Humboldt-Universität zu Berlin
Sektion Marxistisch-leninistische Philosophie Forschungsprojekt "Philosophische Fragen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus"
8. Oktober 1989
Diskussionsmaterial
Hauptautoren André Brié, Michael Brié, Wilfried Ette
Zur gegenwärtigen Lage der DDR und Konsequenzen für die Gestaltung der Politik der SED
Die vorliegenden Thesen haben das Ziel, ausgehend von Ergebnissen, die im Rahmen des Forschungsprojekts "Philosophische Fragen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus" und einer Reihe von Diskussionen gewonnen wurden, Anregungen für die Ausarbeitung einer fundierten und realistischen Einschätzung der gegenwärtigen Lage der DDR und daraus zu ziehenden möglichen Konsequenzen für die Gestaltung der Politik der SED zu geben. Nur wenn unsere Partei sich an die Spitze der unaufschiebbar gewordenen Erneuerung stellt, kann der sozialistische Charakter unserer gesellschaftlichen Entwicklung gewahrt und ausgebaut sowie das Erreichte gesichert werden. Die Vorlage der Thesen geschieht aus der Verantwortung heraus, die die Gesellschaftswissenschaften im Auftrage der SED auch für die Politikberatung besitzen.
I. Hauptthesen
1. These:
Die grundlegenden und komplizierten, teilweise offen krisenhaften Reformprozesse in einer Reihe europäischer sozialistischer Länder, tief greifende Entwicklungsprobleme aller sozialistischer Länder, insbesondere beim Tempo, der Breite und Qualität des wissenschaftlich-technischen Fortschritt, dem Übergang zur intensiv erweiterten Reproduktion sowie bei der Sicherung sozialen Fortschritts unter diesen Bedingungen und der Gewährleistung der politischen Stabilität werden gegenwärtig von den imperialistischen Staaten, insbesondere von der USA und der BRD, für eine aggressive, die internationale Situation destabilisierende Strategie der "Öffnung" der sozialistischen Länder für kapitalistische Orientierungen genutzt.
Konfrontative Kräfte gewinnen in der Politik an Boden. Angesichts dieser Strategie kommt der Erneuerung des sozialistischen Entwicklungsweges gerade in der DDR wie aber auch in allen anderen sozialistischen Ländern eine fundamentale Bedeutung zu.
2. These:
Diese Erneuerung des sozialistischen Entwicklungsweges schließt
1. die konsequente Durchsetzung und weitere Festigung solcher grundlegenden Entwicklungsbedingungen wie führende Rolle der Partei, sozialistisches ausbeutungsfreies Volkseigentum, staatliche Planung und eine auf die Durchsetzung von Gerechtigkeit und Fähigkeitsentwicklung orientierte Sozialpolitik ein.
2. verlangt sie die Bewahrung von Errungenschaften der ökonomischen, sozialen, politischen und geistigen Entwicklung in der DDR sowie
3. einen qualitativen Wechsel der Formen der Verwirklichung der sozialistischen, sich selbst ändernden Ziele unter den neuen Bedingungen. Das Erreichte kann nur durch qualitativen Wandel erhalten werden. Ein Land wie die DDR, das viel erreicht hat, muss sich diesen Veränderungen mit souveräner Selbstverständlichkeit zu stellen suchen.
3. These:
Die DDR befindet sich ökonomisch, sozial, politisch und ideologisch in einer latenten Krisensituation. In allen gesellschaftlichen Bereichen haben sich gravierende und tiefgehende Probleme angehäuft, deren Lösung durch die bisherigen Wege unmöglich ist. Das Tempo der Problemanhäufung und -zuspitzung ist wesentlich größer geworden, als die in den letzten Jahrzehnten nachgewiesene Potenz, diese Probleme innerhalb der jetzigen ökonomischen, sozialen, politischen und geistigen Formen der Verwirklichung des sozialistischen Eigentums und der politischen Macht der Werktätigen zu lösen.
Trotz beachtlicher wissenschaftlich-technischer, ökonomischer und sozialer Erfolge konnten grundlegende Zielstellungen des XI. Parteitages der SED nicht realisiert werden. Die in diesen Jahren entstandenen Erscheinungen massenhafter Unzufriedenheit und Frustration haben eine gefährliche Eigendynamik gewonnen. Es ist abzusehen, dass es in den nächsten zwei bis drei Jahren mit der Verschmelzung der ungelösten Probleme in den jeweiligen gesellschaftlichen Teilbereichen zu einer Krise des gesamten Reproduktionsmechanismus kommen wird. Eine Politik der partiellen Reformen, durch die neue Inhalte und Formen in eine grundsätzlich unveränderte Grundstruktur der ökonomischen, sozialen, politischen und geistigen Reproduktion implementiert wurden, hat sich endgültig erschöpft. Es sind keine bedeutenden Erfolge auf diesem Wege mehr zu erwarten.
4. These:
Die tendenziell krisenhafte Zuspitzung voller Probleme und die Gefahr ihrer explosiven Überlagerung wie aber auch die Schwierigkeiten ihrer progressiven Bewältigung haben in der wachsenden Ohnmacht der Individuen gegenüber den geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen den zentralen Punkt. Die Vergesellschaftung hat fast ausschließlich Formen der Verstaatlichung angenommen. Vor- und Fürsorge für bestimmte, staatlich festgelegte Bedürfnisse der Menschen einerseits und andererseits Anwendung repressiver Maßnahmen dort, wo auf Veränderung wesentlicher gesellschaftlicher Strukturen gedrängt wird, bedingen einander. Für ein auf eigener Einsicht gegründetes Handeln, für eigene Verantwortung und Risikobereitschaft, als Grundwerte heutiger Generationen bleibt nur wenig Raum. Es dominiert die Erfüllung von administrativ vorgesetzten Inhalten. Indem die Massen von der Bestimmung der Politik nahezu ausgeschlossen sind, finden die ihre Interessen dort weder formuliert noch repräsentiert bzw. erfahren sie die eigenen Interessen nur als fremdformulierte und -repräsentierte. Die politische Programmatik, Strategie und Taktik bleibt hinter den sich wandelnden Erwartungen der Massen immer weiter zurück. Dadurch verschaffen sich diese Interessen immer häufiger in kontraproduktiver Weise Geltung, was allzu oft nur zum Re-Agieren Raum lässt und die Reproduktionsfähigkeit des Systems gefährdet. Erfahrene Bevormundung und Schönfärberei treiben in lethargische Passivität, kompensierende private Aktivität, zu verzweifelten Aktionismus oder außer Landes. In der jetzigen Durchsetzungsform verkehren sich durchaus richtige soziale Zielstellungen und politische Absichten gerade in den Augen breiter Massen oftmals in ihr Gegenteil. Selbst auf Gebieten, die noch in den achtziger Jahren das Ansehen der DDR und der Parteiführung wesentlich gestärkt hatten (unter anderem Aktivierung der Dialogpolitik trotz sich verschlechternder Beziehung zwischen der UdSSR und der USA und eine langfristig ausgerichtete Kirchenpolitik), konnten erreichte Positionen kaum mehr gehalten werden.
5. These:
Globale Probleme, Systemwettstreit und die sich daraus ergebende Notwendigkeit von Kooperation stellen prinzipiell neue Anforderungen an den Sozialismus gerade in der DDR. Bezogen auf diese Fragen stellen trotz bedeutender historischer Errungenschaften, die mit der antifaschistischen Tradition der DDR, ihrer auf Frieden orientierten Außenpolitik und anderem verbunden sind, die zur Zeit praktizierten gesellschaftlichen Reproduktionsformen in vieler Hinsicht keine gegenüber einem seit 1945 wesentlich veränderten Kapitalismus überlegene Entwicklungsweise von Ökonomie, Ökologie, Politik, Wissenschaft, Lebensweise und Kultur dar. Sie werden als solche heute auch weder durch die große Mehrheit der eigenen Bevölkerung noch durch breitere Schichten in den entwickelten westlichen Ländern angesehen. Die Inhalte und Formen sozialistischer Entwicklung müssen unter diesen Gesichtspunkt grundsätzlich neu bestimmt werden. Die Fähigkeit und Bereitschaft der DDR zur aktiven Teilnahme an Globalisierungs- und Europäisierungsprozessen, insbesondere am KSZE-Prozess, stellen gleichzeitig einen äußerst wichtigen Bestandteil des innenpolitischen Konsens in der DDR dar.
6. These:
Die DDR ist als DER ANDERE DEUTSCHE STAAT entstanden. Seine Funktion im politischen Kräfteverhältnis in Europa - die Begrenzung der Expansionsfähigkeit des Imperialismus der BRD, die Verhinderung der Herausbildung einer erneuten regionalen Übermacht "Deutschland" im Herzen Europas - war und ist mit dem Zwang und der großen Herausforderung verbunden, einen ANDEREN DEUTSCHEN WEG zu gehen. Für die DDR ist eine glaubhafte, die Massen ergreifende sozialistische Entwicklungsweise buchstäblich die Existenzbedingung. Da absehbar ist, dass die bisherigen militärpolitischen Blöcke aus verschiedenen Gründen ihre Wirkungsfähigkeit einschränken werden, ist das Bestehen der DDR mehr denn je davon abhängig, wie es ihr gelingt, eigenständige und in hohem Maße ausstrahlungsfähige Entwicklungsstrategien in eine Kooperation europäischer Staaten einzubringen, die ausgehend von den besten europäischen Traditionen dem friedlichen Zusammenleben, der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit, den Freiheits- und Entwicklungsrechten der Individuen verpflichtet sind. Es bedarf souverän praktizierter Offenheit, die in der Souveränität der Bürger gegenüber ihrem eigenen Staat ihre Grundlage hat. Wird ein solcher Weg nicht erfolgreich gegangen, so kann langfristig eine Vereinnahmung der DDR durch die BRD im Rahmen neuer internationaler Regelungen nicht ausgeschlossen werden. Ohne eine neue und durch die Massen selbst erkämpfte Identität kann keine weltoffene Politik durchgesetzt werden. Umgekehrt kann nur eine Erneuerung und Weiterentwicklung des sozialistischen deutschen Weges zur Schaffung von Bedingungen beitragen, in der BRD und Westeuropa insgesamt demokratische Entwicklungswege dauerhaft durchzusetzen.
7. These:
Sicherheit, Handlungsspielraum und Entwicklung der DDR hängen in stärkerem Maße als bei jedem anderen europäischen Land von ihrer internationalen Situation ab. In der ersten Hälfte der 80er Jahre haben die Dialogfähigkeit der DDR ihr internationales Ansehen und ihre Handlungsfähigkeit spürbar erhöht. Diese Möglichkeiten und Erfordernisse werden durch die infolge der inneren Probleme nachlassende Kooperationsfähigkeit gefährdet. Auf das in Ost- und Westeuropa bestehende starke Interesse an der Existenz eines zweiten deutschen Staates wird nur Verlass sein, wenn die DDR stabil und dynamisch ist. Gleichzeitig wird die gesamte zu erwartende internationale Entwicklungstendenz gebieterisch wachsende Kooperations- und Dialogfähigkeit sowie Öffnung (weit über bisherige Maßstäbe hinaus) auf den verschiedensten Gebieten verlangen. Das betrifft die bereits sichtbare bzw. zu erwartende Politik der sozialistischen Bündnispartner, die absehbare weitere Ausgestaltung des KSZE-Prozesses, darunter im humanitären Bereich, die Erfordernisse internationaler Arbeitsteilung (eine noch wesentlich ausgedehntere und effektivere Teilnahme an der Weltwirtschaft) und die Teilnahme an der Lösung der globalen Probleme. Die Globalisierung der Existenz- und Reproduktionsbedingungen sowie die veränderte internationale Politik der UdSSR werden den Charakter der internationalen Beziehungen mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Situation der DDR wesentlich ändern (europäisches Haus, Haltung zu den Integrationsprozessen in Westeuropa, einheitlicher europäischer Rechtsraum, radikale Abrüstungsprozesse mit einer veränderten militärischen und politischen Situation in Zentraleuropa, kooperative Sicherheit usw.). Die einzige Alternative zur Öffnung - Abschottung, Autarkie, Isolierung der DDR - ist gleichermaßen existenzbedrohend wie unrealisierbar. Sie würde auch durch die Bevölkerung der DDR massiv abgelehnt werden. Die Probleme umfassender und weitreichender Öffnung sind groß, stellen zum Teil auch ein Dilemma dar (massenhafte Ausreisen würden bei einem Beginn von Reformen in der DDR nicht unmittelbar aufhören). Es kann jedoch nicht die Frage gestellt werden, ob und wie die Öffnung auf politischem, ökonomischem und humanitärem Gebiet vermieden werden, sondern nur, wie sie die DDR ohne Destabilisierung und einseitige Abhängigkeiten vom Westen bewältigen kann. Diese Frage lässt sich primär nur mit einer demokratischen Erneuerung und prinzipiellen Weiterentwicklung des Sozialismus beantworten.
8. These:
Die mittelfristige Gefahr einer gesellschaftlichen Krise war auch schon Mitte der 80er Jahre sichtbar, nachdem trotz anfänglicher Teilerfolge die Ende der 70er Jahre eingeleiteten ökonomischen und sozialen Maßnahmen nicht dauerhaft gemacht werden konnten. Die damals vorhandene Erwartung einer spezifisch sozialistischen Veränderung bei breiteren Teilen der Bevölkerung (gestützt durch die Veränderungen in der UdSSR) wurden enttäuscht, und verlor sich seit Ende 1987 gegenüber der Auffassung, dass "nichts mehr zu erwarten sei". Die Kluft zwischen allgemeiner Klarheit der Nöte (siehe weiter unten) und ihrer längeren Außerachtlassung in der offiziellen Parteipolitik und deren Dokumenten ist immer weiter gewachsen, hat Erwartungen in Enttäuschungen, Enttäuschungen in Ablehnung verwandelt. Es bildete sich Hass. Relativ kleine Anlässe haben in den letzten zwei Jahren zu irreversiblen Prozessen des Vertrauensverlustes gegenüber der Politik der Regierung, der SED, der DDR und dem Sozialismus insgesamt geführt. (Reaktionen auf die Störung der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, Versuch der Begrenzung des Geldumtausches bei Reisen in die ČSSR, Sputnik-Verbot, offizielle Politik im Zusammenhang mit der Ausreise von DDR-Bürgern über Ungarn und die ČSSR in die BRD und anderes) In immer heftigeren Wellen entsteht massenhaft und beschleunigt ein Dissens, der immer breitere Schichten erfasst, und sie sprunghaft gegen das gesellschaftliche System in der DDR führen kann. Noch gibt es ein beträchtliches Potential von Bürgern, die ehrlich an einer sozialistischen Alternative zur BRD interessiert sind und bereit wären, sich für eine solche aktiv einzusetzen. Die Fortsetzung der jetzigen Politik unserer Partei führt aber zwangsläufig dazu, dass beschleunigt jene politischen und massenpsychologischen Voraussetzungen entstehen, die es den imperialistischen Kreisen in der BRD ermöglichen, massenhafte Unzufriedenheit, Veränderungswillen, Formen des zivilen Widerstandes zu manipulieren und einer politischen Krise konterrevolutionäre Ausrichtung zu verleihen. Wir stehen unmittelbar vor einer offenen politischen Krise.
9. These:
In den letzten Wochen ist in zweierlei Hinsicht real eine grundsätzlich neue Situation entstanden.
1.: Erstmalig seit 1961 sind die Grenzen der DDR für ihre Bürger faktisch zum Verlassen des Landes offen. Dies ist politisch unumkehrbar. Eine politische Hauptfunktion der Grenzsicherung nach Westen - Verhinderung des Abwanderns von Menschen - ist beseitigt. Legale Ausreise bzw. jetzt die Öffnung in Ungarn haben gegen den offiziellen Widerstand diese neue Lage geschaffen. Sie ist nicht das Resultat des Agierens der SED, das die Grenzsicherung in dieser Weise überflüssig gemacht hätte. Die Öffnung der Grenzen erfolgte gegen den Staat. Seine Ohnmacht in dieser Frage und seine defensive Haltung ist offensichtlich. Von dem persönlichen Leid, das ein solches Auswandern in den Familien erzeugt, muss auch gesprochen werden.
2.: Die mit Hilfe von Westmedien öffentlich gemachte Opposition und die von Kirchenkreisen artikulierten Positionen spiegeln faktisch durchgängig allgemeine Forderungen breitester Kreise in- und außerhalb der Partei wider. Sie können auf einem sehr stabilen Konsens aufbauen, der seit langen Jahren bekannt ist. Sie haben eine Massenbasis, die sich jetzt auch in größeren Demonstrationen zeigt, aber weit über diesen Kreis hinausgeht. Bisherige Verlautbarungen von führenden Vertretern der SED, die zumeist völlig an der massenhaften Erwartung nach Veränderung vorbeigehen, verstärken eine sowieso schon geschürte Einstellung, dass mit dieser Führung und dieser Partei die Erwartungen nicht verwirklicht werden können. Ein Sofortprogramm muss konstruktiv Forderungen in eine veränderte Politik, in einen neuen Kurs aufnehmen, die mit dem Sozialismus prinzipiell zu vereinbaren sind. Das ist für die Existenz und Weiterentwicklung des Sozialismus unabdingbar und erforderlich, um die unverzichtbare führende Rolle unserer Partei konstruktiv zu sichern. Die Nichteinleitung von grundlegenden Veränderungen auf dem Xl. Parteitag der SED und auf den nachfolgenden Plenartagungen hat - trotz der richtigen Grundorientierung auf schnelle Entwicklung und breite Einführung der Schlüsseltechnologien und ihre soziale Gestaltung - dazu geführt, dass die Chance zu einer offensiven Einleitung eines von der Bevölkerung als solchen anerkannten Wandlungsprozesses verschenkt wurde. Jede jetzige Einleitung eines neuen Kurses ist deshalb damit konfrontiert, dass die eingeleiteten Maßnahmen als defensive Anpassung gewertet und politisch wie moralisch entwertet werden. Dieser Zustand muss schnell überwunden werden. Dazu ist eine strategische Radikalität notwendig, die sowohl von einem neuen Verständnis politischer Stabilität ausgeht, als auch eruptive Gefährdungen politischer, ökonomischer und sozialer Stabilität nicht zulässt. Politische Stabilität muss abnehmend auf administrativer Unterordnung und zunehmend auf einem demokratisch gewonnenen Konsens gegründet sein, wie er nur aus der öffentlichen Diskussion widerstreitender Interessen und Ansichten hervorgehen kann. Die Wiedergewinnung einer offensiven und strategisch orientierten Führung des Erneuerungsprozesses durch unsere Partei ist unter den gegenwärtigen Bedingungen sehr kompliziert und langwierig.
10. These:
Es ist zu prüfen, wie oppositionellen Kräften in der Öffentlichkeit ein begrenzter Iegaler Raum eingeräumt wird, da ihre repressive Unterdrückung unmöglich ist und außerdem den Veränderungsprozess grundlegend diskreditieren könnte. Dabei ist die Sicherung dieser Begrenzung mit größter Verantwortung zu gewährleisten, damit der Inhalt von Opposition auf die Entscheidung für unterschiedliche Varianten des Sozialismus reduziert wird. Opposition gegen den Sozialismus ist nicht zuzulassen. Hier bedarf es verfassungsgemäßer Verfahren, die der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen.
11. These:
Ausgehend von den obigen Thesen ist es u. E. unbedingtes und dringendes Erfordernis, möglichst unverzüglich politische Zeichen zu setzen, dass eine konsequente Erneuerung und Weiterentwicklung des Sozialismus auf deutschem Boden unter Führung der SED in Angriff genommen wird. Dies ist die entscheidende Bedingung, um den fortschreitenden Vertrauensverlust zur Politik unserer Partei zu stoppen und umzukehren sowie politische und moralische Bewertungen zu treffen, die im Handeln der Massen durchgesetzt werden können. Nur so kann verhindert werden, dass Reformen sich durchsetzen können, die im Interesse des Imperialismus der BRD liegen. Es bedarf in der DDR einer beispielhaften Erneuerung des sozialistischen Entwicklungsweges.
1. Strategisch verlangt dies eine radikale Neuorientierung, die auf der Grundlage individueller Freiheit eine dem Westen (der BRD) gegenüber überlegene Demokratie, Solidarität, Ökologie verwirklicht.
2. Taktisch verlangt dies eine vorsichtige aber entschieden strategisch ausgerichtete Einleitung eines Umstellungs- und Lernprozesses, der Herausbildung eines neuen Konsens mit breitesten Schichten der Bevölkerung. Dabei ist zu vermeiden, Illusionen über die schnelle Lösung der Probleme zu verbreiten. Es sind die realen Probleme, Gefahren und auch möglichen Verluste aufzuzeigen, die in dieser Entwicklung auftreten werden. Die Hauptprobleme dabei sind die Gewinnung einer entsprechenden Legitimität der SED für die Führung in diesem Prozess. Die Sicherung einer notwendigen Stabilität der tief greifenden Umstrukturierung und des Umbruchs, der Ausschluss einer Vereinnehmung durch die BRD. Ausgangspunkt einer einzuleitenden Veränderung muss die öffentliche, realistische und selbstkritische Bestandsaufnahme des Erreichten, die nüchterne Kalkulation der bestehenden Gefahren und die öffentliche Diskussion möglicher und notwendiger Entwicklungsalternativen sein - bei Sicherung der sozialistischen Machtverhältnisse durch die Mobilisierung allen konzeptionellen Vorlaufs innerhalb der Partei selbst und entschlossener Führung der notwendigen Umbauprozesse durch sie. Nur wenn sich die widersprüchlichen Interessen und Sichtweisen öffentlich in der SED und auch darüber hinaus artikulieren können, differierende Bewertung deutlich werden und Alternativen argumentativ aufeinander treffen, können Entwicklungswege gefunden, der dafür notwendige Konsens gebildet und die Änderungen durchgesetzt werden, ohne dass eine offene politische Krise erfolgt. Dazu sollten die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen genutzt bzw. vorsichtig erweitert werden.
(...)
III. Einige kurz- und mittelfristige Maßnahmen
Es bedarf in Kürze eines deutlichen Zeichens für die Veränderung der Parteipolitik, die zugleich der einzige Weg der Fortführung und Bewahrung historischer Errungenschaften ist. Unaufschiebbar ist
1. Einstieg in eine öffentliche Diskussion mit dem Ziel einer konsequenten, offenen und zugleich bedachtsamen, abgewogenen und ruhigen Neubestimmung der Gesellschaftsstrategie bei Berücksichtigung und Bewahrung der Errungenschaften.
2. eine Reihe von Sofortmaßnahmen, die signalisieren, dass bestimmte Nöte sehr ernst genommen und Perspektiven ihrer Lösung gesucht werden. In der Folge ist ein umfassendes komplexes sozialistisches Reformprogramm für alle gesellschaftlichen Bereiche in ihrem Zusammenhang zu erarbeiten und demokratisch zu legitimieren (vgl. dazu unter anderem auch für die Diskussion vorliegende Ergebnisse des Forschungsprojektes "Philosophische Grundfragen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus"). Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Erneuerung des Sozialismus ist eine funktionsfähige Partei. Von besonderer Bedeutung ist die Herstellung lernfähiger demokratischer Formen der Auseinandersetzung und Strategiebildung. Die Eigenständigkeit der demokratisch zu wählenden Organe der Partei gegenüber dem Parteiapparat ist wesentlich zu erhöhen. Es ist zu sichern, dass die gewählten Organe die Grundauffassungen der Parteibasis widerspiegeln und feste Garantien dafür geschaffen werden, dass Alternativpositionen erst im Resultat parteiumfassender und öffentlicher Diskussionen als praktisch durchzusetzende politische Linie ausgeschlossen werden. Aber auch die einmal legitimierte politische Linie, auf deren Realisierung die Kräfte zu konzentrieren sind, muss der Kritik weiter zugänglich sein. Es bedarf neuer Mechanismen der Erarbeitung und des Durchsetzens politischer Strategien.
Zu 1. Öffentliche Diskussion - ein gesellschaftlicher Lernprozess - von größter Bedeutung ist die Einleitung einer "Großen Aussprache" zu den brennendsten Fragen, die sich in den letzten Jahren aufgestaut haben. Dabei sollte einer vehementen Kritik der Vergangenheit durch eine nüchterne Einschätzung des Möglichen und Unmöglichen und vor allem durch eine klare Konzentration auf Zukunftsfragen gewahrt werden.
- Hauptziel einer solchen Aussprache muss die Bildung eines neuen Konsenses, die Gewinnung von politischer Legitimation, die Herausbildung einer neuen "DDR-Identität" und die Ausbildung der Fähigkeit zum Eingehen von gesellschaftlichen Kompromissen, der Führung des Dialogs durch die politische Führung, den Apparat und die Massen sein.
- Die Arbeit der Massenmedien muss nach den Prinzipien der Öffentlichkeit grundsätzlich umgestellt, die Stellung von Wissenschaft und Kunst in diesem Prozess neu bestimmt, die Funktion von Interessenverbänden und Diskussionsgruppen in und außerhalb der Partei verändert werden.
- Hohe Integrationsinteressiertheit und -fähigkeit einerseits und die Nutzung verschiedener Formen der Artikulation von mannigfaltigen Auffassungen zu Grundfragen der Politik sind zu verbinden.
- Ein Integrationsfeld, an dem der Zusammenhang von Ökonomie, Ökologie, Sozialpolitik, Machtausübung, Öffentlichkeit und internationalen Beziehungen durch die Politiker, den Apparat und die Massen gelernt werden kann, ist vor allem die Ökologie. Sie erlaubt mehr als andere eine sozialistische Führung dieser Lernprozesse. Bedeutungsvoll könnten auch die Fragen zur Situation der Frauen, das Versorgungsproblem und andere sein.
- Die geltenden rechtlichen Regelungen für einen beherrschbaren Öffnungsprozess sollten auf der Grundlage der Erfahrungen anderer sozialistischer Staaten schnell überarbeitet werden. Dabei ist der Schaffung von rechtlich durchsetzbaren Garantien für die Verwirklichung wesentlicher Verfassungsgrundsätze besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
- Es sind Formen umfassender Demokratisierung, der staatlichen Entscheidungsprozesse zu finden (öffentliche Diskussion von grundlegenden Gesetzen, Öffentlichkeit des parlamentarischen Lebens, Öffentlichkeit wissenschaftlicher Expertisen, Volksabstimmungen und anderes).
- Von zentraler Bedeutung ist die Entwicklung der Rechtssubjektivität der Bürger gegenüber dem Staat und die Einklagbarkeit von Verletzungen der Verfassungsgrundsätze in untergeordneter Rechtssetzung.
zu 2. kurzfristige Maßnahmen
Sie könnten unter anderem bestehen in:
- einem klaren Bekenntnis zu einer Erneuerung des Sozialismus als Fortsetzung des sozialistischen deutschen Weges an der Seite der UdSSR.
- einer veränderten Medienpolitik, die ein realistisches Bild der Wirklichkeit gibt und die Diskussion von Fragen unter dem Gesichtspunkt von Alternativen ermöglicht.
- einem ersten Verändern des Wahlsystem (mehrere Kandidaten auf der Basis von öffentlichen Diskussionen zu Grundfragen) bei Beibehaltung des Systems der Nationalen Front.
- öffentliche Bestrebungen des konsequenten Kampfes um die Beseitigung von Defiziten.
- deutliches Zeichen dafür, dass die führenden Staats- und Parteifunktionäre auf der Basis von offen gelegten Gehältern keine Privilegien (Sonderversorgung mit Waren, Dienstleistungen, Erholungsmöglichkeiten und anderes) besitzen.
- einer allgemeinen rechtlichen Regelung der Reisen in den Westen unabhängig von den Verwandtschaftsbeziehungen sowie die rechtliche Regelung einer Rückkehr in die DDR nach ständiger Ausreise.
- einer Neuregelung des Zugangs zu Valutamitteln insbesondere für Auslandsreisen.
- die Einführung einer Ökosteuer und die öffentliche Verwaltung des damit zu bildenden Investitionsfonds.
- der Einstieg in eine Neuregelung der Subventionen (zum Beispiel Kosten für Wasser und anderes), die sowohl veränderte Konsuminteressen und -gewohnheiten als auch veränderte ökologische Bedingungen berücksichtigt.
Von den Thesen wurden Ormig-Abzüge hergestellt und verteilt. Rainer Land z. B. gab sie Markus Wolf. Auch dem MfS wurden Exemplare übergeben. Die Hoffnung, ZK-Mitglieder würden sich positiv zu dem Papier äußern, erfüllte sich nicht.