Welche ökonomischen Sofortmaßnahmen können bzw. sollten getroffen werden?

1. Die ökonomische Krise, in der sich unser Land momentan befindet, ist über Jahre gewachsen. Der unmittelbare Auslöser der jetzigen Veränderungen waren jedoch politische Ereignisse wie die mit den Wahlen verbundenen, die Ausreisewelle usw.

Aus dieser Konstellation folgt, dass

- kaum materieller und finanzieller Spielraum für Verbesserungen der individuellen und gesellschaftlichen Konsumtion vorhanden ist (trotzdem muss speziell über erstere nachgedacht werden),

- politischen Maßnahmen mit Reformcharakter folglich eine hohe Bedeutung, ja Priorität bei der Lösung der angestauten Probleme zukommt.

Der Dreh- und Angelpunkt für eine grundlegende Konsolidierung unseres Gesellschaftssystems liegt in der Wiedergewinnung ökonomischer Effektivität und Dynamik. Dazu ist eine tief greifende Wirtschaftsreform einschließlich der sozialen und politischen Strukturen notwendig, wobei - wie gesagt - letzteren eine gewisse Priorität zukommt als Demonstration des Reformwillens sowie der Vorbereitung der Reform des ökonomischen Systems.

Die konkrete Situation, die u.a. durch die latente Neigung zu Arbeitsverweigerungen gekennzeichnet ist, erfordert darüber hinaus wirtschaftspolitische und ökonomische Sofortmaßnahmen.

2. Die Voraussetzung für alle zukünftig zu treffenden politischen und ökonomischen Maßnahmen muss die weitestgehende Offenlegung aller ökonomischen Daten und Sachverhalte sein - soweit dem nicht grundsätzliche nationale Interessen entgegenstehen; und das auf zentraler und betrieblicher Ebene.

Im Mittelpunkt der Sofortmaßnahmen müsste m. E. die Überwindung der Engpässe auf dem Konsumgütermarkt stehen - und das aus zwei Gründen:

- Erstens greift nur so das dringend durchzusetzende Leistungsprinzip, und

- zweitens darf es unter keinen Umständen zu einer Verunsicherung der Käufer kommen, die sich in einem "Leerfegen" des Binnenmarktes äußerte. Deshalb sollten auch alle Maßnahmen für eine Verbesserung der Geldwertstabilität im Bevölkerungsbereich äußerst sorgfältig auf ihre momentane Wirkung hin untersucht werden.

Die einzige echte Reserve wäre hier die Drosselung der ohnehin nicht sehr devisenträchtigen Konsumgüterexporte ins NSW; einhergehen müsste diese Maßnahme höchstwahrscheinlich aufgrund unserer angespannten Devisenlage mit einem befristeten Moratorium. Die These "Liquidität geht vor Rentabilität" muss überwunden werden.

3. Trotz der Zurückhaltung bei Fragen, die den Geldwert berühren, sollte zumindestens mittelfristig über Einführung von Staatsobligationen nachgedacht werden. Möglicherweise ließe sich da an Erfahrungen aus der Wohnungsbaufinanzierung über Obligationen (bis 1970) anknüpfen.

4. Die objektiv notwendige Wirtschaftsreform sollte jetzt schon deutlich angekündigt werden, obwohl sie natürlich noch mittelfristiger Vorbereitungen bedarf. Einhergehen müsste diese Ankündigung mit konkreten, sofortigen politischen Verbesserungen und Veränderungen, um so generell ein Vertrauensklima um die zukünftige Wirtschaftsreform zu schaffen. - Dieser Vertrauensvorschuss könnte möglicherweise die "Hamster"-Mentalität eigentlich aller Produzenten wenn nicht durchbrechen, so doch vielleicht abmildern. Denn es muss wohl davon ausgegangen werden, dass in der Volkswirtschaft erhebliche Reserven an Material, Rohstoffen und anderen Produktionskomponenten lagern, die unbedingt mobilisiert werden müssen.

5. Die schnelle Zulassung von Handwerks- und Kleingewerbebetrieben wäre ein weiterer Schritt, um mit baldiger Wirkung weitere Engpässe bei "kleinen", aber in ihrer Massenhaftigkeit wichtigen Zulieferungen zu beseitigen.

Auch die halbstaatliche Form sollte nochmals auf ihre ökonomische Effizienz hin überprüft werden.

6. Zur besseren ökonomischen Transparenz in Verbindung mit der Durchsetzung des Leistungsprinzips sollten die Löhne als Nettolöhne gezahlt werden.

Mittelfristig wäre das auch eine Maßnahme, um die Wirtschaftsadministration in der Zentrale und in den Betrieben zu verkleinern.

7. Eine verbesserte Arbeitszeitauslastung wäre gegenwärtig vor allem über eine Erhöhung der Arbeitsdisziplin möglich. Dabei sollte auch über den Einsatz von als "überwunden" geltender Mittel wie der Stechuhr nachgedacht werden.

8. Eine Zurückführung der Neuererbewegung auf ihren ursprünglichen Sinn und ohne unsinnige Auflagen ließe sich ebenfalls sehr schnell mit einem Gewinn an Glaubwürdigkeit realisieren.

9. Die Vereinfachung bzw. Reduktion der Abrechnungen von Betrieben und Kombinaten gegenüber der Zentrale, die Einschränkung des statistischen Unwesens zielte in die gleiche Richtung. Auch das sog. Rapportsystem in der Wirtschaft müsste gründlich auf seine Wirksamkeit hin bewertet werden.

10. In den Betrieben und Kombinaten muss das Verhältnis von staatlicher Leitung, Partei und gesellschaftlichen Organisationen und Gremien ebenso überdacht werden wie an der "Spitze". Diese Überlegungen müssen jetzt in der betrieblichen Öffentlichkeit beginnen - wo das noch nicht geschehen ist - bzw. intensiviert werden. Im Zusammenhang damit sollten Leitungen von Betrieben und Kombinaten stabilisiert werden - kommissarische Leitungen abgeschafft werden.

11. Alle Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches sollten genutzt werden - die internationale Ebene sollte dabei eine stärkere Rolle als bisher spielen. Namentlich betriebswirtschaftliche Kenntnisse sind dabei gefragt, auch die westlicher Firmen.

12. Zentrale und betriebliche Qualifizierungsmaßnahmen sollten auf ihre ökonomische bzw. gesellschaftliche Effizienz hin überprüft werden. Damit soll nicht einer flachen pragmatischen und möglichst sofortigen "Umsetzbarkeit" das Wort geredet werden. Vielmehr geht es darum, heute schon überholte Formen und Inhalte abzuschaffen - also durchaus einiges nicht mehr "stattfinden zu lassen" und möglichst schnell die Herangehensweise an die Bildungsinhalte an den neuen Anforderungen auszurichten - d. h. die Zusammenhänge im Wissen, die Komplexität im Wissen herauszustellen.

13. Bei Industriewaren mit Saisoncharakter bzw. schnellen modischen Veränderungen sollten sog. Schlussverkäufe wesentlich häufiger vom Handel organisiert werden. Bei schnell verderblichen Waren muss eine entsprechende Preisflexibilität mit der Möglichkeit der täglichen Reduktion durch den Einzelhandel gegeben sein.

14. Ganz konsequent muss ab sofort die Umweltgesetzgebung durchgesetzt werden. Verstöße dagegen müssen das gesetzliche Maximum an Sanktionen nach sich ziehen.

15. Gezielt müssen schnellstmöglich die "Felder" gesucht werden, die eine gezielte "Vermarktung" zulassen - möglichst in Devisen.

Es bieten sich an:

- der (Leistungs)sport,

- die breit verstandene Kunst und Kultur.

Mit den Verantwortlichen dieser "Felder" wäre schnell über konkrete Maßnahmen zu beraten.

Stefan W(...)

26.10.1989

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