"Bleiben Sie bei uns"
Christa Wolf verlas im DDR-Fernsehen einen Appell von Künstlern und Oppositionsgruppen
DOKUMENTATION
"Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
wir alle sind tief beunruhigt. Wir sehen die Tausenden, die täglich unser Land verlassen. Wir wissen, dass eine verfehlte Politik bis in die letzten Tage hinein ihr Misstrauen in die Erneuerung dieses Gemeinwesens bestärkt hat. Wir sind uns der Ohnmacht der Worte gegenüber Massenbewegungen bewusst, aber wir haben kein anderes Mittel als unsere Worte. Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung. Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns!
Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen. Wir wollen einstehen für Demokratisierung, freie Wahlen, Rechtssicherheit und Freizügigkeit. Unübersehbar ist: Jahrzehnte alte Verkrustungen sind in Wochen aufgebrochen worden. Wir stehen erst am Anfang des grundlegenden Wandels in unserem Land.
Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, dass er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hier bleiben wollen, Vertrauen."
Unterschrieben haben die Erklärung für das "Neue Forum" Bärbel Bohley, für den "Demokratischen Aufbruch" Ehrhart Neubert, für die "Sozialdemokratische Partei" Uta Forstbauer, für "Demokratie Jetzt" Hans-Jürgen Fischbeck, für die Initiative "Frieden und Menschenrechte" Gerd Poppe sowie außer Christa Wolf noch Volker Braun, Ruth Berghaus, Christoph Hein, Stefan Heym, Kurt Masur und Ulrich Plenzdorf.
aus: Taz, 10.11.1989