschaftler von Weltruf belegt.

Haben Sie, Dr. Berger, die Verteidigung von Professor Havemann übernehmen können?

Havemann rief mich an mit der Bitte, Berufung gegen die Aufenthaltsbeschränkung einzulegen. Wir haben zusammen die Berufung aufgesetzt und sie beraten. Ich selbst habe sie noch nach Fürstenwalde gebracht. Genau nach 26 Stunden ich habe es damals in meinem Notizkalender vermerkt - wurde mir mitgeteilt, dass ich aus dem Rechtsanwaltskollegium ausgeschlossen bin. Damit stand Professor Havemann ohne Verteidiger da. Die Berufung wurde durch Beschluss ohne öffentliche Verhandlung abgeschmettert. Das ist etwas Schlimmes in unserer Strafprozessordnung.

Gibt es über Ihren Ausschluss heute noch Unterlagen?

Die Unterlagen darüber sind weder im Justizministerium noch im Rechtsanwaltskollegium aufzufinden. Wahrscheinlich sind sie zur Parteikontrollkommission ins Zentralkomitee der SED gekommen, die damals alles angekurbelt hat. Formell sind kleine Notizen im Ministerium und Kollegium vorhanden.

Wer hat denn die Abberufung unterschrieben und damit politisch zu verantworten?

Der Justizminister - das will ich zu seiner Entschuldigung sagen hat von der Sache kaum etwas gewusst. Es war aber Heusinger, derselbe Minister, der mich jetzt auf mein energisches Betreiben hin rehabilitiert hat.

Für welchen Fall war denn das Abberufungsrecht des Ministers vorgesehen?

Mir war gar nicht bekannt, dass mit der Oberaufsicht über das Rechtsanwaltskollegium durch den Justizminister solches Recht für ihn bestand, denn wir arbeiteten wie eine Genossenschaft. Zuvor hatte es einige Fälle gegeben, wo auf Beschluss des Kollegiums zwei bis drei Rechtsanwälte wegen nachgewiesener krimineller Delikte abgesetzt bzw. ausgeschlossen wurden. Aber bei mir lag überhaupt nichts vor. Das Rechtsanwaltskollegium wurde vor meiner Abberufung gar nicht gefragt. Eine schriftliche Beschuldigung gegen mich gab es nicht. Eine Möglichkeit, mich zu verteidigen, bekam ich nicht.

Hätte der Justizminister bereits zum damaligen Zeitpunkt Zivilcourage gegen die ungerechte Entscheidung au/bringen, also mutig die eigene Überzeugung vertreten können?

Natürlich hätte er sagen können, diese Entscheidung kann ich mit meinen Berufspflichten und meinem Gewissen nicht verantworten, und androhen, dass er seinen Hut nimmt. Das ist eben die große Schuld, die sich all jene aufgeladen haben, die gegen unmoralische und sogar rechtswidrige Entscheidungen nichts unternahmen. Sie wären doch nicht eingesperrt, höchstens als Richter nach Kleinkleckersdorf versetzt worden. Existentielles wäre ihnen nicht passiert.

Was sollten Ihre Abberufung und damit der Ausschluss aus dem Rechtsanwaltskollegium unter Ihren Kollegen bewirken? Sie waren doch Antifaschist und VVN-Mitglied - eine Persönlichkeit der ersten Stunde.

Es sollte ein Schreckschuss für alle Rechtsanwälte sein. Dass meine Kollegen nichts gegen die Machenschaften unternommen haben, liegt vielleicht daran, dass sie dachten, Berger ist nicht mehr der Jüngste und hätte bald freiwillig seinen Beruf aufgegeben. Aber dem war nicht so. Ich fühle mich heute noch sehr rüstig. Objektiv wurden die Kollegen eingeschüchtert. Sie mussten befürchten, wenn jemand wegen einer Bagatelle ausgestoßen wird, der zudem als Altkommunist beim Aufbau der neuen Justiz solche Verdienste hat, insbesondere bei der Volksrichterausbildung, was soll dann erst mit uns geschehen, wenn wir im geringsten aufmüpfig werden.

Wie erging es Ihnen persönlich nach der Abberufung?

Ich selbst bekam noch ein Parteiverfahren in drei Stufen. Im Hinblick auf meine Verdienste endete es "nur" mit einer Rüge. Damit war ich aber ein Geächteter. Mir wurde nicht mehr zum Geburtstag von der Partei gratuliert - nicht einmal zum 80. Manuskripte - selbst unverfängliche - veröffentlichte die Redaktion "Neues Deutschland" von mir nicht. So hatte ich zum Beispiel eine Episode mit dem Arbeiterführer Luigi Longo geschildert und über den Spanienkrieg geschrieben, an dem ich teilnahm - wegen meiner pazifistischen Grundhaltung allerdings nur als Dolmetscher. Ich war also geächtet. Nun hoffe ich, dass eine DDR-Fernsehaufzeichnung von Anfang Dezember im Schauspielhaus bald gesendet wird und mich vollständig rehabilitiert.

Was hat der Justizminister unmittelbar nach der Wende unternommen, um das an Ihnen begangene Unrecht wieder gutzumachen?

Ich habe im April 1989 und vor wenigen Wochen erneut über das Berliner Rechtsanwaltskollegium an den Justizminister geschrieben. Schließlich verwies ich darauf, dass bisher keine substantielle Antwort bei mir eingetroffen ist. Gleichzeitig brachte ich zum Ausdruck, dass mir offensichtlich auch unter den jetzigen Umständen die Rehabilitation versagt wird. Daraufhin erhielt ich das vorliegende Schreiben vom 15. November 1989 mit der Unterschrift Heusingers. Sie können es einsehen!

Was soll die einschränkende Bemerkung "aus heutiger Sicht" in der jetzt erteilten Verfügung? Ist das nicht halbherzig?

Das ist genau der wunde Punkt. Die Abberufung war meines Erachtens bereits zum Zeitpunkt ihres Ausspruchs auch aus damaliger Sicht unbegründet und rechtswidrig. Gegen die fadenscheinige Begründung habe ich nichts unternommen, um nicht die mit Mühe zusammengezimmerte Regierung Modrow, in der Heusinger wieder Justizminister ist, in Schwierigkeiten zu bringen. Es sieht nun so aus, als ob der Justizminister von sich aus angeordnet hätte, alle zweifelhaften Fälle zu untersuchen und ich im Ergebnis dessen rehabilitiert wurde, aber es war meine eigene beharrliche Initiative.

Herr Dr. Berger, haben Sie herzlichen Dank für das der "Neuen Zeit" gewährte Interview. Gestatten Sie mir noch eine abschließende Frage: Wie hat Ihnen das Sonderkonzert für die Opfer stalinistischer Verfolgung am 5. Dezember im Schauspielhaus gefallen?

Es war sehr gut, ausgezeichnet sogar. Das habe ich auch dem hiesigen Pfarrer Manfred Arend von der Hoffnungskirche gesagt, den ich seit einigen Wochen kenne, der ganz großartig ist.

Die Fragen stellte
Dr. Dietrich Schulz

aus: Neue Zeit, Jahrgang 45, Ausgabe 293, 13.12.1989, Tageszeitung der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands

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