Weltweiter Anwalt der Humanität amnesty international jetzt auch in der DDR / BZ-Gespräch mit MARTIN HOFFMANN, Mitinitiator
Zwei Buchstaben - ai. Sie stehen für die weltweit geachtete Menschenrechtsorganisation amnesty international. Nun formiert sie sich in der DDR. Am 31. Min findet in der Berliner Golgatha-Kirche um 11 Uhr die Gründungsveranstaltung statt. Einer der Initiatoren, "Anstifter", wie er sich selbst bezeichnet, ist der Grafiker Martin Hoffmann, schon seit 1981 in basisdemokratischen Gruppen für die Menschenrechte aktiv. Wir sprachen mit ihm.
BZ: Vor der Wende war amnesty international in der DDR offiziell verpönt, nicht zugelassen, totgeschwiegen. Man weiß hier zu wenig über die Organisation. Wie, wann und wo ist sie eigentlich entstanden?
M. Hoffmann: Sie können Ihre Zeitung an jedem x-beliebigen Tag der Woche aufschlagen und Sie werden in ihr einen Bericht über jemanden finden, der irgendwo in der Welt gefangengenommen, gefoltert oder hingerichtet wird, weil seine Ansichten oder seine Religion seiner Regierung nicht gefallen. Der Zeitungsleser empfindet eine ekelerregende Hilflosigkeit. Wenn jedoch diese Gefühle des Abscheus in der ganzen Welt in einer gemeinsamen Aktion vereint werden könnten, wäre es möglich, etwas Wirkungsvolles zu tun. Das ist der Satz, mit dem die Geschichte von amnesty begann. Er steht am Anfang eines Aufrufs, den der englische Rechtsanwalt Peter Benenson am 28. Mai 1961 veröffentlichte.
BZ: ai ist überparteilich - aber ist die Organisation unparteiisch?
M. Hoffmann: Radikal unparteiisch in dem Sinne, dass sie selbst in Konfliktfällen, wie etwa Bürgerkriegen, sagen wir in Peru, Menschenrechtsverletzungen der Regierung ebenso anprangert wie solche der Guerillas. Für das Opfer von Gewalt hingegen ist ai natürlich völlig parteiisch.
Bedingungslos gegen Todesstrafe und Folter
BZ: Parteiisch gegen Unmenschlichkeit, schlechte Haftbedingungen, Todesurteile ...
M. Hoffmann: Gegen jegliche Menschenrechtsverletzung. Sie haben z.B. solche Grausamkeiten wie das Verschwinden lassen oder staatliche Tötung bei Demonstrationen nicht erwähnt. Das Wesentliche ist, dass sich amnesty mit Ausnahme solcher Deklarationen, wie denen gegen die Todesstrafe oder gegen Folter, nie allgemein deklariert, ai ist immer konkret.
BZ: In welcher Weise, mit welchen Mitteln?
M. Hoffmann: Eine der schon vom Gründungsvater Benenson eingeführten Formen ist die Adoption. Ein konkreter Gefangener des Gewissens, von dem bekannt ist, dass er Gewalt weder angewendet noch befürwortet hat, wird von der internationalen Organisation einer Gruppe von amnesty zur Adoption übergeben. Sie untersucht den Fall, versucht, die Umstände der Inhaftierung herauszubekommen. Dann geht sie in die Öffentlichkeit, schreibt an Regierungsbehörden, nimmt Kontakt mit den Anwälten auf, unterstützt sie notfalls mit Geld, kämpft um die Freilassung des Gefangenen. Sie versucht, ihn zu besuchen, seiner Familie zu helfen.
Unabhängig von der erwähnten Gewaltfrage kämpft ai zugunsten aller politischen Gefangenen für faire Gerichtsverhandlungen, tritt bedingungslos gegen Todesstrafe und Folter ein.
BZ: Wie würden Sie den Namen amnesty international interpretieren?
M. Hoffmann: amnesty will besagen, dass eine konkrete Aktionsgruppe nur die ihr vom internationalen Sekretariat zugewiesenen Gefangenen adoptiert und keine anderen. Aber die Organisation heißt amnesty international, weil keiner Gruppe ein in ihrem eigenen Land inhaftierter Gefangener zugewiesen wird. Wer bei ai mitarbeitet, verpflichtet sich, für Gefangene in anderen Ländern einzutreten.
BZ: International, das heißt die Organisation existiert und arbeitet weltweit. Es bedeutet aber auch, fernab von engstirnigem Nationalismus. Wie kommt beides zum Ausdruck?
M. Hoffmann: amnesty international hat Sektionen in 62 Ländern. 700 000 Mitglieder, Förderer und Abonnenten in mehr als 150 Staaten unterstützen die Organisation. Auch in den Aktionsformen widerspiegelt sich der internationale, völkerverbindende Charakter. Es gibt z.B. das sogenannte regionale Aktionsnetz. Da geht es darum, dass sich Gruppen aus mehreren Ländern, vielleicht sogar aus aller Welt zu einer gemeinsamen Aktion zusammenschließen. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Sie nehmen untereinander Kontakt auf und untersuchen die Menschenrechtsproblematik in China.
Öffentlichkeit von großem Gewicht
In internationaler Zusammenarbeit werden bestimmte Gefangene von ai zu Gefangenen des Monats erklärt. Damit wird bezweckt, die betreffenden Regierungen oder Gefängnisverwaltungen mit einer Flut von Briefen aus aller Welt zu überschwemmen, um Freilassung oder ein ordentliches Gerichtsverfahren und menschenwürdige Haftbedingungen zu erwirken. Vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang auch die Eilaktionen erwähnen. Solche werden gestartet, sobald amnesty erfährt, dass ein Gefangener in unmittelbarer Gefahr ist. Das Ziel ist es, in dem betreffenden Land mit einer flächendeckenden Flut von Telegrammen deutlich zu machen, dass dieser spezielle Fall einer Folterung im Ausland bekanntgeworden ist.
BZ: Einer Broschüre entnehme ich, dass ai 1988 weltweit 4 640 politische Gefangene betreute. Lässt sich sagen, in wie vielen Fällen es Erfolge gab?
M. Hoffmann: Das ist schwer zu sagen, zumal es aus den Ländern nur selten Rückmeldungen gibt. Entscheidend an amnesty international ist ohnehin die Öffentlichkeit. Sie wissen aus der Erfahrung unseres Landes, dass repressive Regimes nichts mehr fürchten als Öffentlichkeit.
BZ: Gibt es Länder, die derzeit mit Menschenrechtsverletzungen besonders negativ in Erscheinung treten?
M. Hoffmann: Zu den Prinzipien von ai gehört es auch, keine Weltliste der Menschenrechtsverletzer zu führen. Der eine Fall eines Todesurteils und seiner Vollstreckung in Amerika ist genauso wichtig wie viele Tote in Südafrika. Offensichtliche Menschenrechtsverletzungen und mehr oder weniger ausgeprägte Demokratie stehen ohnehin nicht in direkter Beziehung zueinander. Es gelingt eben nach wie vor nicht, in den USA die Todesstrafe abzuschaffen. Nur ist da im Unterschied zum Iran jeder einzelne Fall einer Todesstrafe bekannt.
Asylproblematik als neues Arbeitsfeld
Auch in den westlichen Demokratien tun sich gegenwärtig ganz neue Probleme, wie die Asylproblematik, auf, denen sich amnesty stellen muss. Wenn ein Mensch in eines der reichen Länder kommt und sagt, er sei zu Hause bedroht und möchte politisches Asyl haben, dann muss er die Bedrohung nachweisen, was kaum machbar ist. Und wie ist denn das, wenn jemand vom Verhungern bedroht ist? Keine Regierung, kein Gericht hat da ein Todesurteil ausgesprochen. Sie sehen also, wie schwierig es ist, die Bestimmungen zur Aufnahme festzulegen. Auch die Entwicklung in Westdeutschland zeigt es, wo nationalistische Kreise immer wieder versuchen, das Asylrecht einzuschränken. Diese ganze Problematik wird gerade für uns in der DDR, wo es noch keine gesetzliche Asylregelung gibt, ganz wesentlich sein. Wir werden da an das neue Parlament herantreten. In der Asylproblematik überschneiden sich übrigens die internationale und die nationale Arbeit von amnesty. Da arbeitet ai im eigenen Lande, aber für Menschen, die aus einem anderen Land kommen.
BZ: Das Stichwort DDR ist gefallen. Wer kann hier Mitglied von ai werden, was wird von ihm erwartet?
M. Hoffmann: Jeder, der guten Willens und zur Mitarbeit in einem gegebenen Rahmen bereit ist, ganz unabhängig von seinen politischen oder anderweitigen Bindungen. Er muss die internationalen Satzungen von ai anerkennen und sich in der Regel einer lokalen Gruppe anschließen, wo sich vielfältige Betätigungsmöglichkeiten bieten. Er kann auch als Förderer die Organisation mit finanziellen oder materiellen Leistungen unterstützen.
Das Gespräch führte
Klaus Wilczynski
Kontaktadresse ai:
Frank M(...),
(...) Str. 21,
Berlin 1054
Berliner Zeitung, 24.03.1990