Tribüne sprach mit Hans Simon Pfarrer der Zionsgemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg

Über die Freiheit der Andersdenkenden und der anders Andersdenkenden

• Vor zwei Jahren, am 17. Januar 1988, kam es bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration zu einem aufsehenerregenden Zwischenfall: Eine ganze Anzahl von Leuten wurde am Demonstrieren gehindert, einige verhaftet und später verurteilt. Waren Sie unter den unliebsamen Demonstranten?

Nein, ich habe an dieser Demonstration nicht teilgenommen. Ich habe die ganze Sache aus einer anderen Position heraus miterlebt, nämlich als Pfarrer der Zionsgemeinde und im Zusammenhang mit der hier bestehenden Umweltbibliothek.

• Sie wissen aber, wie es zu dieser Aktion vor zwei Jahren gekommen war?

Teile der Gruppe "Frieden und Menschenrechte" hatten dazu aufgerufen. Einige der Leute waren - der Außenstehende würde sagen - "sehr weit links orientiert". Wolfgang Templin beispielsweise, vielleicht auch Bärbel Bohley. Diese Gruppe gab damals die Zeitung "Grenzfall" heraus. Eventuell können Sie sich erinnern, es kam zu einer spektakulären Durchsuchung der Umweltbibliothek, um den Druckort des "Grenzfall" zu finden. Aber wir wussten wirklich nicht, wo die Zeitung produziert wurde.

• Welche Wirkung hatte die Durchsuchung der Umweltbibliothek nun auf die Gruppe "Frieden und Menschenrechte"?

Diese unangenehme Situation hatte natürlich weite Kreise gezogen, und so wollte die Gruppe die Gelegenheit des Jahrestages der Ermordung Rosa Luxemburgs nutzen, um ihrem Unmut in der Öffentlichkeit Raum zu geben. Dabei war und ist diese Aktion nicht unumstritten. Es gab in der Gruppe "Frieden und Menschenrechte" eine sogenannte Gruppe "Gegenstimmen", die die Aktion zwar befürwortete, die Teilnahme daran aber nicht als Verpflichtung ansah.

Die Umweltbibliothek übrigens hatte damals einen Beschluss gefasst, als Gruppe an der Demo nicht teilzunehmen, weil sie Verdacht hatte, man würde bei dieser Aktion ins Messer laufen.

Ich denke, dass sich eine ganze Reihe Ausreisewilliger in die Aktion eingeklinkt hatte.

Insgesamt scheinen die Informationen über die Teilnahme an der Demonstration damals so durcheinandergegangen zu sein, dass alle möglichen Gruppen meinten, sich repräsentieren zu können. Wenn ich das alles in Abstand von zwei Jahren sehe, würde ich sagen, das war politisch sehr unklug.

• Aber war es nicht ein erstes Zeichen für eine Bewegung, die schließlich die Wende durchsetzte?

Sicherlich war es ein Versuch, aber man hatte damals einschätzen müssen, dass die Staatsmacht in Gestalt des Staatssicherheitsdienstes noch so etabliert und so stark war, dass es zu diesen fürchterlichen Sachen, diesen Raufereien, Verhaftungen und Verhören kommen würde. ich habe mit vielen gesprochen, die mir gesagt haben, wenn sie gewusst hatten, dass sich da alle möglichen Gruppen beteiligen würden, wären sie nicht zu dieser Sache gegangen.

• Bei dieser Demonstration trug Stefan Krawczyk das Plakat mit dem bekannten Luxemburg-Zitat: "Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden." Dahinter steht doch ein Programm . . .

Gerade bei Krawczyk war es die Spitze eines ganz bestimmten Verhaltens. Das, was dort auf dem Plakat stand, das Luxemburg-Zitat, hat er ja bei seinen Veranstaltungen schon monatelang, beinahe zwei Jahre lang, durchgezogen. Beide, Krawczyk und auch Freya Klier, wussten, welche Spannungen dadurch erzeugt wurden und dass es irgendwann zum Eklat kommen musste. Wenn Sie das Buch von Freya Klier "Kalenderblätter" lesen, da steht drin, dass sie ihn gewarnt hatte, zu dieser Demonstration zu gehen. Er hat vermutlich gemeint, dass bereits damals der Zeitpunkt da war, der erst im Oktober/November 1989 entstanden war. Das war eine Fehleinschätzung. Doch ein Signal war es, das ist ganz klar.

• Sie bringen ziemlich viel Distanz zu diesen politischen Kräften zum Ausdruck. Hat das damit zu tun, dass Sie meinen, diese gehören eigentlich nicht in den Rahmen der Kirche?

Ich denke, dass diese Liebknecht-Luxemburg-Demonstration damals eine Sache war, die mit Kirche überhaupt nichts zu tun hatte. Natürlich sind die Leute, die diese Aktion initiiert haben, aus Gruppen gekommen, die unter dem sogenannten Dach der Kirche waren. Sei das der "Friedrichsfelder Friedenskreis", einzelne Leute der Umweltbibliothek oder später auch der "Arche". Aber viele haben sich sehr distanziert zur Kirche verhalten. Krawczyk zum Beispiel. Einfach weil er gemerkt hat, dass mit der Kirche als Institution schwer etwas zu machen ist. Denn eine Institution hat zunächst das Interesse der Selbsterhaltung. Wie problematisch das ist, zeigte sich beispielsweise bei der Durchsuchung der Umweltbibliothek. Insofern waren alle ein wenig froh, dass die Dinge, wie sie bei der Demonstration politisch abliefen, völlig außerhalb der Kirche geschahen.

• Zurück zu dem Luxemburg-Zitat auf dem Krawczyk-Plakat. Hat sich dieser Spruch heute, nach den Ereignissen vom Herbst '89, durchgesetzt?

Sie fragen genauso wie einer vom "Spiegel", der nach solchen Weisheiten fragt. Nein, aber im Ernst: Ich denke, dass dieser Spruch eine utopische Aussage ist. Utopie hier als Hoffnung verstanden, nicht als Spinnerei. Eine Hoffnung, die wichtig ist, der wir ständig hinterherjagen. Wenn ich mir einfach mal die Programme angucke, sei es von der SDP oder vom Neuen Forum, von "Demokratie jetzt" oder vom "Demokratischen Aufbruch", werde ich noch kritischer, was die Durchsetzung dieses Luxemburg-Zitats betrifft. Bei manchen Reden auf der Kundgebung im Treptower Park, zu der die SED-PDS aufgerufen hatte, ist mir schlecht geworden, weil ich diesen Jargon, diese undifferenzierten Zitate kenne. Was sind das für Kräfte, die das Reden vom Antifaschismus benutzen, um sich selbst wieder zu stabilisieren? Diesen Verdacht habe ich.

• Nun hat dieses Luxemburg-Zitat auch noch eine Kehrseite. Wie groß beispielsweise ist die Freiheit Andersdenkender, wenn sie faschistischer Ideen nachhängen?

Bei Faschisten oder Leuten, die aus der ganz rechten Ecke kommen, ist für mich die Toleranzgrenze erreicht. Das hat mit einem langen Erfahrungsprozess zu tun. Ich war zehn Jahre, als der Krieg zu Ende war. Es hängt auch mit meinem Elternhaus, mit meiner Erziehung zusammen. Ich habe diesen Skinhead-ÜberfalI auf die Zionskirche miterlebt und weiß, was da vor sich gegangen ist. Wenn man meint, mit der Freiheit des anderen die Freiheit rechter Kräfte oder faschistischer Kräfte zu tolerieren, ist das für mich eine ganz formalistische Freiheitsauffassung, die ich für gefährlich halte und mit der wir nicht umgehen sollten.

• Noch eine andere Seite des Zitats drängt sich auf. Jetzt, wo sich neue Gruppierungen durchgesetzt haben, zeigt sich, dass nun die Genossen der SED-PDS sich in der Öffentlichkeit kaum noch anders artikulieren können und niedergeschrien werden . . .

Dieses Niederschreien von Genossen halte ich für sehr schlimm, es sei denn, sie können nicht glaubwürdig durchsichtig machen, dass sie etwas anderes wollen als das, was bisher unter dem Namen SED geschehen ist. Ich denke, dass die neuen Gruppen wirklich die Toleranzfähigkeit aufbringen müssen, um mit den neuen SED-Genossen ins Gespräch zu kommen. Wenn sie das nicht tun, werden neue Machtstrukturen entwickelt, die ebenfalls gefährlich sind.

• Woher kommt dieser Mangel an Toleranzfähigkeit?

Wir haben doch Toleranz nie gelernt. Es hat nach 1945 nicht das gegeben, was man lange Zeit gelesen hat: die Stunde Null. Davor hatten war einen totalitären Staat - den Nationalsozialismus. Dann, in den Übergangsjahren 1947/48, als ich als Schüler im FDJ-Hemd Wahlschlepper machen musste, haben mich die Älteren beinahe die Treppe hinunter geschmissen und gesagt: "Bleibt uns vorn Leibe mit euren Uniformen, das haben wir gerade erst erlebt."

Ich will sagen: Die Freiheit des anderen zu tolerieren, der vielleicht eine Gegenposition einnimmt, die möglicherweise auch sozial ist, aber anders strukturiert ist als meine Position - das haben wir nie geübt. Bis jetzt. Und jetzt verlangt man - und das ist eine Überforderung -, dass wir es gleich können. Dennoch muss man immer wieder darauf aufmerksam machen, Toleranz zu üben. Positionen anderer zu ertragen.

• Gegenwärtig spitzt sich die Situation jedoch immer weiter zu . . .

Ja, ich beobachte zur Zeit eine Zunahme der Rachegedanken - und das ist gefährlich. Da ruft mich eine Bekannte aus Gera an und fragt, ob die RIAS-Meldung, dass die Kirche dem Honecker eine Wohnung besorgt habe, wahr sei. Nichts ist davon wahr. Dennoch müssen wir daran denken, diese Leute sind auch Menschen.

Ein Bekannter von mir sitzt in Untersuchungshaft. Mögen die Anschuldigungen stimmen oder nicht - der Mensch ist nervlich, psychisch und physisch am Ende. Er braucht seelischen Beistand. Das hat nichts mit Identifikation, sondern mit mit Menschlichkeit zu tut. Ich merke, dass viele Menschen sich an den Kopf greifen und sich fragen, warum bemüht sich die Kirche darum. Es geht doch aber darum, dass man einen, auch wenn er Schuld auf sich geladen hat, weiter als Menschen betrachtet.

• Wie vermitteln Sie Ihre Einstellung zur Toleranz?

Das ist sehr schwierig. Unser Vikar und ich hatten beispielsweise die Idee zu einer Art politischem Abendgebet - hier ist das Wort Gebet gewiss etwas problematisch -, bei dem wir über Toleranz und ähnliches sprechen wollen. Und wir erleben – das interessiert keinen. Vor einem Vierteljahr waren die Kirchen voll, jetzt sind viele unterwegs, rasen nach dem Westen. Irgend jemand hat gesagt: Die Öffnung der Grenze war die letzte Rache der alten Herren. Da ist ja was dran.

• Kann es nicht einfach auch sein, dass seinerzeit die meisten nicht aus religiösen Gründen, sondern aus Opposition zur Kirche gefunden haben? Fühlen Sie sich da vielleicht missbraucht?

Wissen Sie, für mich gibt es diese Teilung zwischen Politischem und Religiösem eigentlich nicht. Da meine ich, viel von Bonhoeffer gelernt zu haben. Es gibt keinen christlichen Glauben, der nicht auch politisch eingebunden ist. Ich habe darum das Gerede von der Trennung von Staat und Kirche zwar juristisch, aber nie politisch mitmachen können. Warum sollten wir oder Bischof Tutu gegen die Apartheid in Südafrika predigen können, und das mit staatlichem Beifall, nicht aber gegen Missstände im eigenen Land?

Ich wusste, dass die Leute nicht her kamen, weil ich was über den Iieben Gott oder den Herrn Jesus gesagt habe, sondern weil das, was ich Evangelium nenne, etwas zu tun hat mit ihrem politischen Leben.

• Pfarrer Zimmermann aus Leipzig hat kürzlich auf den Vorwurf, die SED habe so viele Verbrechen begangen, sie müsse weg, entgegnet, dass die Kirche 1 500 Jahre lang Terror verübt habe, aber dass sie dennoch sich gewandelt habe und immer noch bestehe.

Ich wurde das auch so sagen, doch ich merke, dafür finde ich zur Zeit kein Gehör. Es kommt mir eine Aggressivität entgegen, die kaum zu Bremsen ist. Dabei habe ich einen interessanten Eindruck gewonnen. Ein großer Teil der Leute, die heute nach Rache rufen, waren Menschen, die vorher in den Nischen waren. Sie laufen heute in die große Nische des nationalen Denkens, rufen nach Einheit.

• Wie können wir Toleranz lernen?

Sehen Sie, ich finde es sehr schade, dass man die Wahlen, die wir durchführen wollen, in solch kurzer Zeit fertigbringen will. Es hätte ein längerer Prozess dazu gehört, vielleicht ein Jahr, um sich aufeinander einzuspielen, mehr zu lernen, einander anzuhören. Jetzt kommen diese Gruppen und Parteien alle unter einen unwahrscheinlichen Druck.

Ich kann die Angst der Leute auch verstehen, die da sagen: Eigentlich ist die Regierung Modrow nicht legitimiert. Wobei man sich darüber streiten könnte, was eigentlich Legitimation heißt. Eppelmann ging ja so weit - das war für mich völlig unsinnig -‚ dass er noch Anfang Dezember meinte, diese Regierung Modrow solle doch abtreten. Das heißt, die Situation wäre noch desolater geworden, das Loch, in das alle hineingefallen wären, noch größer. Es ist doch keiner da, der das alles ökonomisch, kulturell und was weiß ich noch alles hätte übernehmen können.

Darum sehe ich wirklich die Möglichkeit, Toleranz zu üben, darin, immer wieder zu appellieren, sich zusammenzunehmen und aufeinander zu hören. Das ist übrigens auch meine Funktion als Pastor Es geht nicht um powern, immer wieder powern, sondern darum, die Bedürfnisse anderer zu achten.

Das Gespräch führten
Petra Krebs und Dieter Fuchs

Hans Simon, 1935 geboren, wurde im Frühjahr 1953 unter der Beschuldigung der Agententätigkeit von der Oberschule gewiesen. In einer kirchlichen Schule in Potsdam-Hermannswerder legte er dann 1957 das Abitur ab, um anschließend Theologie zu studieren. Da er an der Humboldt-Universität keinen Studienplatz erhielt, besuchte er von 1957 bis 1961 die Kirchliche Hochschule in Westberlin. Danach Einsatz in GöIlingen am Kyffhäuser. Von 1973 bis 1984 Pfarrstelle in Brielow bei Brandenburg. Seitdem ist Hans Simon Pfarrer der Zionsgemeinde.

Tribüne, Fr. 12.01.1990


[Am 17.10.1987 überfielen Nazi-Skins Besucher eines Konzerts der Gruppen "Die Firma" und "Element of Crime" in der Zionskirche.

In der Nacht vom 24.11. zum 25.11.1987 lief die "Aktion Falle" des MfS an. Beabsichtigt war Drucker der Initiative Frieden und Menschenrechte in der Umweltbibliothek (UB) beim Druck der Zeitschrift "Grenzfall" zu überraschen und dadurch auch die UB als Ort an dem illegale Druckerzeugnisse erstellt werden für die Kirche unhaltbar zu machen. Gedruckt wurden zu diesem Zeitpunkt aber die "Umweltblätter" der UB.

Die versuchte Beteiligung mit eigenen Losungen an Liebknecht-Luxemburg-Demonstration fand am 17.01.1988 in Berlin statt.

Die Gruppe "Gegenstimmen" war keine Gruppe in der Gruppe "Initiative Frieden und Menschenrechte", sondern eine eigenständige Gruppe.]

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